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Die wilden Wiesen der Kindheit kann man nicht vergessen. Überblendet, schwarzweiß, von kuriosen Figuren belebt, erscheinen sie dem Erwachsenen bis tief in den Schlaf. Die "Autogeographie" ist ein Traumprotokoll, eine animierte Landkarte von Orten wie Einfeld, Tungendorf, Orschel-Hagen, Pillnitz, Dorstfeld. Wo? Und warum? Allerweltsorte bauen sich auf als Kulissen, als Phantasmagorie des Erzählers - im einen Moment Miniatur, im anderen Moment ein Erdrutsch. In der Idylle der Großelternstadt verbergen sich Voyeure und Exhibitionisten. Das Kind, auf dem holsteinischen Geestrücken gewiegt, erkennt…mehr

Produktbeschreibung
Die wilden Wiesen der Kindheit kann man nicht vergessen. Überblendet, schwarzweiß, von kuriosen Figuren belebt, erscheinen sie dem Erwachsenen bis tief in den Schlaf. Die "Autogeographie" ist ein Traumprotokoll, eine animierte Landkarte von Orten wie Einfeld, Tungendorf, Orschel-Hagen, Pillnitz, Dorstfeld. Wo? Und warum? Allerweltsorte bauen sich auf als Kulissen, als Phantasmagorie des Erzählers - im einen Moment Miniatur, im anderen Moment ein Erdrutsch. In der Idylle der Großelternstadt verbergen sich Voyeure und Exhibitionisten.
Das Kind, auf dem holsteinischen Geestrücken gewiegt, erkennt als Jugendlicher an einem thüringischen Küchentisch das Urbild der Heimat. Der Junge, Deutschland entkommen, entdeckt bei seinen amerikanischen Gastgebern die Fratze puritanischer Vergeblichkeit. Der junge Erwachsene begegnet geistig Behinderten und ihren zynischen Betreuern, eine Grenzerfahrung. Die Skizze der Orte, lakonisch begonnen, bringt schließlich alles zur Sprache: Furcht und Trieb, Hochmut und Schicksal, Slackertum und Bildungshunger. Dahinter zeigt sich der historische Horizont: die deutsche Teilung, das Drama der Flucht, das Auftauchen der Baader-Meinhof-Gruppe, die Ära der Jesuspeople.
Dieses Buch ist eine groteske Beichte in zehn Kapiteln, das Protokoll der Provinz als Schrittmacher der Geschichte.
Autorenporträt
Ulf Erdmann Ziegler, geboren 1959, lebt in Frankfurt am Main. Seit 1989 schreibt er Essays zu Kunst und Gestaltung. 2008 wurde Ulf Erdmann Ziegler mit dem Friedrich-Hebbel-Preis ausgezeichnet. Er lebt in Frankfurt am Main.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.01.2008

