"wir warten nicht auf jahreszeiten das neue jahr beginnt / nie und das alte jahr endet wie immer zeitlos". Raphael Urweider führt vor Augen, was für erstaunliche Früchte die Gegenwartskunde trägt. Seine Gedichte betrachten das Ineinandergreifen der Dinge: "wir essen fisch der nach petrol riecht und / kochen mit petrol das nach fisch riecht". Ebenso unbeschwert wie klug seziert Urweider Pflanzen: "was ist die einsamkeit eines knackens / gegen die zweisamkeit eines zweigs / äste verzweigen sind nie allein / allein ist ein ast nur holz". Zehn Jahre nach seinen letzten vielfach ausgezeichneten Gedichtbänden meldet sich ein beglückend überraschungsreicher Dichter zurück.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.06.2018Joburg, du kannst mein Geld haben, aber bitte lass mir mein Telefon!
Welterkundung in Zyklen: Neue Gedichte des Schweizers Raphael Urweider
Wildern ist strafbar. Auch in der Schweiz, wo Raphael Urweider aufgewachsen ist und er als vielseitiger und vielfach ausgezeichneter Wort- und Tonkünstler lebt. In dem autobiographischen Gedicht "tannen", das seinen neuen Gedichtband abschließt, erzählt er, was er als Kind in der familiären Waschküche beobachtet: nach schnaps riechende "männer schaben erregt / wie kinder einer gewilderten / gämse mit kleinen taschenmessern / das fell ab".
Urweider weiß also, wovon er redet, wenn er seinen Gedichtband unter den Titel "wildern" stellt. Doch er gibt dem Wort schon im Eingangsgedicht ("wintern") eine weitere, übertragene Bedeutung: Erstaunt erfährt man, dass der Wilderer, der hier unterwegs ist, zugleich auch Jäger, ein Tier, die Beute, ein Dorfbewohner, die Fährte, das Fluchttier und Förster ist. Nur ein Wilddieb ist er nicht. Er besitzt offensichtlich die Gabe und die Fähigkeit, sich den Naturphänomenen ganz und gar anzuverwandeln. Er macht sie sich buchstäblich zu eigen, verleibt sie sich ein: "ich generiere jagd / aus meinen jackentaschen verteile ich saatgut". Das ist seine Art zu wildern, und die hat, wie man zunehmend erkennt, viel mit Poesie und dem jagenden und säenden Poeten zu tun, dessen Selbstverständnis dieses programmatische Gedicht enthält.
Diesen ebenso selbstbewussten wie anspruchsvollen Entwurf seiner poetischen Tätigkeit löst Urweider mit seinem Gedichtband überzeugend ein. Dieser zeichnet sich durch größte thematische und sprachliche Varietät aus, die nur vordergründig versteckt wird hinter der durchgehend gleichbleibenden Schreibweise (Kleinschreibung, fehlende Interpunktion). Die sieben unterschiedlich langen Kapitel besitzen jeweils Projektcharakter. Ihr Gewicht wird dadurch hervorgehoben, dass im Inhaltsverzeichnis nur diese Projekte, nicht die einzelnen Gedichte, mit ihren Titeln aufgeführt werden; sie heißen "wintern", "orten", "weilen", "winden", "dämmern", "fruchten" und "tannen". Diese Wortreihung wirkt auf den ersten Blick in ihrer sprachlichen Form etwas gekünstelt und verspielt, zumal sie sich nicht immer folgerichtig aus den Themen der Gedichte ergibt. Auf das programmatische Eingangsgedicht vom einsamen Jäger folgt kontrastierend das den "orten" gewidmete Kapitel. Es enthält 25 Gedichte über deutsche, europäische und überseeische Städte. Auch hier herrscht die größte Vielfalt der Perspektiven und Redeweisen: knappe Impressionen, anekdotische und reportagehafte Erzählungen, Alltagsbeobachtungen, politische Wahrnehmungen und Skizzen der eigenen Befindlichkeit ,vor Ort' - ein grellbuntes, welthaltiges Kaleidoskop. Das vielleicht schönste Gedicht gilt Johannesburg, vertraulich Joburg genannt, eine kaum zu entschlüsselnde Stadt: "ich habe meine schlüssel verloren", heißt es hier refrainartig, "ich komme weder rein noch raus". Und mit einer anrührende Bitte schließt dieses Gedicht: "joburg, du kannst mein geld haben / meinen pass und die simkarte / aber bitte lass mir mein telefon / da sind noch gedichte drin".
