Die wilden Wiesen der Kindheit kann man nicht vergessen. Überblendet, schwarzweiß, von kuriosen Figuren belebt, erscheinen sie dem Erwachsenen bis tief in den Schlaf. Die "Autogeographie" ist ein Traumprotokoll, eine animierte Landkarte von Orten wie Einfeld, Tungendorf, Orschel-Hagen, Pillnitz, Dorstfeld. Wo? Und warum? Allerweltsorte bauen sich auf als Kulissen, als Phantasmagorie des Erzählers - im einen Moment Miniatur, im anderen Moment ein Erdrutsch. In der Idylle der Großelternstadt verbergen sich Voyeure und Exhibitionisten.
Das Kind, auf dem holsteinischen Geestrücken gewiegt, erkennt als Jugendlicher an einem thüringischen Küchentisch das Urbild der Heimat. Der Junge, Deutschland entkommen, entdeckt bei seinen amerikanischen Gastgebern die Fratze puritanischer Vergeblichkeit. Der junge Erwachsene begegnet geistig Behinderten und ihren zynischen Betreuern, eine Grenzerfahrung. Die Skizze der Orte, lakonisch begonnen, bringt schließlich alles zur Sprache: Furcht und Trieb, Hochmut und Schicksal, Slackertum und Bildungshunger. Dahinter zeigt sich der historische Horizont: die deutsche Teilung, das Drama der Flucht, das Auftauchen der Baader-Meinhof-Gruppe, die Ära der Jesuspeople.
Dieses Buch ist eine groteske Beichte in zehn Kapiteln, das Protokoll der Provinz als Schrittmacher der Geschichte.
Das Kind, auf dem holsteinischen Geestrücken gewiegt, erkennt als Jugendlicher an einem thüringischen Küchentisch das Urbild der Heimat. Der Junge, Deutschland entkommen, entdeckt bei seinen amerikanischen Gastgebern die Fratze puritanischer Vergeblichkeit. Der junge Erwachsene begegnet geistig Behinderten und ihren zynischen Betreuern, eine Grenzerfahrung. Die Skizze der Orte, lakonisch begonnen, bringt schließlich alles zur Sprache: Furcht und Trieb, Hochmut und Schicksal, Slackertum und Bildungshunger. Dahinter zeigt sich der historische Horizont: die deutsche Teilung, das Drama der Flucht, das Auftauchen der Baader-Meinhof-Gruppe, die Ära der Jesuspeople.
Dieses Buch ist eine groteske Beichte in zehn Kapiteln, das Protokoll der Provinz als Schrittmacher der Geschichte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.07.2008Ich ist ein Ort
Ulf Erdmann Zieglers poetische Selbst-Erfahrung
Er fädelt sie wie Perlen hintereinander auf - die Orte seines Lebens. Den Kölner Stadtteil Lindenthal, in dem das Martinshorn der Krankenwagen vor der großelterlichen Wohnung in den kindlichen Ohren zum Sinnbild der Großstadt wird. Neumünster, wo die atemraubende Nacktheit einer Schulkameradin ihm deutlich macht, wie recht doch der Aktmaler Amedeo Modigliani damit hatte, die Augen unfertig zu lassen. Oder Dorstfeld, wo die Wohngemeinschaft der Fotografieschüler eine Melange aus Menschen ist, die erst die gemeinsame Kreativität zusammenführte. Diese und andere Stätten arrangiert Ulf Erdmann Ziegler in seiner "Autogeographie", reiht sie auf, zieht Querverbindungen und hält sie dabei doch in einzelnen Kapiteln säuberlich getrennt. Denn um seine bisherige Lebensgeschichte zu erzählen, stellt er die räumliche über die zeitliche Ordnung. Die Kindheitserlebnisse als Begleiter auf Opas Tour durch die Kneipen rückt somit eng an die eigenen homoerotischen Erfahrungen in der Kölner Szene, auch wenn dazwischen wahrscheinlich zehn Jahre liegen. Vaters Erinnerungen an die Republikflucht sind eingebettet in den ersten Besuch bei den Verwandten in der DDR, unmittelbar gefolgt von der Wende und der Beerdigung des Cousins Mischa. Die Ereignisse dazwischen haben ihren Platz an anderen Orten. Kunstvoll lässt Ziegler die auseinanderliegenden Momente ineinander fließen, so dass bereits nach wenigen Seiten das Fehlen der herkömmlichen Chronologie den Blick auf die erfrischend andersartige, topographische Ordnung frei gibt. Zeitliche Barrieren weiterhin missachtend, gießt er kindliche Wahrnehmung in die lakonisch-ironischen Ausdrucksformen eines Erwachsenen, macht den quälenden Schreibunterricht der Grundschule zur "schmerzlichen Alphabetisierung" und das Unvermögen, die ungewollte Erektion des peinlich berührten Heranwachsenden in seiner Hose zu verbergen, zum Problem der damals noch fehlenden "jugendlichen Technik, T-Shirts frei fallend zu tragen", unter denen man die Erregung hätte verstecken können.
