In seinem neuen phantastischen Roman schildert Walter Moers die wahnwitzige wilde Reise des zwölfjährigen Gustave Dore durch die Nacht. Gustave begegnet dem Sensenmann, einem rätselhaften Riesen, einem sprechenden Pferd, einer Traumprinzessin, blutrünstigen Drachen, menschenfressenden Dämonen, dem schrecklichsten aller Ungeheuer und schließlich sich selbst. Seine Reise führt ihn durch Raum und Zeit, einmal quer durch das ganze Universum und zurück, von einem haarsträubenden Abenteuer zum nächsten...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.2001Ein schlichtes Herz
Walter Moers reist mit Gustave Doré · Von Patrick Bahners
Wenn man Gustave Doré nach dem Geheimnis seiner Produktivität fragte, dann pflegte er zu antworten: "Je me souviens." - "Ich erinnere mich." Van Gogh hat Dorés Losung zitiert, wodurch sie in den Kanon der Selbstbeschreibungen der Moderne gelangt ist, das Axiom einer Kunst, die keine Axiome mehr kennt, keine ersten Sätze, nur noch zweite Impressionen, Abdrücke von Eindrücken, schattenhafte Wiederaufführungen von Urszenen einer Innenwelt, die unendlich erscheint und in der das Bewußtsein doch bloß ewig seine Runden dreht wie Sträflinge auf dem Gefängnishof.
Walter Moers hat Doré beim Wort genommen. Was wäre, wenn Doré alle seine Geschöpfe aus dem Brunnen der Erinnerung geschöpft hätte? Dann wäre verständlich, daß er die Einladung der Kaiserin Eugenie ausschlug, zur Eröffnung des Suez-Kanals nach Ägypten zu reisen. Zehntausende von Blättern konnte er drucken lassen, weil er jedes einzelne fertig in einer Schublade seines Gedächtnisses vorfand. Unermüdlich sprang er in der Werkstatt zwischen den Holzstöcken hin und her, setzte hier ein Licht auf und malte dort einen Schatten aus - einem unschlagbaren Schachweltmeister gleich, der alle denkbaren Partien im Kopf schon gespielt hat. Man könnte die großen Illustrationszyklen, die nach Dorés Plan eine bebilderte Bibliothek der kompletten Weltliteratur ergeben sollten, in doppeltem Sinne Kulturindustriekathedralen nennen: als weitläufige Andachtsräume zur Erbauung des Bürgertums und als Monumente einer bis in den letzten Winkel ausgeklügelten Herstellungs- und Verkaufstechnik. Doré kooperierte nicht nur mit verschiedenen Stechern, sondern unterwarf, wenn er gleichzeitig zahlreiche Blätter unter den Augen hatte, auch sein ureigenes Schaffen der Logik der Arbeitsteilung.
Der Widerspruch zwischen der Innerlichkeit einer Seelenbilder vervielfältigenden Kunst und der Äußerlichkeit einer den Publikumsgeschmack reproduzierenden Technik kann im Wortsinn produktiv heißen. Denn wenn Doré sich wirklich nur erinnern mußte, wenn er kein Bedürfnis verspürte, seine inneren Bilder an der äußeren Realität zu überprüfen, dann konnte seine Phantasie tatsächlich so reibungslos arbeiten wie eine Maschine. Der marxistische Kunstschriftsteller Konrad Farner hat Doré in diesem Sinne den "industriellen Romantiker" getauft. Farners brillante Monographie von 1963 fügt sich in ihrer eigenen Form dem von ihr aufgewiesenen Druck des Materials: In immer neuen Variationen rekapituliert Farner die These vom Gebrauchskünstler, den romantischer Eskapismus und industrielle Disziplin gleichermaßen in den Zirkel einer Selbstwiederholung treiben, die das Surrogat der Selbsterkenntnis unter den Bedingungen der Entfremdung ist. Am Ende der Biographie schließt sich der Kreis, wenn Farner Doré das Lebensziel abspricht: "Dauernd befand er sich zwischen Heimweh und Fernweh, und ewig war er der Wanderer zu etwas hin, aber noch mehr von etwas fort. Viele Ziele waren ihm gewiß, und ebenso ungewiß war ihm das Reiseziel."
