Was tut der Mensch nicht alles, um die Illusion von dauerhaftem Glück und selbstbestimmtem Leben aufrechtzuerhalten. Mit großer Souveränität umkreist Fridolin Schley in seinem neuen Erzählungsband das Wesen von Zeit und Erinnerung, Liebe und Tod.
Ein Paar kehrt zurück an den Ort, den es in der ersten Zeit junger Liebe als magisch empfunden hat, doch die Beschwörung alten Glücks misslingt. Jule beibt nach einem Bad im Meer verschwunden und Arnold glaubt an Selbstmord. Später steht Jule plötzlich neben ihm, bereit für den Wiederbelebungsversuch ihrer Liebe, der die beiden hierher geführt hatte. Doch Arnold wird sich nicht verzeihen können, dass er sich leichteren Herzens mit dem Tod seiner Frau abgefunden hätte als dem Ende ihrer Beziehung. Es ist ein großes Thema, das Fridolin Schley in seinen neuen Erzählungen umkreist, vanitas vanitatum könnte über jeder der verblüffend reifen Geschichten dieses jungen Autors stehen: Ob in einer denkwürdigen Nacht im abriss-geweihten Palast der Republik oder der heimlichen Manipulation einer fremden Dreiecksbeziehung am Computer der Unibibliothek - stets ist der Autor der Vergänglichkeit auf der Spur und unseren sonderbaren Bemühungen, ihr zu entgehen. Fridolin Schleys erzählerische Souveränität ist beeindruckend, und sein verführerisches Spiel mit der Grenzüberschreitung vom Beobachter zum Voyeur verleiht diesen Erzählungen einen ganz besonderen Reiz.
Ein Paar kehrt zurück an den Ort, den es in der ersten Zeit junger Liebe als magisch empfunden hat, doch die Beschwörung alten Glücks misslingt. Jule beibt nach einem Bad im Meer verschwunden und Arnold glaubt an Selbstmord. Später steht Jule plötzlich neben ihm, bereit für den Wiederbelebungsversuch ihrer Liebe, der die beiden hierher geführt hatte. Doch Arnold wird sich nicht verzeihen können, dass er sich leichteren Herzens mit dem Tod seiner Frau abgefunden hätte als dem Ende ihrer Beziehung. Es ist ein großes Thema, das Fridolin Schley in seinen neuen Erzählungen umkreist, vanitas vanitatum könnte über jeder der verblüffend reifen Geschichten dieses jungen Autors stehen: Ob in einer denkwürdigen Nacht im abriss-geweihten Palast der Republik oder der heimlichen Manipulation einer fremden Dreiecksbeziehung am Computer der Unibibliothek - stets ist der Autor der Vergänglichkeit auf der Spur und unseren sonderbaren Bemühungen, ihr zu entgehen. Fridolin Schleys erzählerische Souveränität ist beeindruckend, und sein verführerisches Spiel mit der Grenzüberschreitung vom Beobachter zum Voyeur verleiht diesen Erzählungen einen ganz besonderen Reiz.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2007Schulschwänzer auf Lebenszeit
Mit Präzision am Ziel vorbei: Fridolin Schleys Erzählungsband
Vielleicht möchte Fridolin Schley die Helden seiner Erzählungen schonen. Er hüllt sie ein in eine schützende Lethargie und erspart ihnen so die Berührung mit der Wirklichkeit. Oder unterzieht er sie etwa einer raffinierten Marter? Denn er gönnt ihnen weder Lebendigkeit noch Spontaneität, weder Freude noch die Wehmut zerplatzender Träume. Seine Figuren lachen, lieben und küssen nicht. Aber sie lesen, lauschen fremden Geschichten, studieren das Leben mit Hilfe von Bildern, Filmen und Büchern. Sie verbringen viel Zeit an der Uni, träumen davon, zu schreiben oder Dokumentarfilme zu drehen. Sie reisen ein kleines bisschen in der Welt herum, schließen seltsame Bekanntschaften, etwa mit einem alten Mann, der sich seit fast vierzig Jahren von den Freimaurern durchfüttern lässt, und haben alles in allem keine großen Sorgen.
