Goethes Wilhelm Meister-Romane haben in der Geschichte der deutschen Erzählprosa Epoche geschrieben. Heute gelten sie als bahnbrechend für die literarische Moderne. Bereits kurz nach ihrer Veröffentlichung im Jahr 1774 wurden sie mit einem Schlag zur Weltliteratur. Es heißt, Napoleon habe Wilhelm Meister siebenmal gelesen und in seiner Feldbibliothek mitgeführt. Erzählt wird die Geschichte von Wilhelm Meister, der gegen den Willen seiner Eltern die individuelle Erfüllung in der Welt des Theaters sucht. Meisterhaft demonstriert Goethe über seine autobiographische Figur das Ringen des Individuums um Erfüllung, Glück und Freiheit im Korsett von Schicksal und Gesellschaft.
Goethes bedeutender zweiteiliger Sozialroman in einem Band.
Goethes bedeutender zweiteiliger Sozialroman in einem Band.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.12.19971795
Johann Wolfgang Goethe "Wilhelm Meisters Lehrjahre"
"Endlich", schreibt er an Schiller in diesem Jahr, "endlich kommt das erste Buch von Wilhelm Schüler, der, ich weiß nicht wie, den Namen Meister erwischt hat . . .", und Schiller schreibt zurück: "Mit wahrer herzens-Lust habe ich das erste Buch Wilhelm Meisters durchlesen und verschlungen, und ich danke demselben einen Genuß, wie ich lange nicht und nie als durch Sie gehabt habe . . ." - die Großen unter sich, "erwischt", "verschlungen", Kinder derselben Muse, derselben Verrücktheit des Schreibens, des Lesens. "Endlich" sagt er, er sagt es wie erlöst aufseufzend nach beinahe zwanzig Jahren: bald nach seiner Ankunft in Weimar, eben 1775, hatte er mit dem Buch angefangen, nach zehn Jahren hatte er's seufzend weggelegt und war nach Italien gegangen, dann hatte er's liegenlassen, nach Jahren wiederaufgenommen, alles neu angefangen, und nun, endlich, war es soweit, die Welt würde staunen, und sie tat es, mit Schiller angefangen. Von Mariane an, die süß einschläft, als ihr junger Geliebter ihr seine Jugend erzählt, über Mignon, das singende undurchschaubare Ding, das nach Italien möchte, und Philine, die ihn liebt und fragt, was ihn das denn angehe, daß sie ihn liebe, und Arelie, die ihn mit einem Dolch zeichnet, bis hin zu jener, die einmal von einem Schimmel herab, als er verwundet in Philines Armen am Waldrand erwacht, auf ihn herabblickt, "er glaubte nie etwas edleres noch liebenswürdigeres gesehn zu haben" - wem so viele (Lydie und vor allem Therese - ein Seufzer erweiterte ihre Brust, heißt es einmal von dieser - habe ich gar nicht gezählt) immer ihm wohlwollende Frauen zur Seite sind, die allerverschiedensten auch noch, so daß er sich bildet und entwickelt wie mühelos, mit dem sind alle Götter; dreimal glücklich, heißt es denn auch einmal, dreimal glücklich seien diejenigen zu preisen, die so von Anfang an hinausgehoben seien über die andern. Am Schluß hat Wilhelm auch noch einen Sohn, von seiner allerersten Geliebten (die freilich leider sterben muß wie Mignon, allzu wenig beklagt beinahe, wie Schiller fand); "komm, o komm", ruft er dann, der Sohn, "sieh die schönen Wolken!" (Goethe: "Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman". Viele Ausgaben, gründlich kommentiert in "Goethes Sämtlichen Werken", I. Abteilung, Band 9, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1992, geb., 198,- DM, und in "Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens", Band 5, Hanser Verlag, München 1988, geb., Subskr.-Pr. 63,- DM.) R.V.
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Johann Wolfgang Goethe "Wilhelm Meisters Lehrjahre"
"Endlich", schreibt er an Schiller in diesem Jahr, "endlich kommt das erste Buch von Wilhelm Schüler, der, ich weiß nicht wie, den Namen Meister erwischt hat . . .", und Schiller schreibt zurück: "Mit wahrer herzens-Lust habe ich das erste Buch Wilhelm Meisters durchlesen und verschlungen, und ich danke demselben einen Genuß, wie ich lange nicht und nie als durch Sie gehabt habe . . ." - die Großen unter sich, "erwischt", "verschlungen", Kinder derselben Muse, derselben Verrücktheit des Schreibens, des Lesens. "Endlich" sagt er, er sagt es wie erlöst aufseufzend nach beinahe zwanzig Jahren: bald nach seiner Ankunft in Weimar, eben 1775, hatte er mit dem Buch angefangen, nach zehn Jahren hatte er's seufzend weggelegt und war nach Italien gegangen, dann hatte er's liegenlassen, nach Jahren wiederaufgenommen, alles neu angefangen, und nun, endlich, war es soweit, die Welt würde staunen, und sie tat es, mit Schiller angefangen. Von Mariane an, die süß einschläft, als ihr junger Geliebter ihr seine Jugend erzählt, über Mignon, das singende undurchschaubare Ding, das nach Italien möchte, und Philine, die ihn liebt und fragt, was ihn das denn angehe, daß sie ihn liebe, und Arelie, die ihn mit einem Dolch zeichnet, bis hin zu jener, die einmal von einem Schimmel herab, als er verwundet in Philines Armen am Waldrand erwacht, auf ihn herabblickt, "er glaubte nie etwas edleres noch liebenswürdigeres gesehn zu haben" - wem so viele (Lydie und vor allem Therese - ein Seufzer erweiterte ihre Brust, heißt es einmal von dieser - habe ich gar nicht gezählt) immer ihm wohlwollende Frauen zur Seite sind, die allerverschiedensten auch noch, so daß er sich bildet und entwickelt wie mühelos, mit dem sind alle Götter; dreimal glücklich, heißt es denn auch einmal, dreimal glücklich seien diejenigen zu preisen, die so von Anfang an hinausgehoben seien über die andern. Am Schluß hat Wilhelm auch noch einen Sohn, von seiner allerersten Geliebten (die freilich leider sterben muß wie Mignon, allzu wenig beklagt beinahe, wie Schiller fand); "komm, o komm", ruft er dann, der Sohn, "sieh die schönen Wolken!" (Goethe: "Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman". Viele Ausgaben, gründlich kommentiert in "Goethes Sämtlichen Werken", I. Abteilung, Band 9, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1992, geb., 198,- DM, und in "Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens", Band 5, Hanser Verlag, München 1988, geb., Subskr.-Pr. 63,- DM.) R.V.
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