Eindrücklich wird "Wilde Wiesen" durch die intensive Nähe zum Geschehen, die Ziegler nie aufgibt. Die kindliche Begeisterung, dem Kaugummiautomaten mehr zu entlocken, als die eigenen Groschen eigentlich zulassen würden, steigt förmlich aus der detaillierten Beschreibung des Tricks, mit dem er und Bruder Bert die simple Mechanik auszunutzen suchen, empor. Bereits in der Beschreibung des gleichgeschlechtlichen Verkehrs zwischen seinem Freund und einem älteren Mann schwingt die Abneigung mit, die ihm gegen diese Praktik innezuwohnen scheint. Und wenn er die Begebenheiten erzählt, die zur Ehe seiner Eltern führten, bietet er gleich drei Varianten an, die sich mit jeder Erzählung dem Geschehen nähern und so von einer oberflächlichen Erzählung, wie sie einer durchschnittlichen Biographie zu entnehmen sein könnte, zu einer am Unperfekten, Menschlichen orientierten wandeln, wie es für die Zieglersche Autogeographie typisch ist. Gerade im Kontrast zu den zusätzlich angebotenen Erzählmöglichkeiten entfaltet sie ihre ganze Besonderheit. All das formuliert er in einer unaufdringlich poetischen, zeitlosen Weise. Krönend kommt das unvermittelte Ende zum idealen Zeitpunkt - dann, wenn man das Leben von Ulf Erdmann Ziegler auf keinen Fall verlassen will.
THOMAS SCHOLZ.
Ulf Erdmann Ziegler: "Wilde Wiesen". Autogeographie. Wallstein Verlag, Göttingen 2007. 151 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ulf Erdmann Zieglers poetische Selbst-Erfahrung
Er fädelt sie wie Perlen hintereinander auf - die Orte seines Lebens. Den Kölner Stadtteil Lindenthal, in dem das Martinshorn der Krankenwagen vor der großelterlichen Wohnung in den kindlichen Ohren zum Sinnbild der Großstadt wird. Neumünster, wo die atemraubende Nacktheit einer Schulkameradin ihm deutlich macht, wie recht doch der Aktmaler Amedeo Modigliani damit hatte, die Augen unfertig zu lassen. Oder Dorstfeld, wo die Wohngemeinschaft der Fotografieschüler eine Melange aus Menschen ist, die erst die gemeinsame Kreativität zusammenführte. Diese und andere Stätten arrangiert Ulf Erdmann Ziegler in seiner "Autogeographie", reiht sie auf, zieht Querverbindungen und hält sie dabei doch in einzelnen Kapiteln säuberlich getrennt. Denn um seine bisherige Lebensgeschichte zu erzählen, stellt er die räumliche über die zeitliche Ordnung. Die Kindheitserlebnisse als Begleiter auf Opas Tour durch die Kneipen rückt somit eng an die eigenen homoerotischen Erfahrungen in der Kölner Szene, auch wenn dazwischen wahrscheinlich zehn Jahre liegen. Vaters Erinnerungen an die Republikflucht sind eingebettet in den ersten Besuch bei den Verwandten in der DDR, unmittelbar gefolgt von der Wende und der Beerdigung des Cousins Mischa. Die Ereignisse dazwischen haben ihren Platz an anderen Orten. Kunstvoll lässt Ziegler die auseinanderliegenden Momente ineinander fließen, so dass bereits nach wenigen Seiten das Fehlen der herkömmlichen Chronologie den Blick auf die