Von den Schattenseiten des Ehelebens erfährt ein junger Verlagsvolontär aus einem Manuskript, aus zweiter Hand also. Und der Ich-Erzähler der Titelgeschichte "Wildes schönes Tier" verschwendet keinen Gedanken daran, die Studentin, in die er sich in der Seminarbibliothek verguckt hat, anzusprechen. Lieber durchstöbert er heimlich an ihrem Notebook ihre Mails. Ein wenig erinnern sie an Schulschwänzer, diese handlungsscheuen Figuren, die am Leben nicht teilnehmen möchten. Ihre Verweigerungshaltung ist nicht durchdacht oder philosophisch grundiert, keine Pose, kein Signum der Verzweiflung, sondern Resultat einer unüberwindbaren Schläfrigkeit.
Der junge Autor macht es seinen Lesern nicht leicht. Er zwingt sie in eine vor Bedeutsamkeit erstarrte Welt hinein. In Schleys literarischem Kosmos wundert sich niemand darüber, wenn die Natur plötzlich beschließt, eine Stadt zurückzuerobern ("Landerhebung"). Über München legt sich eine Moosschicht, Prachtstraßen und Bushaltestellen verschwinden unter Kletterpflanzen und sprießendem Unkraut. Die Einwohner wehren sich nicht "gegen den Griff der Wildnis nach der Stadt", sondern vergessen zu essen und sterben. Zu grell ist die Metaphorik, als dass man sie entschlüsseln wollte. Aber ob in München oder Berlin: überall spürt man die Provinzialität allzu träger Gemüter.
Schley, der bisher den Roman "Verloren, mein Vater" (2001) und den Geschichtenband "Schwimmbadsommer" (2003) veröffentlicht hat, kann zweifellos schreiben. Er pflegt einen distanzierten Sprachduktus von herber Präzision. Und doch wünscht man sich von dem studierten Germanisten, Jahrgang 1976, weniger Kunstanstrengung, weniger Ernsthaftigkeit und stattdessen einen entschlosseneren Griff nach der Welt. Die sechs Erzählungen seines neuen Bands stellen sich nicht der Wirklichkeit, sondern zitieren sie und konstruieren ein Leben zweiten Grades. Ohne es zu wollen, liefert der Autor die Diagnose gleich mit: Beim Schreiben laufe man Gefahr, "mit Präzision am Leben vorbeizuzielen", heißt es in einer Erzählung. Unweigerlich neigt man dazu, diese Geschichten als eine eskapistische Generationenliteratur zu lesen, und fragt sich, warum die heute Dreißigjährigen authentische Erfahrungen so sehr fürchten.
ANDREA NEUHAUS
Fridolin Schley: "Wildes schönes Tier". Erzählungen. Berlin Verlag, Berlin 2007. 139 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit Präzision am Ziel vorbei: Fridolin Schleys Erzählungsband
Vielleicht möchte Fridolin Schley die Helden seiner Erzählungen schonen. Er hüllt sie ein in eine schützende Lethargie und erspart ihnen so die Berührung mit der Wirklichkeit. Oder unterzieht er sie etwa einer raffinierten Marter? Denn er gönnt ihnen weder Lebendigkeit noch Spontaneität, weder Freude noch die Wehmut zerplatzender Träume. Seine Figuren lachen, lieben und küssen nicht. Aber sie lesen, lauschen fremden Geschichten, studieren das Leben mit Hilfe von Bildern, Filmen und Büchern. Sie verbringen viel Zeit an der Uni, träumen davon, zu schreiben oder Dokumentarfilme zu drehen. Sie reisen ein kleines bisschen in der Welt herum, schließen seltsame Bekanntschaften, etwa mit einem alten Mann, der sich seit fast vierzig Jahren von den Freimaurern durchfüttern lässt, und haben alles in allem keine großen Sorgen.
Von den Schattenseiten des Ehelebens erfährt ein junger Verlagsvolontär aus einem Manuskript, aus zweiter Hand also. Und der Ich-Erzähler der Titelgeschichte "Wildes schönes Tier" verschwendet keinen Gedanken daran, die Studentin, in die er sich in der Seminarbibliothek verguckt hat, anzusprechen. Lieber durchstöbert er heimlich an ihrem Notebook ihre Mails. Ein wenig erinnern sie an Schulschwänzer, diese handlungsscheuen Figuren, die am Leben nicht teilnehmen möchten. Ihre Verweigerungshaltung ist nicht durchdacht oder philosophisch grundiert, keine Pose, kein Signum der Verzweiflung, sondern Resultat einer unüberwindbaren Schläfrigkeit.
