Was als wilde, sich überschlagende Jagd endet, beginnt ganz einfach: mit einem Brief, in dem das Foto eines Schafes steckt. Er ist adressiert an einen müden Endzwanziger, der als Mitinhaber einer Tokyoter Werbeagentur in einem Nebel aus Zigaretten und Alkohol lebt: Nur ein Abenteuer kann einen Ausweg aus seiner Langeweile bieten – die „Wilde Schafsjagd" beginnt. Haruki Murakamis meisterhafter Bestseller um ein Schaf mit übernatürlichen Kräften, ein Teilzeit-Callgirl mit den schönsten Ohren der Welt und einen Kriegsverbrecher mit Gehirntumor ist ein fantastischer Detektivroman, inspiriert von den düsteren Werken Raymond Chandlers – nur dass dieser Fall unlösbar ist. Der Geschichtenzauberer Murakami entführt in eine Welt voll bizarrer Geheimnisse, in der Realität und Fantasie zu einem virtuosen Abenteuer verschmelzen. Der 1991 im Insel Verlag erschienene Roman: Jetzt in einer Neuausgabe.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.2005Macht euch locker
Der Weg ist das Ziel: Ein Frühwerk Haruki Murakamis
Die Schlüsselstelle liegt auf der fünftletzten Seite. Wie ein Stück Zucker in einem Glas Wasser löst sich jetzt alles auf: die Suche, das Geheimnis, der dubiose Auftraggeber, das Ziel. Der Ich-Erzähler, ein erschöpfter japanischer Werbefachmann, hat das Rätsel um die Fotografie des Schafes mit dem sternförmigen Brandmal gelöst. Die Jagd ist zu Ende, das Rätsel enthüllt. Plötzlich zeigt sich, daß die abenteuerliche Expedition durch japanisches Hinterland, durch surreale Gebirgslandschaften und gähnendes Niemandsland ganz widersinnig war. Denn das Ziel lag nicht im Aufschlüsseln des Geheimnisses, sondern im schlagartigen Aufdecken der existentiellen Sinnlosigkeit. Die mühselige Reise - ein beschwerlicher Gang ins Nichts.
Haruki Murakami hat seinen Roman "Wilde Schafsjagd" schon 1982 als Dreiunddreißigjähriger geschrieben. DuMont hat jetzt den Roman neu aufgelegt, der zuerst als Insel-Buch, dann auch als Suhrkamp Taschenbuch erschienen ist. Es gehört nicht zu den brillantesten Büchern dieses japanischen Jongleurs mit der Kunst der Vergeblichkeit. Dazu ist der Roman zu wenig packend geschrieben und zu wenig kapriziös ausgedacht. Und doch wird der Leser mitgenommen auf eine Zickzackfahrt ins Unwirkliche, die in Wahrheit eine Variante der klassischen Reise zur Selbstfindung ist.
Der Held und Ich-Erzähler, dem wir begegnen, ist zwar noch jung, aber bereits ausgebrannt. Sein Leben verdämmert in Alkohol- und Tabakschwaden. Seine Frau hat sich verabschiedet. Seine Arbeit mit dem Kompagnon in der Tokioter Werbeagentur ist reizlos geworden. Einzig die junge Frau mit dem attraktiven Körper vermag ihn mit ihrer magischen Anziehungskraft noch aus der Lethargie zur reißen. Sie jobbt als Lektorin in einem Verlag, verdient Geld als Ohren-Fachmodell für Werbefotos und erleichtert sich das Leben als exklusives Callgirl in einem Privatclub. Sie verführt den apathisch Dahintreibenden mit der Vollkommenheit ihrer Ohren, die sie ihm aber erst nach langer Zeit enthüllt. Die Zäsur geschieht mit einem geheimnisvollen Besuch. Ein Mann ohne Eigenschaften, unberechenbar, kalt und zum letzten entschlossen, taucht aus dem Nichts auf. Der dubiose Typ ist Sekretär eines Kriegsverbrechers, der im Sterben liegt. Er fordert den Werber auf, sich auf die Suche zu machen nach dem Schaf mit dem Brandmal, das die Werbeagentur zufällig auf einem ihrer Bilder zeigt. Dieses Schaf sei für seinen Mandanten überlebenswichtig, er sei besessen von diesem Tier. Würde er sich diesem Auftrag entziehen, so droht er dem Verblüfften, setzte er seine Existenz aufs Spiel. Zwischen den beiden entspinnt sich ein klippenreicher Diskurs über Wahrheit, Ehrlichkeit und Gerechtigkeit. Eine leicht bizarre Atmosphäre herrscht, eine irrationale Drohung liegt in der Luft, Fantasie und Realität vermischen sich.