Wie eine Paraphrase dieses Schlußgedankens Farners lesen sich die ersten Sätze der "Wilden Reise durch die Nacht", des Doré-Romans von Walter Moers: "Als es dunkel wurde, stach Gustave in See. Er zog es vor, während der Nacht zu reisen - da er sowieso nicht wußte, wohin die Fahrt gehen sollte, schienen die Sichtverhältnisse nebensächlich zu sein." Der Held, der auserkoren ist, ein großer Zeichner zu werden, interessiert sich bei Reiseantritt nicht einmal dafür, ob er überhaupt etwas zu sehen bekommen kann - das ist eigentlich urkomisch. Die Ironie zeigt gleich zu Anfang, daß diese Künstlergeschichte ein romantisches Kunstmärchen ist. Gustave weiß nicht, wohin er unterwegs ist, wir aber sehen, wo er sich bewegt - in einer Doré-Zeichnung: "Der Himmel war von tintigen Wolken überzogen, nur ab und zu lugte ein Stern oder das kraternarbige Gesicht des Mondes dazwischen hervor", das kraternarbige Gesicht, in das der Leser mit eigenen Augen blicken wird, wenn Moers die Illustration der Mondfahrt des Herzogs aus dem "Rasenden Roland" einrückt.
Denn die Reise, auf die Moers den zwölfjährigen Gustave schickt, führt vorbei an einundzwanzig Tafeln aus dem Werk Dorés: In einer Nacht der märchenhaften Prüfungen sieht Gustave alles, was er sein Leben lang zeichnen wird. Nach den "13 1/2 Leben des Käpt'n Blaubär" und "Ensel und Krete" legt Moers seinen dritten Roman vor, den ersten ohne eine einzige Moers-Zeichnung. Gleichwohl handelt es sich um das kühnste Experiment jenes bebilderten Erzählens, das den Comiczeichner zum geachteten Schriftsteller gemacht hat. Nur im Blick auf das Mengenverhältnis von Text und Bild läßt sich der Roman noch als bebilderte Erzählung bezeichnen. Eigentlich handelt es sich umgekehrt um eine betextete Bildfolge. Die Idee ist bezwingend einfach. Jules Barbey d'Aurevilly hat sie bei Betrachtung der "Tolldreisten Geschichten" formuliert: "Balzac ist der Illustrator, Doré der Illustrierte."
Moers sieht ab von dem, was die einundzwanzig Blätter ursprünglich illustrieren sollten. So können die Rittergestalten aus dem "Don Quichotte" und dem "Rasenden Roland" beide den Romanhelden Gustave vertreten. Diese Identifikation von Figuren mag sogar die Erforschung von Dorés Archetypenhaushalt stimulieren, wenn Moers die Nachtmahrfigur aus Coleridges "Fluch des Albatros" und die Erscheinung der Geliebten in Poes "Rabe" zur Verkörperung des Wahnsinns, der Schwester des Todes, verschmilzt. Aber nicht was hinter den Bildern stecken mag, beschäftigt den Leser; ihn fesselt, was auf ihnen sichtbar wird. Enthüllung des Offenkundigen ist die Absicht, die Moers verfolgt. Das Meisterstück dieser Augenlenkung gelingt ihm vor der Poe-Illustration mit der Schattenfrau im Türspalt. Der Leser wird hinterher wohl selbst nicht mehr wissen, ob er erst bei Moers gelesen oder vorher schon bei Doré gesehen hat, daß hinter dem Frauenkopf ein Totenschädel auftaucht. Den entscheidenden Wink gibt der Autor im Moment des Umblätterns.