Der junge Autor macht es seinen Lesern nicht leicht. Er zwingt sie in eine vor Bedeutsamkeit erstarrte Welt hinein. In Schleys literarischem Kosmos wundert sich niemand darüber, wenn die Natur plötzlich beschließt, eine Stadt zurückzuerobern ("Landerhebung"). Über München legt sich eine Moosschicht, Prachtstraßen und Bushaltestellen verschwinden unter Kletterpflanzen und sprießendem Unkraut. Die Einwohner wehren sich nicht "gegen den Griff der Wildnis nach der Stadt", sondern vergessen zu essen und sterben. Zu grell ist die Metaphorik, als dass man sie entschlüsseln wollte. Aber ob in München oder Berlin: überall spürt man die Provinzialität allzu träger Gemüter.
Schley, der bisher den Roman "Verloren, mein Vater" (2001) und den Geschichtenband "Schwimmbadsommer" (2003) veröffentlicht hat, kann zweifellos schreiben. Er pflegt einen distanzierten Sprachduktus von herber Präzision. Und doch wünscht man sich von dem studierten Germanisten, Jahrgang 1976, weniger Kunstanstrengung, weniger Ernsthaftigkeit und stattdessen einen entschlosseneren Griff nach der Welt. Die sechs Erzählungen seines neuen Bands stellen sich nicht der Wirklichkeit, sondern zitieren sie und konstruieren ein Leben zweiten Grades. Ohne es zu wollen, liefert der Autor die Diagnose gleich mit: Beim Schreiben laufe man Gefahr, "mit Präzision am Leben vorbeizuzielen", heißt es in einer Erzählung. Unweigerlich neigt man dazu, diese Geschichten als eine eskapistische Generationenliteratur zu lesen, und fragt sich, warum die heute Dreißigjährigen authentische Erfahrungen so sehr fürchten.
ANDREA NEUHAUS
Fridolin Schley: "Wildes schönes Tier". Erzählungen. Berlin Verlag, Berlin 2007. 139 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Beeindruckend ausgereifte Prosa." - NZZ ÜBER 'VERLOREN, MEIN VATER'.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.11.2007Wuseln und Gruseln
Fridolin Schleys Erzählungsband „Wildes schönes Tier” reanimiert den Geist der Schauerromantik
Es gehört zu den Vorzügen von Fridolin Schleys Erzählungen, dass sie den Leser hellhörig machen. Könnte es sein, dass uns ein versteckter Fingerzeig entgangen ist, der für das Verständnis des Ganzen unerlässlich ist? Weil man diese kurzen Geschichten erst mit Neugier und dann mit einem Heißhunger auf die Auflösung der gestellten Rätsel (oder eine neue Runde der Verrätselung) liest, fällt auch dem unachtsamen Leser eines auf: Wie erklärt es sich, dass gleich zweimal auf den wenigen Seiten dieses Buches das „Stockholm-Syndrom” auftaucht? Es hat seinen Namen von einem Überfall auf eine Stockholmer Bank im Sommer 1973, der in eine Geiselnahme mündete, bei der sich zwischen Geiseln und Geiselnehmern ein freundschaftliches Verhältnis entwickelte. Es ging so weit, dass sich die Geiseln nach Freilassung bei ihren Peinigern bedankten und sie später sogar im Gefängnis besuchten.
„Unannehmlichkeiten durch Liebe” heißt die erste, längste und interessanteste Erzählung dieses Bandes, und irgendwie klingt in ihr das Stockholm-Syndrom bereits im Titel an – auch wenn dann eher von „Liebe trotz Unannehmlichkeiten” gesprochen werden müsste. Fridolin Schley, Jahrgang 1976, hat in seinem dritten Buch einen eigenen Erzählton gefunden, für den beispielhaft der Einleitungssatz der genannten Erzählung stehen kann: „Durch einen günstigen Zufall hatte ich, nachdem ein längerer Auslandsaufenthalt auf beunruhigende und übereilte Weise zu Ende gegangen war, ohne größeren Bewerbungsaufwand eine Anstellung als Volontär im Lektorat eines angesehenen Buchverlages gefunden.” So ähnlich fangen auch die anderen Erzählungen an: alltäglich und konkret, dabei eine längere und offenbar mysteriöse Vorgeschichte raffend und auf ein noch größeres Mysterium dezent vorgreifend.
