Dieses Buch zeigt Gotthelf von seiner abgründigsten Seite. Kein Autor deutscher Sprache hat sich der menschlichen Bosheit mit so scharfem Blick und brandschwarzem Humor gestellt. Die in diesem Band vorgelegten Geschichten sind wenig oder überhaupt nicht bekannt. Sie bieten einen faszinierenden Einblick in die menschliche Seele und in die Realität der Bauern der Schweiz im 19. Jahrhundert. So ergreifend sie die Liebeskraft der Menschen schildern, so erschreckend leuchten sie in Abgründe von Eigensucht und Gefühlskälte. Wer der Meinung ist, Gotthelf sei der Inbegriff der guten alten Zeit, kann hier sein blaues Wunder erleben - und Neuland der Literaturgeschichte betreten.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Fröstelnd legt Manfred Koch den Band mit den von Peter von Matt herausgegebenen und, wie er schreibt, exzellent im Nachwort eingeführten drastischen Erzählungen von Jeremias Gotthelf beiseite. Koch lernt den Pfarrerssohn und Biedermaier-Autor hier als Schreckensmann kennen. Ob Gotthelf nun die innere Dämonenhölle einer schuldigen Seele plausibel als Jagdszenario entwirft, wie Koch erläutert, freilich ganz nach Art christlicher Katharsis, oder dem reinen Grauen huldigt, wie in der Ehegeschichte vom "Harzer Hans", es fasziniert den Rezensenten. Am meisten noch, wenn keine höhere Sinngebung in Sicht ist und das radikal Wilde verhandelt wird. Dem Autor räumt Koch bereitwillig einen Platz unter den Ästheten des Bösen ein.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.07.2012Krasses
Garn
„Die wilden, wüsten Geschichten“
von Jeremias Gotthelf
Überdruck – die Arbeit als Gemeindepfarrer im Emmentaler Dörfchen Lützelflüh füllte Albert Bitzius nicht aus. Erst das Schreiben befreite ihn. 1837 erschien sein „Bauernspiegel oder Lebensgeschichte des Jeremias Gotthelf, von ihm selbst beschrieben“. Der Roman sollte ihn über Nacht zu einer Schweizer Berühmtheit machen. Ein Buch fürs ganze Volk. Zwei Jahre später gestand Bitzius seinem Cousin: „Begreife nun, daß ein wildes Leben in mir wogte, von dem niemand Ahnung hatte (. . .). Dieses Leben musste sich entweder aufzehren oder losbrechen auf irgendeine Weise. Es tat es in der Schrift.“
Bitzius veröffentlichte – seit dem „Bauernspiegel“ unter dem Namen Jeremias Gotthelf – Romane, Erzählungen, Anekdoten und Sagen. Man beschied dem Pfarrer zu Recht einen regelrechten furor paedagogicus . In seinen Schriften wetterte er gegen den Saufteufel, beklagte die Lasterhaftigkeit des Menschen und machte seinen Zeitgenossen den Vorwurf, sich nur mehr der Jagd nach dem schnöden Mammon zu verschreiben. Gotthelf wollte abschrecken, mahnen und warnen. Dieses literarische Programm beschert uns heute bei allem Moralismus einen Erzähler von ungeheurer Vitalität, Drastik und, ja, auch Anarchie, der seine Leser ebenso mitzureißen wie vor den Kopf zu stoßen versteht. Erzählkonventionen interessierten den Schweizer nur bedingt. Auf fulminante Weise ist dies nun in dem Band „Wilde, wüste Geschichten“ zu erleben. Die meisten der vierzehn dort versammelten Texte erscheinen zum ersten Mal außerhalb der 24-bändigen Gesamtausgabe, einige von ihnen in der Urfassung. Kurz: „Wilde, wüste Geschichten“ ist eine weitere Trouvaille in der von Peter von Matt verantworteten „Kollektion Nagel & Kimche“.