Haruki Murakami geht es in diesem frühen Roman nicht nur um die vordergründige Kritik an der japanischen Zivilisation, an der anonymen Warenwelt, in der sich der einzelne verliert, und auch nicht nur um die Darstellung der Orientierungslosigkeit in einer unablässig ratternden Konsum-Maschine. Viel wichtiger ist ihm das Thema der Erlösung des gefühlsamputierten, rationalen modernen Menschen aus seiner mentalen Höhle. Eine Art Gefühlsautismus beherrsche den Menschen, erklärt der Mann mit dem leeren Gesicht seinem Zögling, als dieser sein Ziel erreicht hat. Auch der Schafsmann, eine Schlüsselfigur in diesem phantastischen Spiel, sei darin gefangen gewesen. Ihn aus der Erstarrung hervorzulocken sei der verborgene Auftrag der Irrfahrt gewesen. Alles, so die Botschaft Murakamis, könne man kalkulieren, nur menschliche Gefühle nicht. "Wilde Schafsjagd" läßt also schon früh, wenn auch noch nicht so zwingend wie spätere Werke, das Thema der Leere, des Ekels und der Sinnlosigkeit anklingen, dem der japanische Schriftsteller immer wieder nachspürt.
PIA REINACHER
Haruki Murakami: "Wilde Schafsjagd". Roman. Aus dem Japanischen übersetzt. von Annelie Ortmanns. DuMont Verlag, Köln 2005. 300 S., geb., 21,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Weg ist das Ziel: Ein Frühwerk Haruki Murakamis
Die Schlüsselstelle liegt auf der fünftletzten Seite. Wie ein Stück Zucker in einem Glas Wasser löst sich jetzt alles auf: die Suche, das Geheimnis, der dubiose Auftraggeber, das Ziel. Der Ich-Erzähler, ein erschöpfter japanischer Werbefachmann, hat das Rätsel um die Fotografie des Schafes mit dem sternförmigen Brandmal gelöst. Die Jagd ist zu Ende, das Rätsel enthüllt. Plötzlich zeigt sich, daß die abenteuerliche Expedition durch japanisches Hinterland, durch surreale Gebirgslandschaften und gähnendes Niemandsland ganz widersinnig war. Denn das Ziel lag nicht im Aufschlüsseln des Geheimnisses, sondern im schlagartigen Aufdecken der existentiellen Sinnlosigkeit. Die mühselige Reise - ein beschwerlicher Gang ins Nichts.
Haruki Murakami hat seinen Roman "Wilde Schafsjagd" schon 1982 als Dreiunddreißigjähriger geschrieben. DuMont hat jetzt den Roman neu aufgelegt, der zuerst als Insel-Buch, dann auch als Suhrkamp Taschenbuch erschienen ist. Es gehört nicht zu den brillantesten Büchern dieses japanischen Jongleurs mit der Kunst der Vergeblichkeit. Dazu ist der Roman zu wenig packend geschrieben und zu wenig kapriziös ausgedacht. Und doch wird der Leser mitgenommen auf eine Zickzackfahrt ins Unwirkliche, die in Wahrheit eine Variante der klassischen Reise zur Selbstfindung ist.