Der erste Satz öffnet den Raum einer befremdlichen Begebenheit, und er tut dies mit einer gewissen – spannungsfördernden – Umständlichkeit. Also: der junge Volontär widmet sich mit Feuereifer der Durchsicht unbrauchbarer Texte, bis ihn eines Tages das Manuskript eines gewissen Arnold Brand erreicht, „Unannehmlichkeiten durch Liebe” betitelt, ein eng beschriebener Stapel Papier, in den Fotos eingefügt sind, als wär’s ein Text von W.G. Sebald. „Dem Roman als Motto vorangestellt war eine wissenschaftliche Definition des sogenannten Stockholm-Syndroms”, lesen wir, und tatsächlich handelt der Roman in der Erzählung von einer sozusagen ins Privatleben verlegten Version jenes Syndroms: Ein Mann entführt seine Frau, um auf diese Weise ihre Liebe neu zu entfachen.
Der junge Lektor ist verzaubert von diesem sonderbaren Text, in dem er eine Allegorie des Schreibens selbst erkennen will. „,Unannehmlichkeiten durch Liebe‘ beschrieb, wollte man es in einem Satz sagen, wie Liebe entsteht und wie sie die Erinnerung und die Wahrnehmung prägt, doch beschrieben wurde das eben nicht, sondern gezeigt, durch die Beweglichkeit der Sprache selbst, unmittelbar ausgestellt im Text selbst.” „Metafiktional” will der Lektor dieses Erzählprinzip in seinem Klappentext nennen, aber es wird keinen Klappentext geben und kein Buch, statt dessen einen rätselhaften Briefwechsel zwischen dem Autor und seinem Lektor. Statt zum Buchprojekt entwickelt sich das Manuskript zunehmend zum Gegenstand einer inner- wie außerliterarischen Obsession. Und statt auf die praktischen Fragen seines Lektors zu antworten, erzählt Arnold Brand in seinen Antwortbriefen unaufgefordert aus seinem Leben.
Arnold Brand, so stellt sich heraus, ist niemand anders als Rolf Dieter Brinkmann, aber nicht der Brinkmann, der 1975 in London von einem Auto überfahren wurde, sondern ein alter ego, das sich von einem 1975 in London erlittenen Autounfall erholte und fortan weiter schrieb. Man weiß nicht, wie groß dieser metafiktionale Brand als Autor ist – wenn er schreibt, er habe „Strände gewissermaßen als Zauberorte empfunden, so groß sei das Gefühl der Entspannung”, stellt sich der Eindruck von Größe nicht recht ein. Man registriert an Schleys Erzählung die Anstrengung und das Problem, einen bedeutenden Autor zu erfinden – es ist nicht leichter, als ein bedeutender Autor zu sein. Sein Manuskript beruhe auf zwei tatsächlichen Reisen mit seiner Frau, lässt Brand den Lektor wissen, und auf einer dieser Reisen an die portugiesische Küste sei etwas passiert, das die Beziehung zu ihr für immer zerrüttet habe. Plötzlich ist seine Frau verschwunden, sie scheint beim Baden ertrunken zu sein, er glaubt an Selbstmord, und ebenso plötzlich steht seine Frau wieder vor ihm, und was der Mann in diesem Moment erlebt, ist nicht Erleichterung, sondern „Enttäuschung, ja blankes Entsetzen”. Und was hat das mit dem Stockholm-Syndrom zu tun? Oder wie müsste man das Syndrom nennen, von dem hier die Rede ist? Der Lektor jedenfalls schreibt dem Autor einen Formbrief, und zwar mit einer Absage.
