"Bernd Willenbrock führt im Berlin der späten neunziger Jahre erfolgreich einen Gebrauchtwagenhandel; auch im Privaten scheint alles zu stimmen. Dass der abgezäunte Platz mit den Fahrzeugen irgendwann Ziel eines nächtlichen Diebstahls wird, überrascht den Besitzer kaum. Auch der nächste Diebstahl, besser: Raubüberfall, lässt sich nicht aufklären; Behördliche Hilfe allerdings bleibt Willenbrock auch bei anderer Gelegenheit versagt, etwa als er um Baugenehmigungen zur Erweiterung seines Geschäfts ersucht oder, gravierender noch: als er und seine Frau im Wochenendhaus überfallen werden. Alle Sicherheiten des zivilisierten Lebens rutschen erst unmerklich und dann unübersehbar weg. Hinter vermeintlich geordneten Verhältnissen wird ein Dschungel sichtbar, in dem keine Regel mehr gilt außer: Hilf dir selbst! Willenbrock gerät schließlich in einen Strudel, in dem alles zur Bedrohung wird und ein Revolver wie ein Zeitzünder irgendwann losgehen muss."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.04.2000Teufelspakt mit einem Zivilisten
Von heute an im Vorabdruck: "Willenbrock", der neue Roman von Christoph Hein
Es ist gefährlich, Taxifahrer zu erfinden. Denn sie sind Figuren von niederschmetternder Berechenbarkeit. Das ist ihre Rache für das ständige Herbeizitiertwerden in hastig geschriebenen Reportagen, in denen sie Volkes Stimme einen möglichst fülligen Körper zu geben haben. Christoph Hein kann in seinem neuen Roman auf dergleichen kunsthandwerkliche Skrupel keine Rücksicht nehmen. Irgendwie muss Bernd Willenbrock vom Krankenhaus, wo er sich hat röntgen lassen, zurück in sein Landhaus am Stettiner Haff, in dem er in der Nacht zuvor überfallen und mit Eisenstangen traktiert wurde. Für den Rücktransport ist das Krankenhaus nun einmal nicht zuständig.
Also Taxi. Als Willenbrock sagt, dass er überfallen wurde, pfeift der Fahrer durch die Zähne und sagt: "Willkommen im Club." Am Ende der Fahrt greift er unter sein Lenkrad und zieht eine Pistole hervor: "Das ist meine Risikoversicherung. Sie beruhigt ungemein." Christoph Hein kann sich seiner Geschichte so sicher sein, dass er sich vom Klischee nicht schrecken lassen muss. Er erzählt die Geschichte des Berliner Gebrauchtwagenhändlers Bernd Willenbrock durch das Klischee hindurch. Er macht aus dem Taxifahrer eine flüchtig auftauchende Doppelgängerfigur, holt ihn in eine Teufelspakt-Erzählung hinein, deren romantische Urbilder freilich in der durch und durch prosaischen Welt dieses Helden kunstvoll versteckt sind.
Die Versuchung ist ein schwarz schimmernder, metallisch kühler Revolver, den ein ebenso verlässlicher wie zwielichtiger russischer Kunde dem Gebrauchtwagenhändler als Schutz gegen Überfälle anbietet. Und von Überfällen ist Willenbrock wahrlich geplagt. Der Osten, dem er seine besten Kunden verdankt, ist zugleich eine Welt, von der Gefahren ausgehen. Das Experiment, dem Christoph seinen Helden aussetzt, lässt sich in die Frage fassen: Wieviele Überfälle hält einer aus, bis er den Rechtsstaat Rechtsstaat sein lässt und beim Faustrecht Zuflucht sucht?
