Jörg Schönbohm (geb. 1937), zuletzt Innenminister des Landes Brandenburg, erinnert sich: Sein Großvater verkaufte einst das erste Bild von George Grosz. 1990 übernimmt der 'aufmüpfi ge Familienmensch' als General der Bundeswehr im Zuge der Wiedervereinigung die NVA. Er wird Staatssekretär in Bonn und Innensenator in Berlin. Mit vier Verteidigungsministern arbeitet Schönbohm eng zusammen. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Flucht kehrt er in seine Heimat Brandenburg zurück und erlebt mit Manfred Stolpe, Matthias Platzeck und Angela Merkel turbulente Jahre in der Landes- und Bundespolitik. Mit Nachrichten aus der Wirklichkeit widerspricht er den 'ewigen Linken' - Nachrüstungsgegnern, Hausbesetzern und DDR-Nostalgikern. Jörg Schönbohm, geprägt von Not und Überlebenskampf nach dem Zweiten Weltkrieg, macht Politik für die 'unpolitische' Seite des Lebens.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.12.2009Für die Versöhnung von Militär und Politik
Jörg Schönbohm, der die NVA auflöste, blickt auf eine erstaunliche Karriere zurück
Etwas verbittert zeigt sich der General - bei allem Selbstbewusstsein, das sich durch die Autobiographie zieht und das Jörg Schönbohm als "Widerspruchsgeist" herunterspielt. Das Hinterfragen von Befehlen und Strukturen sei ihm seit Eintritt in die Bundeswehr (1957) immer wieder von Vorgesetzten bescheinigt oder aber vorgehalten worden. Vielleicht erklärt gerade das seine militärische Bilderbuchkarriere, in der er oft der Jüngste in einer Verwendung oder einem Dienstgrad war. Die außergewöhnlichste Aufgabe wurde dem Artilleristen nach dem Mauerfall vor zwanzig Jahren gestellt. Der gebürtige Brandenburger (er kam 1937 in Neu Golm zur Welt) war damals Generalleutnant und Leiter des Planungsstabs unter Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg (CDU).
Schönbohm kritisiert die Vorstellungen von Außenminister Genscher (FDP) zur Frage der Sicherheit eines wiedervereinigten Deutschland scharf. Der "Genscherismus" habe 1989/90 in Washington als "Appeasement gegenüber der Sowjetunion" gegolten; demgegenüber sei Stoltenberg dafür eingetreten, das ganze Staatsgebiet der DDR im Zuge der deutschen Einheit zum Vertragsgebiet der Nato zu machen. Nach den Märzwahlen 1990 in der DDR gab es einen weiteren Disput, diesmal zwischen Stoltenberg auf Bonner, Ministerpräsident Lothar de Maizière und Rainer Eppelmann als Minister für Abrüstung und Verteidigung auf Ost-Berliner Seite. Die beiden Ost-CDU-Politiker - so Schönbohm - "folgten der sowjetischen Linie, wonach man bis in den Sommer 1990 auf der Bildung eines neutralen Deutschland bestand".
Auf einer Kommandeurstagung der NVA im Mai 1990 habe Eppelmann erklärt, es werde "auch nach der Wiedervereinigung auf dem DDR-Territorium eine zweite deutsche Armee geben, die, in kein Militärbündnis integriert, hier ihre eigene territoriale Sicherungsfunktion ausüben" werde. Bedenklich war aus Schönbohms Sicht auch, dass die Vereidigung der NVA auf den im April von der Volkskammer verabschiedeten neuen Fahneneid ausgerechnet am 20. Juli 1990 erfolgte, um die NVA "zu einer Armee des Widerstands zu stilisieren: Eppelmann dankte bei dieser Gelegenheit den Offizieren der NVA einmal mehr, dass sie 1989 ,chinesische Verhältnisse' verhindert hätten, und zog Parallelen zwischen dem 20. Juli 1944 und dem November 1989. Mir schienen diese Vergleiche vollkommen unhaltbar. Im Sommer 1990 wurde sogar noch an Entwürfen für neue NVA-Uniformen gearbeitet!"