Los geht es gleich mit dem gerade einmal zwei Seiten langen „Erdbeben von Haiti“, einer Art radikaler Instantversion von Kleists „Chili“-Erzählung. Der Leser kommt hier ebenso wenig zum Verschnaufen wie die Überlebenden, über die, kaum dass das Beben vorbei ist, „die wilde Rotte blutdürstig, beutehungrig, lustgeschwollen“ stürzt: „und was Gott geschont, fällt dem wildesten der Tiere zum Raube, dem Menschen“. Ebenso dicht ist die als tragikomisches Exemplum angelegte Geschichte „Wie man kaputt werden kann“. Darin bescheinigt ein Arzt einem alten Geizhals nur mehr wenige Stunden zu leben, woraufhin dieser sein Geld dem Feuer überantwortet. Nichts soll die Nachwelt von seinem angehäuften Vermögen haben. Doch Gottes Werke sind unergründlich, der Alte gesundet auf wunderbare Weise – und erhängt sich: „Der hatte seine Genesung nicht überleben wollen, der hatte es nicht übers Herz bringen können, daß er alle habe betrügen wollen, aber am Ende sich alleine betrogen“.
Peter von Matt beendet sein kluges Nachwort mit dem Satz: „Als ob das Krasse je eine Grenze Gotthelfs markiert hätte und nicht seine überzeitliche Stärke“. Das Krasse kommt in den kurzen noch erschreckender als in den langen Erzählungen „Kurt von Koppigen“, „Die Rotentaler Herren“ und „Harzer Hans, auch ein Erbvetter“ zum Tragen. In den „Rotentaler Herren“ vermengt Gotthelf bedenkenlos Sagengarn von blutrünstigen Riesen mit der Schweizer Geschichte, weshalb den Text über hundert Jahre lang niemand drucken wollte. Im „Harzer Hans“ begegnet dem Leser ein Mensch, der bis zum Schluss unbeirrt und frei von Selbstzweifeln seinen Weg des Geizes, des Hasses und der Rachsucht geht. Geradezu in völliger Verkehrung der biblischen Nächstenliebe: Hasse deinen Nächsten wie dich selbst. Vom Bösen geht eine ungeheure Faszination aus. Damals wie auch heute. Gotthelf, ein moderner Autor.
FLORIAN WELLE
Jeremias Gotthelf: Wilde, wüste Geschichten. Mit einem Nachwort von Peter von Matt. Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag, München 2012. 256 Seiten, 19,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Garn
„Die wilden, wüsten Geschichten“
von Jeremias Gotthelf
Überdruck – die Arbeit als Gemeindepfarrer im Emmentaler Dörfchen Lützelflüh füllte Albert Bitzius nicht aus. Erst das Schreiben befreite ihn. 1837 erschien sein „Bauernspiegel oder Lebensgeschichte des Jeremias Gotthelf, von ihm selbst beschrieben“. Der Roman sollte ihn über Nacht zu einer Schweizer Berühmtheit machen. Ein Buch fürs ganze Volk. Zwei Jahre später gestand Bitzius seinem Cousin: „Begreife nun, daß ein wildes Leben in mir wogte, von dem niemand Ahnung hatte (. . .). Dieses Leben musste sich entweder aufzehren oder losbrechen auf irgendeine Weise. Es tat es in der Schrift.“
Bitzius veröffentlichte – seit dem „Bauernspiegel“ unter dem Namen Jeremias Gotthelf – Romane, Erzählungen, Anekdoten und Sagen. Man beschied dem Pfarrer zu Recht einen regelrechten furor paedagogicus . In seinen Schriften wetterte er gegen den Saufteufel, beklagte die Lasterhaftigkeit des Menschen und machte seinen Zeitgenossen den Vorwurf, sich nur mehr der Jagd nach dem schnöden Mammon zu verschreiben. Gotthelf wollte abschrecken, mahnen und warnen. Dieses literarische Programm beschert uns heute bei allem Moralismus einen Erzähler von ungeheurer Vitalität, Drastik und, ja, auch Anarchie, der seine Leser ebenso mitzureißen wie vor den Kopf zu stoßen versteht. Erzählkonventionen interessierten den Schweizer nur bedingt. Auf fulminante Weise ist dies nun in dem Band „Wilde, wüste Geschichten“ zu erleben. Die meisten der vierzehn dort versammelten Texte erscheinen zum ersten Mal außerhalb der 24-bändigen Gesamtausgabe, einige von ihnen in der Urfassung. Kurz: „Wilde, wüste Geschichten“ ist eine weitere Trouvaille in der von Peter von Matt verantworteten „Kollektion Nagel & Kimche“.