Die wohlfeilen Prachtausgaben von Dorés zerstreuten Werken durften früher in keinem gebildeten Haus fehlen. Wie noch Farner in seinem Vorwort bezeugt, verloren sich Bürgerkinder schon in Dorés Bilderwelten, bevor sie lesen konnten. Wenn auf der ersten Seite eines Romans ein zwölfjähriger Kapitän eingeführt wird, dessen Schiff Aventure heißt, dann kann der Leser sich zwar auf eine Abenteuergeschichte freuen, aber er weiß zugleich, daß er sie nicht naiv rezipieren darf. Er ahnt nicht, daß die Bilder der Abenteuer ihn in den Wald einer zweiten Unschuld locken werden, einer kindlichen Augenlust, die aus dem Staunen nicht herauskommen will. Seiner Sprache hat Moers auf den ersten Blick kein anderes Ziel gesetzt als die so einfache wie genaue Beschreibung von allem, was auf den Tafeln zu sehen ist. Die meisten hat er Dorés Ariost entnommen, dem Spätwerk, das die Ritterromantik in manieristischen Wimmelbildern auf die Lanzenspitze treibt. Doch selbst die drolligen Monsterlein, die sich in so großer Zahl dem Ritter in den Weg stellen, daß er in ihnen eigentlich die Ausgeburten seiner Träume erkennen müßte, gewinnen Würde, wenn sie nicht als Phantasieprodukte beschrieben werden, sondern als Wesen eigener Art, der häßliche Zwerg, der auf einem noch häßlicheren Schwein reitet, und der Gnom mit dem Kindergesicht. Der Künstler, der seinen Augen traut und die Erscheinung nicht als Schein entlarven will, erweist sich als Wiedergänger des Don Quichotte, weshalb Moers Gustave einen Gefährten namens Pancho Sansa beigesellt und Dorés berühmtestes Blatt, den von den Figuren seiner Romanlektüre umgebenen Ritter, als prophetisches Selbstporträt interpretiert.
Farner hat bedauert, daß Doré nicht die "Verlorenen Illusionen" illustriert hat; Moers hat einen Roman vom Künstlerglück geschrieben, der "Gewonnene Illusionen" heißen könnte. Es könnte verwundern, daß Moers, dessen neben Käpt'n Blaubär berühmtestes Geschöpf seinen Namen vom Darmausgang nahm, keine einzige Rabelais-Illustration verwendet hat. Gustave, dessen Gesicht unter dem Ritterhelm unsichtbar bleibt, der in die Landschaft hineinwachsen will, ist der Gegenentwurf zu Moers' anderem kindlichen Helden, der alles anstellt, um aus dem Rahmen des Comicbilds zu fallen. Die pantagruelischen Seiten von Dorés Werk treten in der von Moers getroffenen Auswahl zurück: das Groteske weitgehend, das Sozialkritische vollständig.
Der Stilbruch und die Geschichte sind ausgewandert in den Text: Es entsteht ein amüsanter Kontrast zwischen Bild und Text, der die Verdrängungsarbeit der industriellen Romantik sowohl aufdeckt als auch wiederholt. Die Märchenfiguren befleißigen sich einer lakonischen Redeweise und schrecken auch vor Kalauern nicht zurück, wenn etwa der von Edmond de Goncourt beschriebene Effekt, daß Dorés Burgen sich bisweilen als Wälder entpuppen, als Fata Burgiana bezeichnet wird. Als Gustave erfährt, daß die Jungfrauen auf der Insel der gepeinigten Jungfrauen gar nicht von den Drachen gepeinigt werden, sondern ihrerseits die Drachen peinigen und schließlich in einer Fabrik zu Drachensaft verarbeiten, da wird er neugierig, weil ihn "industrielle Fertigungsweisen schon immer fasziniert" haben. Wie der Kapitalismus die Phantasie formt, bringt eine sogenannte Traumprinzessin ans Licht, eine häßliche Alte, die für Gustaves Träume zuständig zu sein behauptet und ihre Arbeitsweise durch einen Vergleich mit einer Kaufhausangestellten erläutert, in dem der Stuhlgang die Schlüsselfunktion hat. Es war kein Kompliment, als Cézanne über Doré bemerkte, wenn man die Felsen Gesichter schneiden lasse, sei das noch Literatur. Aber es ist ein großes Lob, wenn man Walter Moers bescheinigt, daß sein Roman, indem er über Gustave Doré, den Meister des Überbordenden, eine schlichte Geschichte erzählt, noch Comic ist.
Walter Moers: "Wilde Reise durch die Nacht". Roman. Mit Illustrationen von Gustave Doré. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2001. 208 S., geb., 39,80 DM.
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Walter Moers reist mit Gustave Doré · Von Patrick Bahners
Wenn man Gustave Doré nach dem Geheimnis seiner Produktivität fragte, dann pflegte er zu antworten: "Je me souviens." - "Ich erinnere mich." Van Gogh hat Dorés Losung zitiert, wodurch sie in den Kanon der Selbstbeschreibungen der Moderne gelangt ist, das Axiom einer Kunst, die keine Axiome mehr kennt, keine ersten Sätze, nur noch zweite Impressionen, Abdrücke von Eindrücken, schattenhafte Wiederaufführungen von Urszenen einer Innenwelt, die unendlich erscheint und in der das Bewußtsein doch bloß ewig seine Runden dreht wie Sträflinge auf dem Gefängnishof.