Eine zweite Reise rund um die Welt unternimmt Urweider mit dem Kapitel "dämmern". Hier erscheinen die Städte weltweit im Zustand der Dämmerung und des Sonnenuntergangs. Sprachlich virtuos kombiniert der Verfasser die Gleichzeitigkeit und Gleichartigkeit des Phänomens mit seiner örtlichen Einzigartigkeit und Eigentümlichkeit. Auch in diesen eindringlichen Charakterisierungen werden aber die "kugelsicheren Fenster" in Jerusalem und der Nordwind "aus richtung tschernobyl" in Kiew nicht ausgespart.
Zwei Kapitel - man sollte wohl besser von Zyklen sprechen - befassen sich mit Pflanzen und Früchten. Unter dem rätselhaften Titel "weilen" finden sich sechs deutende und wertende Betrachtungen der Bestandteile eines Baumes (Knospe, Blüte, Blatt, Ast, Stamm, Wurzel). "äste verzweigen sind nie allein / allein ist ein ast nur holz", liest man da, oder "die knospe ist eine bombe / eine schöne sanfte bombe, die nicht / angefasst werden sollte knospen / sind geduld verlangende ver-sprechen". Es geht hier um den Eigenwert der Teile, um ihren Zusammenhang mit dem Ganzen und um poetisch-metaphorische Bestimmungen des Wesens dieser Teile.
Demgegenüber enthält der Zyklus "fruchten" acht betont sachliche Beschreibungen exotischer Südfrüchte, ihrer vegetativen Besonderheiten in Blättern, Blüten und Früchten. Sie wirken gerade durch ihre fachwissenschaftliche Genauigkeit (einschließlich der entsprechenden Termini) und den Verzicht auf jegliche Poetisierung provozierend, als wollten sie sich selbst als ästhetische Gebilde in Frage stellen. Sie wildern offenbar in Wikipedia oder in einschlägigen Fachlexika und unterscheiden sich von den übrigen Gedichten schon dadurch, dass sie die Eigentümlichkeiten der Früchte oft stichwortartig registrieren und hier sogar die sonst verpönte Interpunktion verwenden.
Am Schluss dann das lange Gedicht (51 Strophen zu je drei Versen) "tannen", unverkennbar ein autobiographischer Text. Er zeigt die Bewusstseinsentwicklung des jungen Raphael Urweider, der in einem Bergdorf (Guttannen heißt es) aufwächst, "am oberen ende des kerbtals", wo sich "nichts als der pass in der talsohle / nichts als das nächste dorf" befindet, und führt von den ersten Sinneseindrücken des Kleinkinds über die Erinnerungen und die Entdeckung von Zusammenhängen bis zu weitreichenden Erkenntnissen des Jugendlichen über die Endlichkeit der Welt, die ihm sein Vater, der Pfarrer, vermittelt. Von ihm erfährt der Junge, "was atombombe sei" und "dass die menschen / die welt mehrmals sprengen / könnten". Man fühlt sich erinnert an die Unterrichtung über die Macht- und Besitzverhältnisse in der feudalen Gesellschaft, die Walther Tell von seinem Vater, dem Jäger, erfährt. In beiden Fällen wird die Idylle des natürlichen Lebens in der Bergwelt zerstört durch den Einbruch der Außenwelt, die zugleich aber die Sehnsucht nach dem weckt, was hinter den Bergen liegt. Utopie, Nostalgie und Schrecken liegen nahe beieinander.
Urweiders neuer Gedichtband, zehn Jahre nach den Liebesgedichten "Alle deine Namen" erschienen, ist in der gegenwärtigen deutschen Lyrikszene eine exzellente Ausnahmeerscheinung: Er ist sorgfältig in kluger Symmetrie komponiert aus Gegensatzpaaren, und sein Verfasser ist dem Naheliegenden und dem Fernen und Fremden gleich zugewandt, der kleinen und der großen Welt, dem Detail ebenso wie dem Zusammenhang des Ganzen. Das Buch lässt sich einem bunten Mosaik aus Steinen, Tönen und Worten einer wirklichkeitsgesättigten Sprache vergleichen, die in ihrer Darbietung gerade so leicht verfremdet ist, dass es unterhaltsame Freude macht, sie zu entziffern.