Los geht es gleich mit dem gerade einmal zwei Seiten langen „Erdbeben von Haiti“, einer Art radikaler Instantversion von Kleists „Chili“-Erzählung. Der Leser kommt hier ebenso wenig zum Verschnaufen wie die Überlebenden, über die, kaum dass das Beben vorbei ist, „die wilde Rotte blutdürstig, beutehungrig, lustgeschwollen“ stürzt: „und was Gott geschont, fällt dem wildesten der Tiere zum Raube, dem Menschen“. Ebenso dicht ist die als tragikomisches Exemplum angelegte Geschichte „Wie man kaputt werden kann“. Darin bescheinigt ein Arzt einem alten Geizhals nur mehr wenige Stunden zu leben, woraufhin dieser sein Geld dem Feuer überantwortet. Nichts soll die Nachwelt von seinem angehäuften Vermögen haben. Doch Gottes Werke sind unergründlich, der Alte gesundet auf wunderbare Weise – und erhängt sich: „Der hatte seine Genesung nicht überleben wollen, der hatte es nicht übers Herz bringen können, daß er alle habe betrügen wollen, aber am Ende sich alleine betrogen“.
Peter von Matt beendet sein kluges Nachwort mit dem Satz: „Als ob das Krasse je eine Grenze Gotthelfs markiert hätte und nicht seine überzeitliche Stärke“. Das Krasse kommt in den kurzen noch erschreckender als in den langen Erzählungen „Kurt von Koppigen“, „Die Rotentaler Herren“ und „Harzer Hans, auch ein Erbvetter“ zum Tragen. In den „Rotentaler Herren“ vermengt Gotthelf bedenkenlos Sagengarn von blutrünstigen Riesen mit der Schweizer Geschichte, weshalb den Text über hundert Jahre lang niemand drucken wollte. Im „Harzer Hans“ begegnet dem Leser ein Mensch, der bis zum Schluss unbeirrt und frei von Selbstzweifeln seinen Weg des Geizes, des Hasses und der Rachsucht geht. Geradezu in völliger Verkehrung der biblischen Nächstenliebe: Hasse deinen Nächsten wie dich selbst. Vom Bösen geht eine ungeheure Faszination aus. Damals wie auch heute. Gotthelf, ein moderner Autor.
FLORIAN WELLE
Jeremias Gotthelf: Wilde, wüste Geschichten. Mit einem Nachwort von Peter von Matt. Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag, München 2012. 256 Seiten, 19,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.08.2012Die Bibel hat doch recht
Von wegen Biedermeier: Eine Sammlung kaum bekannter Texte zeigt Jeremias Gotthelf als einen Autor, der in abgründigen Geschichten wild um sich schlägt.
Der Schweizer Jeremias Gotthelf ist derzeit Gegenstand eines Streits in seiner Schweizer Heimat; es geht um die Erschließung des Nachlasses (F.A.Z. von gestern). Er lebte von 1797 bis 1854, bürgerlich hieß er Albert Bitzius und war wie sein Vater protestantischer Pfarrer; er hatte in Bern und Göttingen Theologie studiert. Seine Studienjahre, sagte er, "waren für mich wissenschaftlich nicht fruchtbar. Die Gesellschaft, namentlich die weibliche, nahm mich mehr in Anspruch", aber damals war er jung, später wurde er sittsamer. 1836 schrieb er sein erstes Buch, "Der Bauernspiegel".