erfrischend andersartige, topographische Ordnung frei gibt. Zeitliche Barrieren weiterhin missachtend, gießt er kindliche Wahrnehmung in die lakonisch-ironischen Ausdrucksformen eines Erwachsenen, macht den quälenden Schreibunterricht der Grundschule zur "schmerzlichen Alphabetisierung" und das Unvermögen, die ungewollte Erektion des peinlich berührten Heranwachsenden in seiner Hose zu verbergen, zum Problem der damals noch fehlenden "jugendlichen Technik, T-Shirts frei fallend zu tragen", unter denen man die Erregung hätte verstecken können.
Eindrücklich wird "Wilde Wiesen" durch die intensive Nähe zum Geschehen, die Ziegler nie aufgibt. Die kindliche Begeisterung, dem Kaugummiautomaten mehr zu entlocken, als die eigenen Groschen eigentlich zulassen würden, steigt förmlich aus der detaillierten Beschreibung des Tricks, mit dem er und Bruder Bert die simple Mechanik auszunutzen suchen, empor. Bereits in der Beschreibung des gleichgeschlechtlichen Verkehrs zwischen seinem Freund und einem älteren Mann schwingt die Abneigung mit, die ihm gegen diese Praktik innezuwohnen scheint. Und wenn er die Begebenheiten erzählt, die zur Ehe seiner Eltern führten, bietet er gleich drei Varianten an, die sich mit jeder Erzählung dem Geschehen nähern und so von einer oberflächlichen Erzählung, wie sie einer durchschnittlichen Biographie zu entnehmen sein könnte, zu einer am Unperfekten, Menschlichen orientierten wandeln, wie es für die Zieglersche Autogeographie typisch ist. Gerade im Kontrast zu den zusätzlich angebotenen Erzählmöglichkeiten entfaltet sie ihre ganze Besonderheit. All das formuliert er in einer unaufdringlich poetischen, zeitlosen Weise. Krönend kommt das unvermittelte Ende zum idealen Zeitpunkt - dann, wenn man das Leben von Ulf Erdmann Ziegler auf keinen Fall verlassen will.
THOMAS SCHOLZ.
Ulf Erdmann Ziegler: "Wilde Wiesen". Autogeographie. Wallstein Verlag, Göttingen 2007. 151 S., geb., 18,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent Jürgen Verdofsky findet große Worte für Ulf Erdmann Ziegler, den Autor dieser Autogeografie - die mit dem Genre Autobiografie wirklich nur entfernt verwandt sei, weil Orte für Menschen und ihre Geschichten stehen und "die Einblicke fragmentiert bleiben". Wir erfahren zwar einiges über den Autor, lernen ihn aber doch nicht kennen. Verdofsky nennt ihn einen "vollendeten Erzähler, der über seine Generation weit hinaus wirkt." Er gewinnt nach Meinung des Rezensenten "Autorität durch Atmosphäre und Situation, Arrangement und Verfremdung". Dabei setzt er in Verdofskys Augen die richtigen Prioritäten und vermeidet "ausufernde Schulgeschichten". Dafür werde der familiäre Hintergrund, der auch "alle deutsch-deutschen Besonderheiten" aufweist, ergründet. Dabei sei es nicht Zieglers Ansatz nicht, Verständnis zu suchen, sondern zu forschen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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