Es kam alles anders - und Schönbohm hatte entscheidenden Anteil daran. Dabei wäre er im Herbst 1990 fast Kommandierender General des III. Korps geworden, später vielleicht - wie die Presse mutmaßte - Generalinspekteur. Stattdessen machte ihn Stoltenberg zum Befehlshaber des Bundeswehrkommandos Ost in Strausberg. Bei der Übernahme und Auflösung der NVA hatte er es "mit 103000 Mann, davon 32000 Offiziere und 20000 Unteroffizieren, zu tun" sowie "mit 2300 Kampfpanzern, 7800 Schützenpanzern, 2500 Artilleriegeschützen, 400 Kampfflugzeugen, 50 Kampfhubschraubern, 1,2 Millionen Handfeuerwaffen, 300000 Tonnen Munition". Diese Aufgabe bewältigte er glänzend, so dass er im Herbst 1991 Inspekteur des Heeres wurde - aber eben nicht Generalinspekteur; der vierte Stern blieb ihm versagt. Stattdessen berief ihn Stoltenberg Anfang 1992 zum - höher besoldeten und höhergestellten - Staatssekretär für Sicherheitspolitik.
Vom politischen Beamten war es ein kleiner Sprung zum Politiker. Schönbohm, seit 1994 Mitglied der CDU, wurde 1996 Berliner Innensenator in der großen Koalition unter dem Regierenden Bürgermeister Diepgen (CDU). Er gab dieses Amt 1998 auf, um den Landesvorsitz der CDU in Brandenburg zu übernehmen. Bei der Landtagswahl 1999 konnte sich die CDU von 18,7 auf 26,5 Prozent steigern, während die SPD die absolute Mehrheit verlor. SPD und CDU stellten gemeinsam die Landesregierung unter Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD). Schönbohm trat als Innenminister ins Landeskabinett ein und blieb dies auch unter Stolpes Nachfolger Platzeck, der sich nach der Landtagswahl 2009 für die Bildung einer rot-roten Koalition entschied. Am 6. November 2009 schied Schönbohm aus dem Amt.
Schönbohm zählt sich zu den Freunden Helmut Kohls und übt Kritik an Angela Merkel, die nach der Bundestagswahl 2002 "Positionen einnahm, die mich kaum noch an die Inhalte erinnerte, die wir kurz zuvor im Wahlkampf vertreten hatten. Mit Blick auf die Wähler der Grünen, die Merkel für wichtiger erklärte als die der SPD, wandte sie sich den Frauen und den großstädtischen Milieus zu, den Singles und den Beziehern von Sozialhilfe, Arbeitslosengeld oder Rente." Sie sei von vermuteten Erwartungen CDU-kritischer Wähler ausgegangen "und nicht von eigenen politischen Zielen". Schönbohm beanstandet: Bereits seit den achtziger Jahren diene sich die CDU dem Zeitgeist an, obwohl "nicht bewiesen" sei, dass nur die Partei Chancen habe, die dem allgemeinen Trend folge.
Dennoch wäre der ehemalige General 2005 gern in Frau Merkels großer Koalition Verteidigungsminister geworden: "Die Versöhnung von Militär und Politik am Ende meiner Laufbahn war mir aber nicht vergönnt." Hin und wieder zitiert er Ernst Jünger, dessen Werke ihm im Gymnasium nahegebracht worden waren, was auch den Titel "Wilde Schwermut" erklärt, den er für seine Erinnerungen gewählt hat - aus dem Anfang von "Auf den Marmorklippen".
RAINER BLASIUS.
Jörg Schönbohm: Wilde Schwermut. Erinnerungen eines Unpolitischen. Mit Beiträgen von Evelin Schönbohm. Landverlag, Berlin 2010. 462 S., 29,90 [Euro].