Nach dessen Helden wählte Bitzius seinen Autorennamen. Das war mehr als ein Wink, der Vorname Jeremias erinnert an jenen biblischen Propheten, der sein Volk zur Besinnung und zur Umkehr mahnte. Deshalb sehen seine Verächter in Gotthelf bloß den Biedermeier-Autor, den provinziellen "moralischen Jakobiner", seine Bewunderer hingegen halten ihn für den "einzigen Erzähler ersten Ranges in der deutschen Literatur". Weder das eine noch das andere trifft es wohl ganz.
Festzuhalten bleibt: Der eifernde Christ wollte nicht nur von der Kanzel predigen, sondern auch in seinen Büchern. So etwas kann eigentlich nur schiefgehen. Aber der Volkserzieher Gotthelf war eben auch ein geborener Schriftsteller. Wie er als Prediger gesprochen haben wird, so schreibt er auch als Dichter: maßlos, wuchtig und rücksichtslos. Als hätte er an Friedrich Schlegel gedacht, der in den Athenäums-Fragmenten gesagt hatte, "dass die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide".
Es hat was, wenn die scheinbar Harmlosen von ihrer krassen Seite gezeigt werden. Vor einigen Jahren legte Heinrich Detering Hans Christian Andersens "Schräge Märchen" vor, hier nun präsentiert uns Peter von Matt Gotthelfs "Wilde, wüste Geschichten", eine Sammlung kaum bekannter Texte, teilweise in Urfassung. Im Vorwort zitiert er Gotthelfs berühmten Brief an den Vetter Carl 1838: "Begreife nun, dass ein wildes Leben in mir wogte, von dem niemand Ahnung hatte. So ist mein Schreiben auch gewesen ein Bahnbrechen, ein wildes Umsichschlagen nach allen Seiten hin."
Obwohl er Gott allein als höchste Instanz über der Dichtung anruft, wie sein inniger Anhänger Walter Muschg bemerkte, ist Gotthelf nicht in erster Linie Gotteskrieger, sondern Wortkrieger. Auch wenn er sich wie in dem kurzen Text "Wie man kaputt werden kann" an Johann Peter Hebels Kalendergeschichten orientiert, ist er gnadenloser in der Pointe. Er sieht das Wort als Waffe. Damit will er die Leute nicht so sehr zu ihrem Glück zwingen, sondern vor allem Anklage führen: mit allen Registern rhetorischer Raffinesse, mit gewaltiger Phantasie, rabenschwarzem Humor und einer Komik, die ebenso pessimistisch ist wie sein Menschenbild überhaupt.
Im Gegensatz zu seinem Landsmann Rousseau macht er sich nämlich über das Gute im Menschen keine Illusionen. Lesen Sie den packenden und mahnenden Bericht über das "Erdbeben von Haiti", in dem die einen Opfer bleiben und die andern Täter werden, Plünderer, Mörder und Vergewaltiger, weil sie die Ohnmacht der einen ausnutzen. Wie recht die Bibel doch hat, die Gotthelf am Schluss zitiert: Es sei besser, "in die Hand Gottes zu fallen als in die Hände der Menschen"!
Ob der kalte, geizige Hans, der tumbe, eingebildete Benz oder die zänkische, giftige Grimhilde - Gotthelfs Menschen sind übermütig, eitel und verstockt. Nur wenigen ist Erlösung vergönnt, aber erst nach kathartischen Ereignissen, die ihresgleichen suchen. Der größenwahnsinnige, verblendete Kurt von Koppigen zum Beispiel muss erst durch ein veritables Fegefeuer gehen, er wird Gejagter einer Wilden Jagd, ehe er bekehrt wird.
Szenen unerträglicher Grausamkeit, zuweilen an Hieronymus Bosch erinnernd, hat die so idyllisch anhebende Erzählung "Die Rotentaler Herren", die hundert Jahre unter Verschluss gehalten wurde, eine harsche Kritik der Schweizer Geschichte. Ein ergrauter Bauer erzählt beim Glühen des Pfeifchens und der Alpen die Volkssage von den Rotentaler Riesen, die einst mit unsäglichem Sadismus über die Welt herrschten. "Ein Würgen und ein Schreien war da, wie es die Erde nie gesehen, und eine Lust strömte durch die Riesen, wie sie noch keine gefühlt."