Die Frage gewinnt ihre Spannung nicht zuletzt daraus, dass der Held gegen das Klischee besetzt ist. Er ist ehemaliger DDR-Bürger knapp zehn Jahre nach der Wende, aber auf die Frage, wie es ihm geht, kann er lapidar antworten: "Spitzensteuersatzmäßig." Auf seinen polnischen Mechaniker kann er sich verlassen, das Geschäft geht so gut, dass er seiner Frau eine Boutique hat einrichten können. Gut, er war früher Ingenieur in einem volkseigenen Betrieb, der nach dem Mauerfall Pleite machte. Dass er nie Dienstreisen, schon gar nicht in den Westen, machen durfte, hatte er der Bespitzelung durch einen Kollegen zu verdanken. Aber nicht dessen Enttarnung zieht ihm den Boden unter den Füßen weg. Sondern die Erfahrung des Überfalls, der Wehrlosigkeit. Eigentlich könnte er die alten Stasi-Geschichten auf sich beruhen lassen. Darin ähnelt er seinem Autor, der die Vergangenheit nur hochkommen lässt, um ihr mit der Gegenwart den Garaus zu machen. Diese Gegenwart aber ist aus jenem Stoff gemacht, aus dem rechte Protestparteien nicht nur in den neuen Bundesländern ihre Wahlbroschüren destillieren: dem Anschlag krimineller Banden aus dem Osten Europas auf den nichts ahnenden Bundesbürger.
Christoph Hein, seit "Horns Ende" (1985) ein verlässlicher Chronist der Gesellschaften, in denen er lebt, stellt sich in diesem Roman der Aufgabe, diesen Stoff mit den Mitteln der Literatur zu entgiften. Hätte er es sich dabei leicht gemacht, es wäre eine moralische Erzählung, ein willkommenes Plädoyer gegen hysterische Ängste samt probater Warnung vor der Dämonisierung des Ostens dabei herausgekommen. Aber Christoph Hein gestattet es sich, seine Ängste als begründet darzustellen. Seine Russen sind wie seine Taxifahrer: Klischees, denen er eine psychologische Erzählung abgewinnt.
In den in Amerika für das Durchspielen des Konflikts zwischen Sicherheitsbedürfnis und Rechtsstaat zuständigen, seit Generationen erprobten Genres, im Western und im Kriminalroman, hätte der Held von Beginn an eine Waffe. Christoph Hein aber geht von deutschen Spielregeln aus. Ihm wird der Prozess der Selbstbewaffnung zu einem dramatischen Geschehen, und er ist klug genug, seinen Helden nicht schon von Beginn an rot sehen zu lassen. Bernd Willenbrock ist ein wenig gebildeter, als es das Klischee des Gebrauchtwagenhändlers vorsieht. Er ist sehr viel korrekter in seiner Buchführung und unendlich viel skrupulöser gegenüber aller Gewaltanwendung. Waffennarren hat er stets verachtet. Es braucht einige Zeit, einen solch instinktiven Zivilisten in die Falle der Selbstjustiz zu treiben. Eben deshalb taugt er zum Helden einer Teufelspaktgeschichte, in der am Ende ein Schuss fällt und bekehrte Finger vorsichtig über das glänzende Metall streichen.
LOTHAR MÜLLER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von heute an im Vorabdruck: "Willenbrock", der neue Roman von Christoph Hein
Es ist gefährlich, Taxifahrer zu erfinden. Denn sie sind Figuren von niederschmetternder Berechenbarkeit. Das ist ihre Rache für das ständige Herbeizitiertwerden in hastig geschriebenen Reportagen, in denen sie Volkes Stimme einen möglichst fülligen Körper zu geben haben. Christoph Hein kann in seinem neuen Roman auf dergleichen kunsthandwerkliche Skrupel keine Rücksicht nehmen. Irgendwie muss Bernd Willenbrock vom Krankenhaus, wo er sich hat röntgen lassen, zurück in sein Landhaus am Stettiner Haff, in dem er in der Nacht zuvor überfallen und mit Eisenstangen traktiert wurde. Für den Rücktransport ist das Krankenhaus nun einmal nicht zuständig.
Also Taxi. Als Willenbrock sagt, dass er überfallen wurde, pfeift der Fahrer durch die Zähne und sagt: "Willkommen im Club." Am Ende der Fahrt greift er unter sein Lenkrad und zieht eine Pistole hervor: "Das ist meine Risikoversicherung. Sie beruhigt ungemein." Christoph Hein kann sich seiner Geschichte so sicher sein, dass er sich vom Klischee nicht schrecken lassen muss. Er erzählt die Geschichte des Berliner Gebrauchtwagenhändlers Bernd Willenbrock durch das Klischee hindurch. Er macht aus dem Taxifahrer eine flüchtig auftauchende Doppelgängerfigur, holt ihn in eine Teufelspakt-Erzählung hinein, deren romantische Urbilder freilich in der durch und durch prosaischen Welt dieses Helden kunstvoll versteckt sind.
