Dem Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre lässt Goethe 1821 eine in ihrem Reichtum an literarischen Formen und Reflexionen bis heute nicht ausgedeutete Fortsetzung folgen, in der er seinen Protagonisten gemeinsam mit dessen Sohn Felix auf Wanderschaft schickt. Die ereignisreiche Bildungsreise endet mit dem Entschluss Wilhelms, eine praktische Ausbildung zum Arzt zu machen und dem Wohl der Gesellschaft zu dienen.
Der Band bietet den Text der 1829 erschienenen vom Autor stark überarbeiteten Fassung sowie die einleitenden Gedichte und Sprüche der ersten Fassung.
Der Band bietet den Text der 1829 erschienenen vom Autor stark überarbeiteten Fassung sowie die einleitenden Gedichte und Sprüche der ersten Fassung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.05.19971828
Goethe "Wilhelm Meisters Wanderjahre"
Goethe war jetzt neunundsiebzig und hatte (nur der rätselschöne Faust II war noch nicht fertig) eigentlich alles gemacht, Sachen darunter, an die keiner auch nur gedacht hätte außer ihm, abgesehn also von allem, was sonst kaum einer für möglich gehalten hätte. Über ein halbes Jahrhundert zurück hatte er seinen Wilhelm ins Romandasein gerufen, zwanzig Jahre später war ein großer Roman daraus geworden, ein glanzvolles Gemisch aus Liebe und Theater und Italien und Bürgerlichkeit und Adel und allem. Zehn Jahre später hatte er weitergemacht, hatte für ein Dutzend Jahre wieder aufgehört, dann, jetzt, acht Jahre zurück, war so etwas wie ein Anfang einer Fortsetzung erschienen; nun hatte er das Gewebe wieder aufgelöst (ein Gewebe jetzt mehr aus Erzählhaltungen und Textsorten als mehr als dreißig Jahre vorher dies Gemisch aus erzählten Sachen), und dann hatte er es, endgültig nun, wieder zusammengesetzt, ergänzt, weitergesponnen, neu verknüpft - eine Lebensgeschichte derart, daß man denkt, der Roman überhaupt, als Gattung, fange, noch einmal nach Laurence Sterne, mit der reinsten und verwirrend-schönsten und zugleich völlig durchsichtig-klaren Unmöglichkeit an, überhaupt loszuerzählen wie alle andern davor und vor allem dann danach: das hat den Roman am stärksten am Leben gehalten, daß seine Unmöglichkeit sein Leben war.
Am Schluß von Goethes Roman jetzt fällt einer von einem abbröckelnden Flußufer samt Pferd herab ins Wasser, Wilhelm (es ist sein Sohn, der da herabkommt, später umarmen sie sich, "wie Kastor und Pollux, Brüder die sich auf dem Wechselweg vom Orkus zum Licht begegnen"), Wilhelm also, Arzt jetzt, öffnet ihm, der wie tot daliegt, mit einer Lanzette die Ader, und das Blut, so heißt es nun, "sprang reichlich hervor und mit der schlängelnd spielenden Welle vermischt folgte es gekreiselt dem Strome nach" - wie auserzählt mischt er sich da schlängelnd spielend gekreiselt weg aus dem Roman, aber wenn der stromab gelockte Leserblick wieder zurückkehrt, steht und liegt der junge Herabgefallene doch wieder schön da, seine Wangen röten sich, und nur der Roman ist zu Ende; freilich, nur dieser eine. (Johann Wolfgang Goethe: "Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden". Herausgegeben von Gerhard Neumann und Hans-Georg Dewitz. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1989. 1347 S., geb., 172,- DM - beide Fassungen, gründlich kommentiert; die zweite Fassung allein preiswert sonst bei Aufbau, Insel, Reclam.) R.V.
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Goethe "Wilhelm Meisters Wanderjahre"
Goethe war jetzt neunundsiebzig und hatte (nur der rätselschöne Faust II war noch nicht fertig) eigentlich alles gemacht, Sachen darunter, an die keiner auch nur gedacht hätte außer ihm, abgesehn also von allem, was sonst kaum einer für möglich gehalten hätte. Über ein halbes Jahrhundert zurück hatte er seinen Wilhelm ins Romandasein gerufen, zwanzig Jahre später war ein großer Roman daraus geworden, ein glanzvolles Gemisch aus Liebe und Theater und Italien und Bürgerlichkeit und Adel und allem. Zehn Jahre später hatte er weitergemacht, hatte für ein Dutzend Jahre wieder aufgehört, dann, jetzt, acht Jahre zurück, war so etwas wie ein Anfang einer Fortsetzung erschienen; nun hatte er das Gewebe wieder aufgelöst (ein Gewebe jetzt mehr aus Erzählhaltungen und Textsorten als mehr als dreißig Jahre vorher dies Gemisch aus erzählten Sachen), und dann hatte er es, endgültig nun, wieder zusammengesetzt, ergänzt, weitergesponnen, neu verknüpft - eine Lebensgeschichte derart, daß man denkt, der Roman überhaupt, als Gattung, fange, noch einmal nach Laurence Sterne, mit der reinsten und verwirrend-schönsten und zugleich völlig durchsichtig-klaren Unmöglichkeit an, überhaupt loszuerzählen wie alle andern davor und vor allem dann danach: das hat den Roman am stärksten am Leben gehalten, daß seine Unmöglichkeit sein Leben war.
Am Schluß von Goethes Roman jetzt fällt einer von einem abbröckelnden Flußufer samt Pferd herab ins Wasser, Wilhelm (es ist sein Sohn, der da herabkommt, später umarmen sie sich, "wie Kastor und Pollux, Brüder die sich auf dem Wechselweg vom Orkus zum Licht begegnen"), Wilhelm also, Arzt jetzt, öffnet ihm, der wie tot daliegt, mit einer Lanzette die Ader, und das Blut, so heißt es nun, "sprang reichlich hervor und mit der schlängelnd spielenden Welle vermischt folgte es gekreiselt dem Strome nach" - wie auserzählt mischt er sich da schlängelnd spielend gekreiselt weg aus dem Roman, aber wenn der stromab gelockte Leserblick wieder zurückkehrt, steht und liegt der junge Herabgefallene doch wieder schön da, seine Wangen röten sich, und nur der Roman ist zu Ende; freilich, nur dieser eine. (Johann Wolfgang Goethe: "Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden". Herausgegeben von Gerhard Neumann und Hans-Georg Dewitz. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1989. 1347 S., geb., 172,- DM - beide Fassungen, gründlich kommentiert; die zweite Fassung allein preiswert sonst bei Aufbau, Insel, Reclam.) R.V.
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