WULF SEGEBRECHT
Raphael Urweider: "Wildern". Gedichte.
Hanser Verlag, München 2018. 104 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Welterkundung in Zyklen: Neue Gedichte des Schweizers Raphael Urweider
Wildern ist strafbar. Auch in der Schweiz, wo Raphael Urweider aufgewachsen ist und er als vielseitiger und vielfach ausgezeichneter Wort- und Tonkünstler lebt. In dem autobiographischen Gedicht "tannen", das seinen neuen Gedichtband abschließt, erzählt er, was er als Kind in der familiären Waschküche beobachtet: nach schnaps riechende "männer schaben erregt / wie kinder einer gewilderten / gämse mit kleinen taschenmessern / das fell ab".
Urweider weiß also, wovon er redet, wenn er seinen Gedichtband unter den Titel "wildern" stellt. Doch er gibt dem Wort schon im Eingangsgedicht ("wintern") eine weitere, übertragene Bedeutung: Erstaunt erfährt man, dass der Wilderer, der hier unterwegs ist, zugleich auch Jäger, ein Tier, die Beute, ein Dorfbewohner, die Fährte, das Fluchttier und Förster ist. Nur ein Wilddieb ist er nicht. Er besitzt offensichtlich die Gabe und die Fähigkeit, sich den Naturphänomenen ganz und gar anzuverwandeln. Er macht sie sich buchstäblich zu eigen, verleibt sie sich ein: "ich generiere jagd / aus meinen jackentaschen verteile ich saatgut". Das ist seine Art zu wildern, und die hat, wie man zunehmend erkennt, viel mit Poesie und dem jagenden und säenden Poeten zu tun, dessen Selbstverständnis dieses programmatische Gedicht enthält.
Diesen ebenso selbstbewussten wie anspruchsvollen Entwurf seiner poetischen Tätigkeit löst Urweider mit seinem Gedichtband überzeugend ein. Dieser zeichnet sich durch größte thematische und sprachliche Varietät aus, die nur vordergründig versteckt wird hinter der durchgehend gleichbleibenden Schreibweise (Kleinschreibung, fehlende Interpunktion). Die sieben unterschiedlich langen Kapitel besitzen jeweils Projektcharakter. Ihr Gewicht wird dadurch hervorgehoben, dass im Inhaltsverzeichnis nur diese Projekte, nicht die einzelnen Gedichte, mit ihren Titeln aufgeführt werden; sie heißen "wintern", "orten", "weilen", "winden", "dämmern", "fruchten" und "tannen". Diese Wortreihung wirkt auf den ersten Blick in ihrer sprachlichen Form etwas gekünstelt und verspielt, zumal sie sich nicht immer folgerichtig aus den Themen der Gedichte ergibt. Auf das programmatische Eingangsgedicht vom einsamen Jäger folgt kontrastierend das den "orten" gewidmete Kapitel. Es enthält 25 Gedichte über deutsche, europäische und überseeische Städte. Auch hier herrscht die größte Vielfalt der Perspektiven und Redeweisen: knappe Impressionen, anekdotische und reportagehafte Erzählungen, Alltagsbeobachtungen, politische Wahrnehmungen und Skizzen der eigenen Befindlichkeit ,vor Ort' - ein grellbuntes, welthaltiges Kaleidoskop. Das vielleicht schönste Gedicht gilt Johannesburg, vertraulich Joburg genannt, eine kaum zu entschlüsselnde Stadt: "ich habe meine schlüssel verloren", heißt es hier refrainartig, "ich komme weder rein noch raus". Und mit einer anrührende Bitte schließt dieses Gedicht: "joburg, du kannst mein geld haben / meinen pass und die simkarte / aber bitte lass mir mein telefon / da sind noch gedichte drin".
Eine zweite Reise rund um die Welt unternimmt Urweider mit dem Kapitel "dämmern". Hier erscheinen die Städte weltweit im Zustand der Dämmerung und des Sonnenuntergangs. Sprachlich virtuos kombiniert der Verfasser die Gleichzeitigkeit und Gleichartigkeit des Phänomens mit seiner örtlichen Einzigartigkeit und Eigentümlichkeit. Auch in diesen eindringlichen Charakterisierungen werden aber die "kugelsicheren Fenster" in Jerusalem und der Nordwind "aus richtung tschernobyl" in Kiew nicht ausgespart.