Bitte blättern Sie in meinem Leben!
Ulf Erdmann Ziegler hat eine „Autogeographie” geschrieben, die voll Andacht auf den Wegen der eigenen Biographie wandelt
Am Anfang klappt es gut. Ulf Erdmann Ziegler nimmt uns mit auf die Reise, eine Familienreise im zeittypischen Ford Taunus, vom holsteinischen Flachland nach Köln. Der Ton des Erzählers ist angenehm, man macht es sich bequem. Draußen zieht die Landschaft vorbei, im Innenraum des Fahrzeugs herrscht die Stimmung der bundesrepublikanischen sechziger Jahre, ein bisschen muffig, ein bisschen eng, aber freundlich, zivilisiert. Wer ungefähr so alt ist wie der 1959 geborene Autor, erlebt einen Flashback. Erinnerungen stellen sich ein an die Zeit der beginnenden Saturiertheit und der noch sichtbaren Spuren des Zweiten Weltkriegs.
Wie wenig Zeit zwischen Kriegsende und der eigenen Geburt vergangen war, begreift man erst heute. Älterwerden bedeutet auch, zu bemerken, dass sich die eigene Biographie mit historischen Ereignissen verzahnt. Sobald die eigene Lebenszeit so weit angewachsen ist, dass man vergleichbare Zeitspannen mit dem Bewusstsein eines Erwachsenen überblickt, stellt sich ein Gefühl für historische Dimensionen ein, das über bloßes Wissen hinausgeht. Die Wende jährt sich bald zum zwanzigsten Mal. Die alte Bundesrepublik und die DDR sind weiter weg als der Zweite Weltkrieg Ende der fünfziger Jahre. Das könnte Ulf Erdmann Ziegler auf die Idee gebracht haben, eine Autobiographie zu schreiben, die er „Wilde Wiesen” nennt, auch wenn sie nicht allzu wild ist. Und viele Wiesen kommen auch nicht vor.
Es gehört zum Genre der Autobiographie, dass das Selbst, welches sich anschickt, sein Leben zu erzählen, gewisse Bedingungen erfüllt: Es muss entweder so bedeutsam sein, dass sich andere Menschen für dieses spezielle Leben interessieren, oder es muss exemplarisch sein. Dass der erste Fall bei Ulf Erdmann Ziegler nicht gegeben ist, auch wenn er sich als Fotograf und mit seinem Debütroman „Hamburger Hochbahn” im vergangenen Jahr einen Namen gemacht hat, ist offensichtlich. Also müsste der zweite Fall zutreffen. Hält der Autor sein Leben also für exemplarisch?
Ziegler greift zu einem auf den ersten Blick betörenden Trick. Er nennt sein Erinnerungsbuch im Untertitel „Autogeographie”. Ein hübsches Wort. Und man versteht auch, was damit gemeint ist: An die Stelle der „Selberlebensbeschreibung”, wie Jean Paul das nannte, tritt die Beschreibung von Landschaften und Orten. Dahinter steht ein ganzer Theoriekomplex, von Gaston Bachelards „Poetik des Raumes” über das Konzept einer randständigen „kleinen Literatur”, wie sie Deleuze und Guattari propagierten, bis hin zum spatial turn der auf die Globalisierung reagierenden Gegenwartsphilosophie. Der Raum hat die Zeit als dominante Kategorie der Weltwahrnehmung abgelöst. Und Raum-Metaphern sprießen aus dem Boden wie Pilze. Auch das schöne Wort von der „Autogeographie” ist eine Metapher, eine gefährliche dazu. Sie verführt Ulf Erdmann Ziegler zu einer flächigen Erzählweise, die den historischen Abstand kassiert. Er macht aus seinem Leben ein „Bilderbuch”, das er mit verklärtem Blick betrachtet, fast so, als wäre er sein eigener Großvater, der gerührt im Familienalbum blättert.
Am Anfang stehen Raum und Zeit noch in einem sinnfälligen Verhältnis. Während die fünfköpfige Familie im Auto an norddeutschen Städten vorbeifährt, wird der Leser im gemütlichen Plauderton über die Familiengeschichte informiert. Die Eltern bringen die Kinder, wie jedes Jahr, zu den Großeltern nach Köln, um dann in den Süden weiterzureisen. Der kindlichen Vorfreude wegen hat der Leser zunächst überhaupt kein Problem damit, dass der Weg zu den Großeltern genauestens beschrieben wird: der Abzweig von der Autobahn, jede Kurve, jede Biegung, die Seiten- und Einbahnstraße, „die uns Kinder lehrte, den Namen Nietzsche auszusprechen”, die Vorgärten, Garagenzufahrten, der Grüngürtel, die Bahnüberführung. Auch der altertümliche Ton passt zu einem solchen Besuch. Wenn der kleine Ulf erst einmal größer wird, denkt man, wird er schon aufhören, die „Krankenwagen in ihrer ganzen Pracht” zu bewundern und vom Glück „im Sinne einer aufgeräumten Seligkeit” zu schwärmen.
Aber es geht so weiter. Das erste Kapitel erzeugt eine Aura, die im Verlauf des Buches schlicht betulich wird. Auch wenn der Autor von seiner Schulzeit erzählt, von Reisen zur Thüringer Verwandtschaft, von Partys und sexuellen Erfahrungen, von einem einjährigen Aufenthalt in Oklahoma, vom Studium in West-Berlin und der Ausbildung zum Fotografen betrachtet er sein Ego mit einer Rührseligkeit, die man sich in seinem Alter eigentlich noch nicht leisten kann. Selbst den Parkplatz eines ganz banalen Einkaufszentrums und den Weg zu einem Kaugummi-Automaten, dessen Mechanismus aufs Umständlichste erklärt wird, kann er mit einem Ernst beschreiben, als ginge es für den Leser darum, mit dem Buch in der Hand all die Wege abzuschreiten, die Ulf Erdmann Ziegler in seinem Leben schon gegangen ist. Der Untertitel erweist sich als das Gegenteil einer Anti-Pathos-Formel.
Die Entdeckung, dass sich eine West-Biographie im wiedervereinigten Deutschland durch die simple Tatsache, Verwandte in der DDR gehabt zu haben, aufwerten lässt, reicht noch nicht aus, um sich für ein Exempel zu halten. Erst im Nachdenken darüber, was das bedeutet, hätte die Sache spannend werden können. Doch Ulf Erdmann Ziegler stilisiert und verklärt. „Wilde Wiesen” ist das Gegenteil einer Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik: ein Bilderbuch, das die Zeit stillstellt.MEIKE FESSMANN
ULF ERDMANN ZIEGLER: Wilde Wiesen. Autogeographie. Wallstein Verlag, Göttingen 2007. 151 Seiten, 18 Euro.
Kleine Panne auf dem Weg in den Urlaub Foto: Gerd Pfeiffer
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.07.2008