Walter Moers hat Doré beim Wort genommen. Was wäre, wenn Doré alle seine Geschöpfe aus dem Brunnen der Erinnerung geschöpft hätte? Dann wäre verständlich, daß er die Einladung der Kaiserin Eugenie ausschlug, zur Eröffnung des Suez-Kanals nach Ägypten zu reisen. Zehntausende von Blättern konnte er drucken lassen, weil er jedes einzelne fertig in einer Schublade seines Gedächtnisses vorfand. Unermüdlich sprang er in der Werkstatt zwischen den Holzstöcken hin und her, setzte hier ein Licht auf und malte dort einen Schatten aus - einem unschlagbaren Schachweltmeister gleich, der alle denkbaren Partien im Kopf schon gespielt hat. Man könnte die großen Illustrationszyklen, die nach Dorés Plan eine bebilderte Bibliothek der kompletten Weltliteratur ergeben sollten, in doppeltem Sinne Kulturindustriekathedralen nennen: als weitläufige Andachtsräume zur Erbauung des Bürgertums und als Monumente einer bis in den letzten Winkel ausgeklügelten Herstellungs- und Verkaufstechnik. Doré kooperierte nicht nur mit verschiedenen Stechern, sondern unterwarf, wenn er gleichzeitig zahlreiche Blätter unter den Augen hatte, auch sein ureigenes Schaffen der Logik der Arbeitsteilung.
Der Widerspruch zwischen der Innerlichkeit einer Seelenbilder vervielfältigenden Kunst und der Äußerlichkeit einer den Publikumsgeschmack reproduzierenden Technik kann im Wortsinn produktiv heißen. Denn wenn Doré sich wirklich nur erinnern mußte, wenn er kein Bedürfnis verspürte, seine inneren Bilder an der äußeren Realität zu überprüfen, dann konnte seine Phantasie tatsächlich so reibungslos arbeiten wie eine Maschine. Der marxistische Kunstschriftsteller Konrad Farner hat Doré in diesem Sinne den "industriellen Romantiker" getauft. Farners brillante Monographie von 1963 fügt sich in ihrer eigenen Form dem von ihr aufgewiesenen Druck des Materials: In immer neuen Variationen rekapituliert Farner die These vom Gebrauchskünstler, den romantischer Eskapismus und industrielle Disziplin gleichermaßen in den Zirkel einer Selbstwiederholung treiben, die das Surrogat der Selbsterkenntnis unter den Bedingungen der Entfremdung ist. Am Ende der Biographie schließt sich der Kreis, wenn Farner Doré das Lebensziel abspricht: "Dauernd befand er sich zwischen Heimweh und Fernweh, und ewig war er der Wanderer zu etwas hin, aber noch mehr von etwas fort. Viele Ziele waren ihm gewiß, und ebenso ungewiß war ihm das Reiseziel."
Wie eine Paraphrase dieses Schlußgedankens Farners lesen sich die ersten Sätze der "Wilden Reise durch die Nacht", des Doré-Romans von Walter Moers: "Als es dunkel wurde, stach Gustave in See. Er zog es vor, während der Nacht zu reisen - da er sowieso nicht wußte, wohin die Fahrt gehen sollte, schienen die Sichtverhältnisse nebensächlich zu sein." Der Held, der auserkoren ist, ein großer Zeichner zu werden, interessiert sich bei Reiseantritt nicht einmal dafür, ob er überhaupt etwas zu sehen bekommen kann - das ist eigentlich urkomisch. Die Ironie zeigt gleich zu Anfang, daß diese Künstlergeschichte ein romantisches Kunstmärchen ist. Gustave weiß nicht, wohin er unterwegs ist, wir aber sehen, wo er sich bewegt - in einer Doré-Zeichnung: "Der Himmel war von tintigen Wolken überzogen, nur ab und zu lugte ein Stern oder das kraternarbige Gesicht des Mondes dazwischen hervor", das kraternarbige Gesicht, in das der Leser mit eigenen Augen blicken wird, wenn Moers die Illustration der Mondfahrt des Herzogs aus dem "Rasenden Roland" einrückt.