Das Dahinmetzeln von allem Lebendigen, der Blutrausch - wir kennen Berichte darüber seit der Antike. Doch wurde es selten so erschütternd und ungestüm beschrieben wie hier von Gotthelf. Im Vergleich zum zwanzig Jahre jüngeren Gottfried Keller ist ihm die künstlerische Form herzlich egal. Seine Kritik ist gnadenlos, keiner bleibt verschont. "Er hielt den Reichen ihre Härte, den Armen ihre Schwäche, den Richtern ihre Ungerechtigkeit, der Regierung ihre Ohnmacht und Würdelosigkeit, den Gebildeten ihre Geistesarmut vor", schreibt Walter Muschg in seiner "Tragischen Literaturgeschichte". Gotthelf warnt vor der materialistischen Zukunft, ohne die Vergangenheit zu verklären, er wünscht sich die gottesfürchtige Idylle und weiß doch genau, dass sie nie kommen wird, weil die Menschen nicht so sind. Und er schreibt seine abgründigen Texte mit einer Leidenschaft, Farbigkeit und Kraft, die man einem Dichter der Biedermeier-Epoche nie zugetraut hätte.
PETER URBAN-HALLE
Jeremias Gotthelf: "Wilde, wüste Geschichten". Erzählungen.
Hrsg. und mit einem Nachwort von Peter von Matt. Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2012. 253 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von wegen Biedermeier: Eine Sammlung kaum bekannter Texte zeigt Jeremias Gotthelf als einen Autor, der in abgründigen Geschichten wild um sich schlägt.
Der Schweizer Jeremias Gotthelf ist derzeit Gegenstand eines Streits in seiner Schweizer Heimat; es geht um die Erschließung des Nachlasses (F.A.Z. von gestern). Er lebte von 1797 bis 1854, bürgerlich hieß er Albert Bitzius und war wie sein Vater protestantischer Pfarrer; er hatte in Bern und Göttingen Theologie studiert. Seine Studienjahre, sagte er, "waren für mich wissenschaftlich nicht fruchtbar. Die Gesellschaft, namentlich die weibliche, nahm mich mehr in Anspruch", aber damals war er jung, später wurde er sittsamer. 1836 schrieb er sein erstes Buch, "Der Bauernspiegel".
Nach dessen Helden wählte Bitzius seinen Autorennamen. Das war mehr als ein Wink, der Vorname Jeremias erinnert an jenen biblischen Propheten, der sein Volk zur Besinnung und zur Umkehr mahnte. Deshalb sehen seine Verächter in Gotthelf bloß den Biedermeier-Autor, den provinziellen "moralischen Jakobiner", seine Bewunderer hingegen halten ihn für den "einzigen Erzähler ersten Ranges in der deutschen Literatur". Weder das eine noch das andere trifft es wohl ganz.
Festzuhalten bleibt: Der eifernde Christ wollte nicht nur von der Kanzel predigen, sondern auch in seinen Büchern. So etwas kann eigentlich nur schiefgehen. Aber der Volkserzieher Gotthelf war eben auch ein geborener Schriftsteller. Wie er als Prediger gesprochen haben wird, so schreibt er auch als Dichter: maßlos, wuchtig und rücksichtslos. Als hätte er an Friedrich Schlegel gedacht, der in den Athenäums-Fragmenten gesagt hatte, "dass die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide".
Es hat was, wenn die scheinbar Harmlosen von ihrer krassen Seite gezeigt werden. Vor einigen Jahren legte Heinrich Detering Hans Christian Andersens "Schräge Märchen" vor, hier nun präsentiert uns Peter von Matt Gotthelfs "Wilde, wüste Geschichten", eine Sammlung kaum bekannter Texte, teilweise in Urfassung. Im Vorwort zitiert er Gotthelfs berühmten Brief an den Vetter Carl 1838: "Begreife nun, dass ein wildes Leben in mir wogte, von dem niemand Ahnung hatte. So ist mein Schreiben auch gewesen ein Bahnbrechen, ein wildes Umsichschlagen nach allen Seiten hin."