Die Versuchung ist ein schwarz schimmernder, metallisch kühler Revolver, den ein ebenso verlässlicher wie zwielichtiger russischer Kunde dem Gebrauchtwagenhändler als Schutz gegen Überfälle anbietet. Und von Überfällen ist Willenbrock wahrlich geplagt. Der Osten, dem er seine besten Kunden verdankt, ist zugleich eine Welt, von der Gefahren ausgehen. Das Experiment, dem Christoph seinen Helden aussetzt, lässt sich in die Frage fassen: Wieviele Überfälle hält einer aus, bis er den Rechtsstaat Rechtsstaat sein lässt und beim Faustrecht Zuflucht sucht?
Die Frage gewinnt ihre Spannung nicht zuletzt daraus, dass der Held gegen das Klischee besetzt ist. Er ist ehemaliger DDR-Bürger knapp zehn Jahre nach der Wende, aber auf die Frage, wie es ihm geht, kann er lapidar antworten: "Spitzensteuersatzmäßig." Auf seinen polnischen Mechaniker kann er sich verlassen, das Geschäft geht so gut, dass er seiner Frau eine Boutique hat einrichten können. Gut, er war früher Ingenieur in einem volkseigenen Betrieb, der nach dem Mauerfall Pleite machte. Dass er nie Dienstreisen, schon gar nicht in den Westen, machen durfte, hatte er der Bespitzelung durch einen Kollegen zu verdanken. Aber nicht dessen Enttarnung zieht ihm den Boden unter den Füßen weg. Sondern die Erfahrung des Überfalls, der Wehrlosigkeit. Eigentlich könnte er die alten Stasi-Geschichten auf sich beruhen lassen. Darin ähnelt er seinem Autor, der die Vergangenheit nur hochkommen lässt, um ihr mit der Gegenwart den Garaus zu machen. Diese Gegenwart aber ist aus jenem Stoff gemacht, aus dem rechte Protestparteien nicht nur in den neuen Bundesländern ihre Wahlbroschüren destillieren: dem Anschlag krimineller Banden aus dem Osten Europas auf den nichts ahnenden Bundesbürger.
Christoph Hein, seit "Horns Ende" (1985) ein verlässlicher Chronist der Gesellschaften, in denen er lebt, stellt sich in diesem Roman der Aufgabe, diesen Stoff mit den Mitteln der Literatur zu entgiften. Hätte er es sich dabei leicht gemacht, es wäre eine moralische Erzählung, ein willkommenes Plädoyer gegen hysterische Ängste samt probater Warnung vor der Dämonisierung des Ostens dabei herausgekommen. Aber Christoph Hein gestattet es sich, seine Ängste als begründet darzustellen. Seine Russen sind wie seine Taxifahrer: Klischees, denen er eine psychologische Erzählung abgewinnt.
In den in Amerika für das Durchspielen des Konflikts zwischen Sicherheitsbedürfnis und Rechtsstaat zuständigen, seit Generationen erprobten Genres, im Western und im Kriminalroman, hätte der Held von Beginn an eine Waffe. Christoph Hein aber geht von deutschen Spielregeln aus. Ihm wird der Prozess der Selbstbewaffnung zu einem dramatischen Geschehen, und er ist klug genug, seinen Helden nicht schon von Beginn an rot sehen zu lassen. Bernd Willenbrock ist ein wenig gebildeter, als es das Klischee des Gebrauchtwagenhändlers vorsieht. Er ist sehr viel korrekter in seiner Buchführung und unendlich viel skrupulöser gegenüber aller Gewaltanwendung. Waffennarren hat er stets verachtet. Es braucht einige Zeit, einen solch instinktiven Zivilisten in die Falle der Selbstjustiz zu treiben. Eben deshalb taugt er zum Helden einer Teufelspaktgeschichte, in der am Ende ein Schuss fällt und bekehrte Finger vorsichtig über das glänzende Metall streichen.