Denn die Reise, auf die Moers den zwölfjährigen Gustave schickt, führt vorbei an einundzwanzig Tafeln aus dem Werk Dorés: In einer Nacht der märchenhaften Prüfungen sieht Gustave alles, was er sein Leben lang zeichnen wird. Nach den "13 1/2 Leben des Käpt'n Blaubär" und "Ensel und Krete" legt Moers seinen dritten Roman vor, den ersten ohne eine einzige Moers-Zeichnung. Gleichwohl handelt es sich um das kühnste Experiment jenes bebilderten Erzählens, das den Comiczeichner zum geachteten Schriftsteller gemacht hat. Nur im Blick auf das Mengenverhältnis von Text und Bild läßt sich der Roman noch als bebilderte Erzählung bezeichnen. Eigentlich handelt es sich umgekehrt um eine betextete Bildfolge. Die Idee ist bezwingend einfach. Jules Barbey d'Aurevilly hat sie bei Betrachtung der "Tolldreisten Geschichten" formuliert: "Balzac ist der Illustrator, Doré der Illustrierte."
Moers sieht ab von dem, was die einundzwanzig Blätter ursprünglich illustrieren sollten. So können die Rittergestalten aus dem "Don Quichotte" und dem "Rasenden Roland" beide den Romanhelden Gustave vertreten. Diese Identifikation von Figuren mag sogar die Erforschung von Dorés Archetypenhaushalt stimulieren, wenn Moers die Nachtmahrfigur aus Coleridges "Fluch des Albatros" und die Erscheinung der Geliebten in Poes "Rabe" zur Verkörperung des Wahnsinns, der Schwester des Todes, verschmilzt. Aber nicht was hinter den Bildern stecken mag, beschäftigt den Leser; ihn fesselt, was auf ihnen sichtbar wird. Enthüllung des Offenkundigen ist die Absicht, die Moers verfolgt. Das Meisterstück dieser Augenlenkung gelingt ihm vor der Poe-Illustration mit der Schattenfrau im Türspalt. Der Leser wird hinterher wohl selbst nicht mehr wissen, ob er erst bei Moers gelesen oder vorher schon bei Doré gesehen hat, daß hinter dem Frauenkopf ein Totenschädel auftaucht. Den entscheidenden Wink gibt der Autor im Moment des Umblätterns.
Die wohlfeilen Prachtausgaben von Dorés zerstreuten Werken durften früher in keinem gebildeten Haus fehlen. Wie noch Farner in seinem Vorwort bezeugt, verloren sich Bürgerkinder schon in Dorés Bilderwelten, bevor sie lesen konnten. Wenn auf der ersten Seite eines Romans ein zwölfjähriger Kapitän eingeführt wird, dessen Schiff Aventure heißt, dann kann der Leser sich zwar auf eine Abenteuergeschichte freuen, aber er weiß zugleich, daß er sie nicht naiv rezipieren darf. Er ahnt nicht, daß die Bilder der Abenteuer ihn in den Wald einer zweiten Unschuld locken werden, einer kindlichen Augenlust, die aus dem Staunen nicht herauskommen will. Seiner Sprache hat Moers auf den ersten Blick kein anderes Ziel gesetzt als die so einfache wie genaue Beschreibung von allem, was auf den Tafeln zu sehen ist. Die meisten hat er Dorés Ariost entnommen, dem Spätwerk, das die Ritterromantik in manieristischen Wimmelbildern auf die Lanzenspitze treibt. Doch selbst die drolligen Monsterlein, die sich in so großer Zahl dem Ritter in den Weg stellen, daß er in ihnen eigentlich die Ausgeburten seiner Träume erkennen müßte, gewinnen Würde, wenn sie nicht als Phantasieprodukte beschrieben werden, sondern als Wesen eigener Art, der häßliche Zwerg, der auf einem noch häßlicheren Schwein reitet, und der Gnom mit dem Kindergesicht. Der Künstler, der seinen Augen traut und die Erscheinung nicht als Schein entlarven will, erweist sich als Wiedergänger des Don Quichotte, weshalb Moers Gustave einen Gefährten namens Pancho Sansa beigesellt und Dorés berühmtestes Blatt, den von den Figuren seiner Romanlektüre umgebenen Ritter, als prophetisches Selbstporträt interpretiert.