„Unannehmlichkeiten durch Liebe”, darum geht es öfter in diesen Erzählungen, etwa in „Wildes schönes Tier”, worin sich ein von seiner Bibliotheksnachbarin verzauberter Philologiestudent in deren Mailwechsel mit einer Freundin über ihren Freund und einen neu hinzu gekommenen Verehrer einschleicht. „Stendhal, Stockholm” heißt eine andere Erzählung, in der schon der Titel aufs Neue das Stockholm-Syndrom ins Spiel bringt; und auch hier geht es wieder um einen jungen, klugen, verträumten Mann, der wie durch eine Drehtür in unvertraute, ja unheimliche Welten eintaucht. In London öffnet sich knarrend eine Kirchentür, und schon tun sich Einblicke in die Geheimnisse des englischen Freimaurerordens auf, und es geschieht von diesem Augenblick an einiges an Merkwürdigkeiten bis zu dem Schlusssatz, der wie folgt lautet: „Denn schon seit Minuten und in allen Einzelheiten stelle er sich vor, mir das Gesicht zu zertrümmern, ich solle an seinen Kräften lieber nicht zweifeln, sondern bei meinem Leben versprechen, niemals, niemals wiederzukehren.” Es ist der Geist der Schauerromantik, einer ins Zeitgenössische überführten, in alten und neuen Medien beschlagenen Schauerromantik, den Fridolin Schley in diesen eindringlichen Erzählungen wachruft. CHRISTOPH BARTMANN
Fridolin Schley
Wildes schönes Tier
Erzählungen. Berlin Verlag, Berlin 2007. 142 Seiten, 18 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Fridolin Schleys Erzählungsband „Wildes schönes Tier” reanimiert den Geist der Schauerromantik
Es gehört zu den Vorzügen von Fridolin Schleys Erzählungen, dass sie den Leser hellhörig machen. Könnte es sein, dass uns ein versteckter Fingerzeig entgangen ist, der für das Verständnis des Ganzen unerlässlich ist? Weil man diese kurzen Geschichten erst mit Neugier und dann mit einem Heißhunger auf die Auflösung der gestellten Rätsel (oder eine neue Runde der Verrätselung) liest, fällt auch dem unachtsamen Leser eines auf: Wie erklärt es sich, dass gleich zweimal auf den wenigen Seiten dieses Buches das „Stockholm-Syndrom” auftaucht? Es hat seinen Namen von einem Überfall auf eine Stockholmer Bank im Sommer 1973, der in eine Geiselnahme mündete, bei der sich zwischen Geiseln und Geiselnehmern ein freundschaftliches Verhältnis entwickelte. Es ging so weit, dass sich die Geiseln nach Freilassung bei ihren Peinigern bedankten und sie später sogar im Gefängnis besuchten.
„Unannehmlichkeiten durch Liebe” heißt die erste, längste und interessanteste Erzählung dieses Bandes, und irgendwie klingt in ihr das Stockholm-Syndrom bereits im Titel an – auch wenn dann eher von „Liebe trotz Unannehmlichkeiten” gesprochen werden müsste. Fridolin Schley, Jahrgang 1976, hat in seinem dritten Buch einen eigenen Erzählton gefunden, für den beispielhaft der Einleitungssatz der genannten Erzählung stehen kann: „Durch einen günstigen Zufall hatte ich, nachdem ein längerer Auslandsaufenthalt auf beunruhigende und übereilte Weise zu Ende gegangen war, ohne größeren Bewerbungsaufwand eine Anstellung als Volontär im Lektorat eines angesehenen Buchverlages gefunden.” So ähnlich fangen auch die anderen Erzählungen an: alltäglich und konkret, dabei eine längere und offenbar mysteriöse Vorgeschichte raffend und auf ein noch größeres Mysterium dezent vorgreifend.
Der erste Satz öffnet den Raum einer befremdlichen Begebenheit, und er tut dies mit einer gewissen – spannungsfördernden – Umständlichkeit. Also: der junge Volontär widmet sich mit Feuereifer der Durchsicht unbrauchbarer Texte, bis ihn eines Tages das Manuskript eines gewissen Arnold Brand erreicht, „Unannehmlichkeiten durch Liebe” betitelt, ein eng beschriebener Stapel Papier, in den Fotos eingefügt sind, als wär’s ein Text von W.G. Sebald. „Dem Roman als Motto vorangestellt war eine wissenschaftliche Definition des sogenannten Stockholm-Syndroms”, lesen wir, und tatsächlich handelt der Roman in der Erzählung von einer sozusagen ins Privatleben verlegten Version jenes Syndroms: Ein Mann entführt seine Frau, um auf diese Weise ihre Liebe neu zu entfachen.
Der junge Lektor ist verzaubert von diesem sonderbaren Text, in dem er eine Allegorie des Schreibens selbst erkennen will. „,Unannehmlichkeiten durch Liebe‘ beschrieb, wollte man es in einem Satz sagen, wie Liebe entsteht und wie sie die Erinnerung und die Wahrnehmung prägt, doch beschrieben wurde das eben nicht, sondern gezeigt, durch die Beweglichkeit der Sprache selbst, unmittelbar ausgestellt im Text selbst.” „Metafiktional” will der Lektor dieses Erzählprinzip in seinem Klappentext nennen, aber es wird keinen Klappentext geben und kein Buch, statt dessen einen rätselhaften Briefwechsel zwischen dem Autor und seinem Lektor. Statt zum Buchprojekt entwickelt sich das Manuskript zunehmend zum Gegenstand einer inner- wie außerliterarischen Obsession. Und statt auf die praktischen Fragen seines Lektors zu antworten, erzählt Arnold Brand in seinen Antwortbriefen unaufgefordert aus seinem Leben.