LOTHAR MÜLLER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.06.2000Wagen für den Osten
Christoph Heins Roman über die Geschäfte des Bernd Willenbrock
Die Geschichte wird schnörkellos und unterkühlt sachlich, manchmal akribisch sachlich wie in einer Gebrauchsanweisung vorgetragen, die Handlung linear und eindimensional, ohne den leisesten Anflug eines Perspektivwechsels. Aber weder ist die Geschichte einfach, noch von nüchterner Sachlichkeit, noch eindimensional. Sie ist voller Fallstricke.
Bernd Willenbrock, ein Mann im besten Alter, unterhält in Berlin einen gut gehenden Handel mit Gebrauchtwagen. Aufgewachsen ist er in der DDR, wo er als Ingenieur sein Geld verdiente, der Zufall hat ihn nach der Wende in diese Branche verschlagen, und er weiß etwas daraus zu machen. Obwohl er dem neuen Geschäft kaum mehr als sieben Jahre nachgeht, besitzt er bereits ein Stadthaus und ein Anwesen auf dem Land; beides komfortabel eingerichtet. Seine Frau Susanne betreibt auf Kosten ihres Mannes eine Boutique, die auch in Zukunft keinen Gewinn abzuwerfen verspricht, und er selbst ist gerade dabei, sich einen stattlichen Pavillon für sein florierendes Geschäft bauen zu lassen; dies alles vom aufwendigen Lebensstil abgesehen – man fährt schon mal auf ein verlängertes Wochenende nach Venedig – und auch abgesehen von den verschiedenen Geliebten, die Willenbrock regelmäßig aufsucht.
Soviel Wohlstand lässt sich in so knapper Zeit von einem nicht mehr ganz jungen Branchenneuling nur unter besonderen Umständen anhäufen, dank der schier unbegrenzten Nachfrage nach Autos aus den sich kapitalisierenden Staaten des ehemaligen Ostblocks. Willenbrocks Kunden kommen vornehmlich aus Polen und Russland und bezahlen cash, woher auch immer sie das Geld haben. Willenbrocks Frau weigert sich denn auch, wie er unaufgefordert einem Kunden erzählt, seinen Autohof zu betreten. Für sie ist das ein „Verbrecher”- und „Ganoven”geschäft.
Dennoch hält Susanne ihren Bernd für einen ehrbaren Ehemann, mit dem sie, ungeachtet seiner diversen und möglicherweise auch ihrer Verhältnisse, eine harmonisch schreckhafte Ehe führt. Schreckhaft insofern, als sie gelegentliche Einbrüche in das private Leben – den Diebstahl von Gebrauchtwagen aus dem Lager ihres Mannes, vor allem aber einen Raubüberfall auf ihren Landsitz – als abnorme Störung ihres Daseins empfindet. Noch mehr als sie irritieren solche Gewalttätigkeiten Willenbrock selbst, und es schockiert ihn tief, dass Polizei und Staatsanwaltschaft ihm nicht ausreichend Schutz vor den gesellschaftlichen Widersprüchen geben, auf denen sein eigenes Geschäft beruht. Es ist ihm nämlich ganz und gar nicht unbekannt, dass seine Klientel und sein eigenes Unternehmen nur in einem Milieu gedeihen, zu dem Einbruch und Raubüberfall selbstverständlich gehören. Sein bester Kunde, ein Russe namens Krylow, demonstrierte es ihm.
Krylow ist Willenbrocks Alter Ego. Im Abstand von zwei bis drei Monaten besucht er Willenbrock in Begleitung von ein paar schweigsamen, schlagkräftigen Männern, um dann jedesmal zugleich mehrere Autos zu kaufen. Dabei führen die beiden grundlegende Gespräche über Recht und Geschäft. Krylow ist unverblümt. Er erinnert Willenbrock stets daran, dass die Welt weder heil ist, noch heil geredet werden kann. Als er von dem Raubüberfall hört, schenkt er seinem Geschäftsfreund ungefragt eine Pistole; Willenbrock nimmt sie ängstlich aber fasziniert an, macht sie sich schließlich ganz zu eigen, und bei nächster Gelegenheit wendet er sie an. Hat er dabei einen Menschen getötet oder nur verletzt? Er erfährt es nicht. Der Angeschossene entkommt in die Dunkelheit, und nichts von der Tat wird öffentlich ruchbar. So werden also Susanne und Bernd Willenbrock weiterleben wie bisher, einander ein wenig liebend, ein wenig belügend, sie mit ihrer nichtsnutzigen Boutique, er mit seinem „Ganoven”geschäft, das ihrer beiden Leben den Glanz verleiht, beide in gegenseitiger Verdrängung.