Der Held und Ich-Erzähler, dem wir begegnen, ist zwar noch jung, aber bereits ausgebrannt. Sein Leben verdämmert in Alkohol- und Tabakschwaden. Seine Frau hat sich verabschiedet. Seine Arbeit mit dem Kompagnon in der Tokioter Werbeagentur ist reizlos geworden. Einzig die junge Frau mit dem attraktiven Körper vermag ihn mit ihrer magischen Anziehungskraft noch aus der Lethargie zur reißen. Sie jobbt als Lektorin in einem Verlag, verdient Geld als Ohren-Fachmodell für Werbefotos und erleichtert sich das Leben als exklusives Callgirl in einem Privatclub. Sie verführt den apathisch Dahintreibenden mit der Vollkommenheit ihrer Ohren, die sie ihm aber erst nach langer Zeit enthüllt. Die Zäsur geschieht mit einem geheimnisvollen Besuch. Ein Mann ohne Eigenschaften, unberechenbar, kalt und zum letzten entschlossen, taucht aus dem Nichts auf. Der dubiose Typ ist Sekretär eines Kriegsverbrechers, der im Sterben liegt. Er fordert den Werber auf, sich auf die Suche zu machen nach dem Schaf mit dem Brandmal, das die Werbeagentur zufällig auf einem ihrer Bilder zeigt. Dieses Schaf sei für seinen Mandanten überlebenswichtig, er sei besessen von diesem Tier. Würde er sich diesem Auftrag entziehen, so droht er dem Verblüfften, setzte er seine Existenz aufs Spiel. Zwischen den beiden entspinnt sich ein klippenreicher Diskurs über Wahrheit, Ehrlichkeit und Gerechtigkeit. Eine leicht bizarre Atmosphäre herrscht, eine irrationale Drohung liegt in der Luft, Fantasie und Realität vermischen sich.
Haruki Murakami geht es in diesem frühen Roman nicht nur um die vordergründige Kritik an der japanischen Zivilisation, an der anonymen Warenwelt, in der sich der einzelne verliert, und auch nicht nur um die Darstellung der Orientierungslosigkeit in einer unablässig ratternden Konsum-Maschine. Viel wichtiger ist ihm das Thema der Erlösung des gefühlsamputierten, rationalen modernen Menschen aus seiner mentalen Höhle. Eine Art Gefühlsautismus beherrsche den Menschen, erklärt der Mann mit dem leeren Gesicht seinem Zögling, als dieser sein Ziel erreicht hat. Auch der Schafsmann, eine Schlüsselfigur in diesem phantastischen Spiel, sei darin gefangen gewesen. Ihn aus der Erstarrung hervorzulocken sei der verborgene Auftrag der Irrfahrt gewesen. Alles, so die Botschaft Murakamis, könne man kalkulieren, nur menschliche Gefühle nicht. "Wilde Schafsjagd" läßt also schon früh, wenn auch noch nicht so zwingend wie spätere Werke, das Thema der Leere, des Ekels und der Sinnlosigkeit anklingen, dem der japanische Schriftsteller immer wieder nachspürt.
PIA REINACHER
Haruki Murakami: "Wilde Schafsjagd". Roman. Aus dem Japanischen übersetzt. von Annelie Ortmanns. DuMont Verlag, Köln 2005. 300 S., geb., 21,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Susanne Meyer würdigt den japanischen Autor Haruki Murakami in ihrer ausführlichen Besprechung des bereits vor 20 Jahren geschriebenen und nun auch auf Deutsch wieder erhältlichen Romans "Wilde Schafsjagd" als "Meister der Sinnlosigkeit". Auch in diesem Buch, in dem sich ein Werbefachmann auf die Suche nach einem mit einem Stern gebrandmarkten Schaf macht, was ihn nacheinander in die Stadt seiner Kindheit und ins Gebirge führt, wird der Leser vielmehr auf "innere Bewegung" stoßen als auf äußere Aktion, erklärt die Rezensentin. Sie warnt vor dem "Risiko des Sichverlierens", dem man sich bei der Rezeption der Irrfahrt der Hauptperson, einem namenlosen, traurigen Ich-Erzähler, aussetzt und lässt auch wissen, dass man nicht mit großen Wahrheiten und "Erkenntnissprüngen" zu rechnen habe. Die Geschehnisse, von denen Murakami erzählt, führen "nirgendwo hin" und werden in "leisem, geradezu mattem Ton" vorgetragen. Dabei wirken sie aber, wenn es etwa um den "Irrsinn des Geschäftslebens oder der Politik geht" ungeachtet des Alters des Buches erstaunlich modern, stellt die Rezensentin fest. Murakami "erzeugt geschickt" ein Gefühl der "Orientierungslosigkeit", lobt Meyer, und sie meint, dass der japanische Kult-Autor in seinen Büchern auszuloten versucht, "wie man mit dem Dasein umgeht, ohne sich zu wehren".
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Murakami zu lesen wirkt selbst tröstlich auf Leute, die noch gar nicht traurig sind, vielleicht ist das Murakamis Geheimnis." Die Zeit