Obwohl er Gott allein als höchste Instanz über der Dichtung anruft, wie sein inniger Anhänger Walter Muschg bemerkte, ist Gotthelf nicht in erster Linie Gotteskrieger, sondern Wortkrieger. Auch wenn er sich wie in dem kurzen Text "Wie man kaputt werden kann" an Johann Peter Hebels Kalendergeschichten orientiert, ist er gnadenloser in der Pointe. Er sieht das Wort als Waffe. Damit will er die Leute nicht so sehr zu ihrem Glück zwingen, sondern vor allem Anklage führen: mit allen Registern rhetorischer Raffinesse, mit gewaltiger Phantasie, rabenschwarzem Humor und einer Komik, die ebenso pessimistisch ist wie sein Menschenbild überhaupt.
Im Gegensatz zu seinem Landsmann Rousseau macht er sich nämlich über das Gute im Menschen keine Illusionen. Lesen Sie den packenden und mahnenden Bericht über das "Erdbeben von Haiti", in dem die einen Opfer bleiben und die andern Täter werden, Plünderer, Mörder und Vergewaltiger, weil sie die Ohnmacht der einen ausnutzen. Wie recht die Bibel doch hat, die Gotthelf am Schluss zitiert: Es sei besser, "in die Hand Gottes zu fallen als in die Hände der Menschen"!
Ob der kalte, geizige Hans, der tumbe, eingebildete Benz oder die zänkische, giftige Grimhilde - Gotthelfs Menschen sind übermütig, eitel und verstockt. Nur wenigen ist Erlösung vergönnt, aber erst nach kathartischen Ereignissen, die ihresgleichen suchen. Der größenwahnsinnige, verblendete Kurt von Koppigen zum Beispiel muss erst durch ein veritables Fegefeuer gehen, er wird Gejagter einer Wilden Jagd, ehe er bekehrt wird.
Szenen unerträglicher Grausamkeit, zuweilen an Hieronymus Bosch erinnernd, hat die so idyllisch anhebende Erzählung "Die Rotentaler Herren", die hundert Jahre unter Verschluss gehalten wurde, eine harsche Kritik der Schweizer Geschichte. Ein ergrauter Bauer erzählt beim Glühen des Pfeifchens und der Alpen die Volkssage von den Rotentaler Riesen, die einst mit unsäglichem Sadismus über die Welt herrschten. "Ein Würgen und ein Schreien war da, wie es die Erde nie gesehen, und eine Lust strömte durch die Riesen, wie sie noch keine gefühlt."
Das Dahinmetzeln von allem Lebendigen, der Blutrausch - wir kennen Berichte darüber seit der Antike. Doch wurde es selten so erschütternd und ungestüm beschrieben wie hier von Gotthelf. Im Vergleich zum zwanzig Jahre jüngeren Gottfried Keller ist ihm die künstlerische Form herzlich egal. Seine Kritik ist gnadenlos, keiner bleibt verschont. "Er hielt den Reichen ihre Härte, den Armen ihre Schwäche, den Richtern ihre Ungerechtigkeit, der Regierung ihre Ohnmacht und Würdelosigkeit, den Gebildeten ihre Geistesarmut vor", schreibt Walter Muschg in seiner "Tragischen Literaturgeschichte". Gotthelf warnt vor der materialistischen Zukunft, ohne die Vergangenheit zu verklären, er wünscht sich die gottesfürchtige Idylle und weiß doch genau, dass sie nie kommen wird, weil die Menschen nicht so sind. Und er schreibt seine abgründigen Texte mit einer Leidenschaft, Farbigkeit und Kraft, die man einem Dichter der Biedermeier-Epoche nie zugetraut hätte.
PETER URBAN-HALLE
Jeremias Gotthelf: "Wilde, wüste Geschichten". Erzählungen.
Hrsg. und mit einem Nachwort von Peter von Matt. Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2012. 253 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main