Zwei Kapitel - man sollte wohl besser von Zyklen sprechen - befassen sich mit Pflanzen und Früchten. Unter dem rätselhaften Titel "weilen" finden sich sechs deutende und wertende Betrachtungen der Bestandteile eines Baumes (Knospe, Blüte, Blatt, Ast, Stamm, Wurzel). "äste verzweigen sind nie allein / allein ist ein ast nur holz", liest man da, oder "die knospe ist eine bombe / eine schöne sanfte bombe, die nicht / angefasst werden sollte knospen / sind geduld verlangende ver-sprechen". Es geht hier um den Eigenwert der Teile, um ihren Zusammenhang mit dem Ganzen und um poetisch-metaphorische Bestimmungen des Wesens dieser Teile.
Demgegenüber enthält der Zyklus "fruchten" acht betont sachliche Beschreibungen exotischer Südfrüchte, ihrer vegetativen Besonderheiten in Blättern, Blüten und Früchten. Sie wirken gerade durch ihre fachwissenschaftliche Genauigkeit (einschließlich der entsprechenden Termini) und den Verzicht auf jegliche Poetisierung provozierend, als wollten sie sich selbst als ästhetische Gebilde in Frage stellen. Sie wildern offenbar in Wikipedia oder in einschlägigen Fachlexika und unterscheiden sich von den übrigen Gedichten schon dadurch, dass sie die Eigentümlichkeiten der Früchte oft stichwortartig registrieren und hier sogar die sonst verpönte Interpunktion verwenden.
Am Schluss dann das lange Gedicht (51 Strophen zu je drei Versen) "tannen", unverkennbar ein autobiographischer Text. Er zeigt die Bewusstseinsentwicklung des jungen Raphael Urweider, der in einem Bergdorf (Guttannen heißt es) aufwächst, "am oberen ende des kerbtals", wo sich "nichts als der pass in der talsohle / nichts als das nächste dorf" befindet, und führt von den ersten Sinneseindrücken des Kleinkinds über die Erinnerungen und die Entdeckung von Zusammenhängen bis zu weitreichenden Erkenntnissen des Jugendlichen über die Endlichkeit der Welt, die ihm sein Vater, der Pfarrer, vermittelt. Von ihm erfährt der Junge, "was atombombe sei" und "dass die menschen / die welt mehrmals sprengen / könnten". Man fühlt sich erinnert an die Unterrichtung über die Macht- und Besitzverhältnisse in der feudalen Gesellschaft, die Walther Tell von seinem Vater, dem Jäger, erfährt. In beiden Fällen wird die Idylle des natürlichen Lebens in der Bergwelt zerstört durch den Einbruch der Außenwelt, die zugleich aber die Sehnsucht nach dem weckt, was hinter den Bergen liegt. Utopie, Nostalgie und Schrecken liegen nahe beieinander.
Urweiders neuer Gedichtband, zehn Jahre nach den Liebesgedichten "Alle deine Namen" erschienen, ist in der gegenwärtigen deutschen Lyrikszene eine exzellente Ausnahmeerscheinung: Er ist sorgfältig in kluger Symmetrie komponiert aus Gegensatzpaaren, und sein Verfasser ist dem Naheliegenden und dem Fernen und Fremden gleich zugewandt, der kleinen und der großen Welt, dem Detail ebenso wie dem Zusammenhang des Ganzen. Das Buch lässt sich einem bunten Mosaik aus Steinen, Tönen und Worten einer wirklichkeitsgesättigten Sprache vergleichen, die in ihrer Darbietung gerade so leicht verfremdet ist, dass es unterhaltsame Freude macht, sie zu entziffern.
WULF SEGEBRECHT
Raphael Urweider: "Wildern". Gedichte.
Hanser Verlag, München 2018. 104 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Wie der Hase im Eröffnungsgedicht 'wintern' schlägt Raphael Urweider die überraschendsten Haken - 'in jede bewachsbare richtung'." Michael Braun, Neue Zürcher Zeitung