Ich ist ein Ort
Ulf Erdmann Zieglers poetische Selbst-Erfahrung

Er fädelt sie wie Perlen hintereinander auf - die Orte seines Lebens. Den Kölner Stadtteil Lindenthal, in dem das Martinshorn der Krankenwagen vor der großelterlichen Wohnung in den kindlichen Ohren zum Sinnbild der Großstadt wird. Neumünster, wo die atemraubende Nacktheit einer Schulkameradin ihm deutlich macht, wie recht doch der Aktmaler Amedeo Modigliani damit hatte, die Augen unfertig zu lassen. Oder Dorstfeld, wo die Wohngemeinschaft der Fotografieschüler eine Melange aus Menschen ist, die erst die gemeinsame Kreativität zusammenführte. Diese und andere Stätten arrangiert Ulf Erdmann Ziegler in seiner "Autogeographie", reiht sie auf, zieht Querverbindungen und hält sie dabei doch in einzelnen Kapiteln säuberlich getrennt. Denn um seine bisherige Lebensgeschichte zu erzählen, stellt er die räumliche über die zeitliche Ordnung. Die Kindheitserlebnisse als Begleiter auf Opas Tour durch die Kneipen rückt somit eng an die eigenen homoerotischen Erfahrungen in der Kölner Szene, auch wenn dazwischen wahrscheinlich zehn Jahre liegen. Vaters Erinnerungen an die Republikflucht sind eingebettet in den ersten Besuch bei den Verwandten in der DDR, unmittelbar gefolgt von der Wende und der Beerdigung des Cousins Mischa. Die Ereignisse dazwischen haben ihren Platz an anderen Orten. Kunstvoll lässt Ziegler die auseinanderliegenden Momente ineinander fließen, so dass bereits nach wenigen Seiten das Fehlen der herkömmlichen Chronologie den Blick auf die erfrischend andersartige, topographische Ordnung frei gibt. Zeitliche Barrieren weiterhin missachtend, gießt er kindliche Wahrnehmung in die lakonisch-ironischen Ausdrucksformen eines Erwachsenen, macht den quälenden Schreibunterricht der Grundschule zur "schmerzlichen Alphabetisierung" und das Unvermögen, die ungewollte Erektion des peinlich berührten Heranwachsenden in seiner Hose zu verbergen, zum Problem der damals noch fehlenden "jugendlichen Technik, T-Shirts frei fallend zu tragen", unter denen man die Erregung hätte verstecken können.

Eindrücklich wird "Wilde Wiesen" durch die intensive Nähe zum Geschehen, die Ziegler nie aufgibt. Die kindliche Begeisterung, dem Kaugummiautomaten mehr zu entlocken, als die eigenen Groschen eigentlich zulassen würden, steigt förmlich aus der detaillierten Beschreibung des Tricks, mit dem er und Bruder Bert die simple Mechanik auszunutzen suchen, empor. Bereits in der Beschreibung des gleichgeschlechtlichen Verkehrs zwischen seinem Freund und einem älteren Mann schwingt die Abneigung mit, die ihm gegen diese Praktik innezuwohnen scheint. Und wenn er die Begebenheiten erzählt, die zur Ehe seiner Eltern führten, bietet er gleich drei Varianten an, die sich mit jeder Erzählung dem Geschehen nähern und so von einer oberflächlichen Erzählung, wie sie einer durchschnittlichen Biographie zu entnehmen sein könnte, zu einer am Unperfekten, Menschlichen orientierten wandeln, wie es für die Zieglersche Autogeographie typisch ist. Gerade im Kontrast zu den zusätzlich angebotenen Erzählmöglichkeiten entfaltet sie ihre ganze Besonderheit. All das formuliert er in einer unaufdringlich poetischen, zeitlosen Weise. Krönend kommt das unvermittelte Ende zum idealen Zeitpunkt - dann, wenn man das Leben von Ulf Erdmann Ziegler auf keinen Fall verlassen will.

THOMAS SCHOLZ.

Ulf Erdmann Ziegler: "Wilde Wiesen". Autogeographie. Wallstein Verlag, Göttingen 2007. 151 S., geb., 18,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Rezensent Jürgen Verdofsky findet große Worte für Ulf Erdmann Ziegler, den Autor dieser Autogeografie - die mit dem Genre Autobiografie wirklich nur entfernt verwandt sei, weil Orte für Menschen und ihre Geschichten stehen und "die Einblicke fragmentiert bleiben". Wir erfahren zwar einiges über den Autor, lernen ihn aber doch nicht kennen. Verdofsky nennt ihn einen "vollendeten Erzähler, der über seine Generation weit hinaus wirkt." Er gewinnt nach Meinung des Rezensenten "Autorität durch Atmosphäre und Situation, Arrangement und Verfremdung". Dabei setzt er in Verdofskys Augen die richtigen Prioritäten und vermeidet "ausufernde Schulgeschichten". Dafür werde der familiäre Hintergrund, der auch "alle deutsch-deutschen Besonderheiten" aufweist, ergründet. Dabei sei es nicht Zieglers Ansatz nicht, Verständnis zu suchen, sondern zu forschen.

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