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Jörg Schönbohm, der die NVA auflöste, blickt auf eine erstaunliche Karriere zurück
Etwas verbittert zeigt sich der General - bei allem Selbstbewusstsein, das sich durch die Autobiographie zieht und das Jörg Schönbohm als "Widerspruchsgeist" herunterspielt. Das Hinterfragen von Befehlen und Strukturen sei ihm seit Eintritt in die Bundeswehr (1957) immer wieder von Vorgesetzten bescheinigt oder aber vorgehalten worden. Vielleicht erklärt gerade das seine militärische Bilderbuchkarriere, in der er oft der Jüngste in einer Verwendung oder einem Dienstgrad war. Die außergewöhnlichste Aufgabe wurde dem Artilleristen nach dem Mauerfall vor zwanzig Jahren gestellt. Der gebürtige Brandenburger (er kam 1937 in Neu Golm zur Welt) war damals Generalleutnant und Leiter des Planungsstabs unter Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg (CDU).
Schönbohm kritisiert die Vorstellungen von Außenminister Genscher (FDP) zur Frage der Sicherheit eines wiedervereinigten Deutschland scharf. Der "Genscherismus" habe 1989/90 in Washington als "Appeasement gegenüber der Sowjetunion" gegolten; demgegenüber sei Stoltenberg dafür eingetreten, das ganze Staatsgebiet der DDR im Zuge der deutschen Einheit zum Vertragsgebiet der Nato zu machen. Nach den Märzwahlen 1990 in der DDR gab es einen weiteren Disput, diesmal zwischen Stoltenberg auf Bonner, Ministerpräsident Lothar de Maizière und Rainer Eppelmann als Minister für Abrüstung und Verteidigung auf Ost-Berliner Seite. Die beiden Ost-CDU-Politiker - so Schönbohm - "folgten der sowjetischen Linie, wonach man bis in den Sommer 1990 auf der Bildung eines neutralen Deutschland bestand".
Auf einer Kommandeurstagung der NVA im Mai 1990 habe Eppelmann erklärt, es werde "auch nach der Wiedervereinigung auf dem DDR-Territorium eine zweite deutsche Armee geben, die, in kein Militärbündnis integriert, hier ihre eigene territoriale Sicherungsfunktion ausüben" werde. Bedenklich war aus Schönbohms Sicht auch, dass die Vereidigung der NVA auf den im April von der Volkskammer verabschiedeten neuen Fahneneid ausgerechnet am 20. Juli 1990 erfolgte, um die NVA "zu einer Armee des Widerstands zu stilisieren: Eppelmann dankte bei dieser Gelegenheit den Offizieren der NVA einmal mehr, dass sie 1989 ,chinesische Verhältnisse' verhindert hätten, und zog Parallelen zwischen dem 20. Juli 1944 und dem November 1989. Mir schienen diese Vergleiche vollkommen unhaltbar. Im Sommer 1990 wurde sogar noch an Entwürfen für neue NVA-Uniformen gearbeitet!"
Es kam alles anders - und Schönbohm hatte entscheidenden Anteil daran. Dabei wäre er im Herbst 1990 fast Kommandierender General des III. Korps geworden, später vielleicht - wie die Presse mutmaßte - Generalinspekteur. Stattdessen machte ihn Stoltenberg zum Befehlshaber des Bundeswehrkommandos Ost in Strausberg. Bei der Übernahme und Auflösung der NVA hatte er es "mit 103000 Mann, davon 32000 Offiziere und 20000 Unteroffizieren, zu tun" sowie "mit 2300 Kampfpanzern, 7800 Schützenpanzern, 2500 Artilleriegeschützen, 400 Kampfflugzeugen, 50 Kampfhubschraubern, 1,2 Millionen Handfeuerwaffen, 300000 Tonnen Munition". Diese Aufgabe bewältigte er glänzend, so dass er im Herbst 1991 Inspekteur des Heeres wurde - aber eben nicht Generalinspekteur; der vierte Stern blieb ihm versagt. Stattdessen berief ihn Stoltenberg Anfang 1992 zum - höher besoldeten und höhergestellten - Staatssekretär für Sicherheitspolitik.