Arnold Brand, so stellt sich heraus, ist niemand anders als Rolf Dieter Brinkmann, aber nicht der Brinkmann, der 1975 in London von einem Auto überfahren wurde, sondern ein alter ego, das sich von einem 1975 in London erlittenen Autounfall erholte und fortan weiter schrieb. Man weiß nicht, wie groß dieser metafiktionale Brand als Autor ist – wenn er schreibt, er habe „Strände gewissermaßen als Zauberorte empfunden, so groß sei das Gefühl der Entspannung”, stellt sich der Eindruck von Größe nicht recht ein. Man registriert an Schleys Erzählung die Anstrengung und das Problem, einen bedeutenden Autor zu erfinden – es ist nicht leichter, als ein bedeutender Autor zu sein. Sein Manuskript beruhe auf zwei tatsächlichen Reisen mit seiner Frau, lässt Brand den Lektor wissen, und auf einer dieser Reisen an die portugiesische Küste sei etwas passiert, das die Beziehung zu ihr für immer zerrüttet habe. Plötzlich ist seine Frau verschwunden, sie scheint beim Baden ertrunken zu sein, er glaubt an Selbstmord, und ebenso plötzlich steht seine Frau wieder vor ihm, und was der Mann in diesem Moment erlebt, ist nicht Erleichterung, sondern „Enttäuschung, ja blankes Entsetzen”. Und was hat das mit dem Stockholm-Syndrom zu tun? Oder wie müsste man das Syndrom nennen, von dem hier die Rede ist? Der Lektor jedenfalls schreibt dem Autor einen Formbrief, und zwar mit einer Absage.
„Unannehmlichkeiten durch Liebe”, darum geht es öfter in diesen Erzählungen, etwa in „Wildes schönes Tier”, worin sich ein von seiner Bibliotheksnachbarin verzauberter Philologiestudent in deren Mailwechsel mit einer Freundin über ihren Freund und einen neu hinzu gekommenen Verehrer einschleicht. „Stendhal, Stockholm” heißt eine andere Erzählung, in der schon der Titel aufs Neue das Stockholm-Syndrom ins Spiel bringt; und auch hier geht es wieder um einen jungen, klugen, verträumten Mann, der wie durch eine Drehtür in unvertraute, ja unheimliche Welten eintaucht. In London öffnet sich knarrend eine Kirchentür, und schon tun sich Einblicke in die Geheimnisse des englischen Freimaurerordens auf, und es geschieht von diesem Augenblick an einiges an Merkwürdigkeiten bis zu dem Schlusssatz, der wie folgt lautet: „Denn schon seit Minuten und in allen Einzelheiten stelle er sich vor, mir das Gesicht zu zertrümmern, ich solle an seinen Kräften lieber nicht zweifeln, sondern bei meinem Leben versprechen, niemals, niemals wiederzukehren.” Es ist der Geist der Schauerromantik, einer ins Zeitgenössische überführten, in alten und neuen Medien beschlagenen Schauerromantik, den Fridolin Schley in diesen eindringlichen Erzählungen wachruft. CHRISTOPH BARTMANN
Fridolin Schley
Wildes schönes Tier
Erzählungen. Berlin Verlag, Berlin 2007. 142 Seiten, 18 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wohlwollend betrachtet Rezensentin Andrea Neuhaus diese Erzählungen von Fridolin Schley, auch wenn sie nicht wirklich glücklich damit wird. Sie attestiert dem jungen Autor, ohne Zweifel schreiben zu können, und lobt seinen "distanzierten Sprachduktus von herber Präzision". Dennoch vermisst sie etwas bei diesen Erzählungen über Menschen um die dreißig, die am Leben vorbeileben, Handeln vermeiden, nicht teilnehmen, sich verweigern: Lebendigkeit und Spontaneität. Die Metaphern, die Schley gebraucht, scheinen ihr zu "grell", als dass sie Lust hätte, sie zu entschlüsseln. Weniger "Kunstanstrengung" und Ernsthaftigkeit wünschte sie sich, und stattdessen einen beherzteren Zugriff auf die Wirklichkeit. So hält sie den sechs Erzählungen des Bands vor, sich nicht der Wirklichkeit zu stellen, sondern "ein Leben zweiten Grades" zu zitieren. So kommt sie nicht umhin, Schleys Geschichten als "eskapistische Generationenliteratur" zu lesen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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