Christoph Hein hat in einem Gespräch gesagt, er liebe es, von Zeit zu Zeit die Methoden seiner Kunst zu ändern, und die Leser seiner Bücher wissen das. Horns Ende, um das bekannteste zu erwähnen, sprang aus der Gegenwart in die Vergangenheit und von da in die Zukunft und erzählte eine Geschichte unter obendrein wechselnden Perspektiven. In Willenbrock verzichtet er auf diese Beweglichkeit vollständig. Fast naiv bringt er einen auszugsweisen Bericht aus dessen Leben. Aber zu jedem Textteil im Roman gibt es einen Subtext, den der Leser sich selbst erzählen kann, zu ergänzen geradezu gezwungen ist. Und am Ende steht da wieder der ganze Christoph Hein, der es versteht, eine Geschichte ohne jede Botschaft zu erfinden, nach seinem Marx entlehnten Lieblingsmotto, dass man den versteinerten Verhältnissen ihre eigene Melodie vorspielen muss, um sie zum Tanzen zu bringen.
AGNES HÜFNER
CHRISTOPH HEIN: Willenbrock. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt /M. 2000. 320 Seiten, 39,80 Mark.
Neu bei Suhrkamp: Christoph Hein. Der Autor, bisher beim Berliner Aufbau-Verlag unter Vertrag, bereichert mit seinem am kommenden Montag erscheinenden Roman Willenbrock das Jubiläumsprogramm des Hauses Suhrkamp.
Foto: Ekko von Schwichow
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Christoph Heins Roman über die Geschäfte des Bernd Willenbrock
Die Geschichte wird schnörkellos und unterkühlt sachlich, manchmal akribisch sachlich wie in einer Gebrauchsanweisung vorgetragen, die Handlung linear und eindimensional, ohne den leisesten Anflug eines Perspektivwechsels. Aber weder ist die Geschichte einfach, noch von nüchterner Sachlichkeit, noch eindimensional. Sie ist voller Fallstricke.
Bernd Willenbrock, ein Mann im besten Alter, unterhält in Berlin einen gut gehenden Handel mit Gebrauchtwagen. Aufgewachsen ist er in der DDR, wo er als Ingenieur sein Geld verdiente, der Zufall hat ihn nach der Wende in diese Branche verschlagen, und er weiß etwas daraus zu machen. Obwohl er dem neuen Geschäft kaum mehr als sieben Jahre nachgeht, besitzt er bereits ein Stadthaus und ein Anwesen auf dem Land; beides komfortabel eingerichtet. Seine Frau Susanne betreibt auf Kosten ihres Mannes eine Boutique, die auch in Zukunft keinen Gewinn abzuwerfen verspricht, und er selbst ist gerade dabei, sich einen stattlichen Pavillon für sein florierendes Geschäft bauen zu lassen; dies alles vom aufwendigen Lebensstil abgesehen – man fährt schon mal auf ein verlängertes Wochenende nach Venedig – und auch abgesehen von den verschiedenen Geliebten, die Willenbrock regelmäßig aufsucht.
Soviel Wohlstand lässt sich in so knapper Zeit von einem nicht mehr ganz jungen Branchenneuling nur unter besonderen Umständen anhäufen, dank der schier unbegrenzten Nachfrage nach Autos aus den sich kapitalisierenden Staaten des ehemaligen Ostblocks. Willenbrocks Kunden kommen vornehmlich aus Polen und Russland und bezahlen cash, woher auch immer sie das Geld haben. Willenbrocks Frau weigert sich denn auch, wie er unaufgefordert einem Kunden erzählt, seinen Autohof zu betreten. Für sie ist das ein „Verbrecher”- und „Ganoven”geschäft.