Vom politischen Beamten war es ein kleiner Sprung zum Politiker. Schönbohm, seit 1994 Mitglied der CDU, wurde 1996 Berliner Innensenator in der großen Koalition unter dem Regierenden Bürgermeister Diepgen (CDU). Er gab dieses Amt 1998 auf, um den Landesvorsitz der CDU in Brandenburg zu übernehmen. Bei der Landtagswahl 1999 konnte sich die CDU von 18,7 auf 26,5 Prozent steigern, während die SPD die absolute Mehrheit verlor. SPD und CDU stellten gemeinsam die Landesregierung unter Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD). Schönbohm trat als Innenminister ins Landeskabinett ein und blieb dies auch unter Stolpes Nachfolger Platzeck, der sich nach der Landtagswahl 2009 für die Bildung einer rot-roten Koalition entschied. Am 6. November 2009 schied Schönbohm aus dem Amt.
Schönbohm zählt sich zu den Freunden Helmut Kohls und übt Kritik an Angela Merkel, die nach der Bundestagswahl 2002 "Positionen einnahm, die mich kaum noch an die Inhalte erinnerte, die wir kurz zuvor im Wahlkampf vertreten hatten. Mit Blick auf die Wähler der Grünen, die Merkel für wichtiger erklärte als die der SPD, wandte sie sich den Frauen und den großstädtischen Milieus zu, den Singles und den Beziehern von Sozialhilfe, Arbeitslosengeld oder Rente." Sie sei von vermuteten Erwartungen CDU-kritischer Wähler ausgegangen "und nicht von eigenen politischen Zielen". Schönbohm beanstandet: Bereits seit den achtziger Jahren diene sich die CDU dem Zeitgeist an, obwohl "nicht bewiesen" sei, dass nur die Partei Chancen habe, die dem allgemeinen Trend folge.
Dennoch wäre der ehemalige General 2005 gern in Frau Merkels großer Koalition Verteidigungsminister geworden: "Die Versöhnung von Militär und Politik am Ende meiner Laufbahn war mir aber nicht vergönnt." Hin und wieder zitiert er Ernst Jünger, dessen Werke ihm im Gymnasium nahegebracht worden waren, was auch den Titel "Wilde Schwermut" erklärt, den er für seine Erinnerungen gewählt hat - aus dem Anfang von "Auf den Marmorklippen".
RAINER BLASIUS.
Jörg Schönbohm: Wilde Schwermut. Erinnerungen eines Unpolitischen. Mit Beiträgen von Evelin Schönbohm. Landverlag, Berlin 2010. 462 S., 29,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ein bisschen "radaubrüderlich" geht es zu in Jörg Schönbohms Autobiografie, aber das stört den Rezensenten gar nicht. Für Marc Felix Serrao ist der Autor und Offizier Schönbohm ein im guten Sinne wild Gebliebener, so im Sinne von Ernst Jünger nämlich, auf den der Titel zurückgeht. Serrao freut sich über den trockenen, mit norddeutscher Heiterkeit durchsetzten und nie wehleidigen Ton, mit dem Schönbohm Kindheit, Krieg und Karriere vor dem Leser ausbreitet. Viel erfährt er über des Autors politische Prägung und dessen Talent zum Widerspruch. Dass der Band inmitten der aktuellen Diskussionen um militärische Befugnisse erscheint, die der Rezensent offenbar für überflüssig hält, weil die meisten der Diskutanten "nie eine Kaserne von innen gesehen haben", erscheint Serrao trotzdem als "hübscher Zufall".
© Perlentaucher Medien GmbH
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