Farner hat bedauert, daß Doré nicht die "Verlorenen Illusionen" illustriert hat; Moers hat einen Roman vom Künstlerglück geschrieben, der "Gewonnene Illusionen" heißen könnte. Es könnte verwundern, daß Moers, dessen neben Käpt'n Blaubär berühmtestes Geschöpf seinen Namen vom Darmausgang nahm, keine einzige Rabelais-Illustration verwendet hat. Gustave, dessen Gesicht unter dem Ritterhelm unsichtbar bleibt, der in die Landschaft hineinwachsen will, ist der Gegenentwurf zu Moers' anderem kindlichen Helden, der alles anstellt, um aus dem Rahmen des Comicbilds zu fallen. Die pantagruelischen Seiten von Dorés Werk treten in der von Moers getroffenen Auswahl zurück: das Groteske weitgehend, das Sozialkritische vollständig.
Der Stilbruch und die Geschichte sind ausgewandert in den Text: Es entsteht ein amüsanter Kontrast zwischen Bild und Text, der die Verdrängungsarbeit der industriellen Romantik sowohl aufdeckt als auch wiederholt. Die Märchenfiguren befleißigen sich einer lakonischen Redeweise und schrecken auch vor Kalauern nicht zurück, wenn etwa der von Edmond de Goncourt beschriebene Effekt, daß Dorés Burgen sich bisweilen als Wälder entpuppen, als Fata Burgiana bezeichnet wird. Als Gustave erfährt, daß die Jungfrauen auf der Insel der gepeinigten Jungfrauen gar nicht von den Drachen gepeinigt werden, sondern ihrerseits die Drachen peinigen und schließlich in einer Fabrik zu Drachensaft verarbeiten, da wird er neugierig, weil ihn "industrielle Fertigungsweisen schon immer fasziniert" haben. Wie der Kapitalismus die Phantasie formt, bringt eine sogenannte Traumprinzessin ans Licht, eine häßliche Alte, die für Gustaves Träume zuständig zu sein behauptet und ihre Arbeitsweise durch einen Vergleich mit einer Kaufhausangestellten erläutert, in dem der Stuhlgang die Schlüsselfunktion hat. Es war kein Kompliment, als Cézanne über Doré bemerkte, wenn man die Felsen Gesichter schneiden lasse, sei das noch Literatur. Aber es ist ein großes Lob, wenn man Walter Moers bescheinigt, daß sein Roman, indem er über Gustave Doré, den Meister des Überbordenden, eine schlichte Geschichte erzählt, noch Comic ist.
Walter Moers: "Wilde Reise durch die Nacht". Roman. Mit Illustrationen von Gustave Doré. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2001. 208 S., geb., 39,80 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Eine ganze Weile lang geht es in Patrick Bahners' Rezension mehr um Gustave Dore, den Helden in Walter Moers' Roman, als um den Roman selbst. Wer jedoch vermutet, dass der dem Rezensenten dann wohl nicht gefallen haben dürfte, liegt daneben: raffiniert findet er schon den Anfang, der klar mache, dass hier die Geschichte von Dore als "romantisches Kunstmärchen" erzählt wird. Im narrativen Abschreiten der 21 Bildtafeln von Dore erweist sich dann, dass dieser neue Roman das "kühnste Experiment" des Comiczeichners darstellt. Die Absicht des Autors ist, so Bahners, die "Enthüllung des Offenkundigen" - und das gelingt nach Meinung des Rezensenten. Die Sprache, die Moers dafür wählt, erweist sich als genau das richtige Instrument für dieses Ziel, eine präzise Beschreibung der Bildtafeln. Eher erstaunlich bei der Vorgeschichte des Autors (Stichwort: "Kleines Arschloch") findet es Bahners, dass die, wie er gebildet formuliert, "pantagruelischen Seiten" Dores, vor allem eben die Rabelais-Illustrationen, ganz ausgeblendet bleiben. Dennoch: die Besprechung endet mit dem "großen Lob" des Kritikers, dass dieser Roman in seinem Bezug von Text auf Bild "noch Comic ist".
© Perlentaucher Medien GmbH
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