Dennoch hält Susanne ihren Bernd für einen ehrbaren Ehemann, mit dem sie, ungeachtet seiner diversen und möglicherweise auch ihrer Verhältnisse, eine harmonisch schreckhafte Ehe führt. Schreckhaft insofern, als sie gelegentliche Einbrüche in das private Leben – den Diebstahl von Gebrauchtwagen aus dem Lager ihres Mannes, vor allem aber einen Raubüberfall auf ihren Landsitz – als abnorme Störung ihres Daseins empfindet. Noch mehr als sie irritieren solche Gewalttätigkeiten Willenbrock selbst, und es schockiert ihn tief, dass Polizei und Staatsanwaltschaft ihm nicht ausreichend Schutz vor den gesellschaftlichen Widersprüchen geben, auf denen sein eigenes Geschäft beruht. Es ist ihm nämlich ganz und gar nicht unbekannt, dass seine Klientel und sein eigenes Unternehmen nur in einem Milieu gedeihen, zu dem Einbruch und Raubüberfall selbstverständlich gehören. Sein bester Kunde, ein Russe namens Krylow, demonstrierte es ihm.
Krylow ist Willenbrocks Alter Ego. Im Abstand von zwei bis drei Monaten besucht er Willenbrock in Begleitung von ein paar schweigsamen, schlagkräftigen Männern, um dann jedesmal zugleich mehrere Autos zu kaufen. Dabei führen die beiden grundlegende Gespräche über Recht und Geschäft. Krylow ist unverblümt. Er erinnert Willenbrock stets daran, dass die Welt weder heil ist, noch heil geredet werden kann. Als er von dem Raubüberfall hört, schenkt er seinem Geschäftsfreund ungefragt eine Pistole; Willenbrock nimmt sie ängstlich aber fasziniert an, macht sie sich schließlich ganz zu eigen, und bei nächster Gelegenheit wendet er sie an. Hat er dabei einen Menschen getötet oder nur verletzt? Er erfährt es nicht. Der Angeschossene entkommt in die Dunkelheit, und nichts von der Tat wird öffentlich ruchbar. So werden also Susanne und Bernd Willenbrock weiterleben wie bisher, einander ein wenig liebend, ein wenig belügend, sie mit ihrer nichtsnutzigen Boutique, er mit seinem „Ganoven”geschäft, das ihrer beiden Leben den Glanz verleiht, beide in gegenseitiger Verdrängung.
Christoph Hein hat in einem Gespräch gesagt, er liebe es, von Zeit zu Zeit die Methoden seiner Kunst zu ändern, und die Leser seiner Bücher wissen das. Horns Ende, um das bekannteste zu erwähnen, sprang aus der Gegenwart in die Vergangenheit und von da in die Zukunft und erzählte eine Geschichte unter obendrein wechselnden Perspektiven. In Willenbrock verzichtet er auf diese Beweglichkeit vollständig. Fast naiv bringt er einen auszugsweisen Bericht aus dessen Leben. Aber zu jedem Textteil im Roman gibt es einen Subtext, den der Leser sich selbst erzählen kann, zu ergänzen geradezu gezwungen ist. Und am Ende steht da wieder der ganze Christoph Hein, der es versteht, eine Geschichte ohne jede Botschaft zu erfinden, nach seinem Marx entlehnten Lieblingsmotto, dass man den versteinerten Verhältnissen ihre eigene Melodie vorspielen muss, um sie zum Tanzen zu bringen.
AGNES HÜFNER
CHRISTOPH HEIN: Willenbrock. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt /M. 2000. 320 Seiten, 39,80 Mark.
Neu bei Suhrkamp: Christoph Hein. Der Autor, bisher beim Berliner Aufbau-Verlag unter Vertrag, bereichert mit seinem am kommenden Montag erscheinenden Roman Willenbrock das Jubiläumsprogramm des Hauses Suhrkamp.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Man spürt: Gerhard Schulz wollte freundlich mit Heins Roman sein, obwohl er ihm nicht wirklich gefallen hat. Gleich zu Beginn macht er auf einen literarischen Urahn des Autohändlers Willenbrock aufmerksam, Kleists Michael Kohlhaas und dessen Rosshandel nämlich. Und dass es bei Hein um eine "der wichtigsten Ikonen deutschen Wertbewußtseins, um das Auto" geht. Routiniert aber etwas lustlos stellt Schulz dann Hauptfiguren und Handlungsstränge vor und holt sich Schreib- und Denkmotivation immer wieder bei Rückgriffen auf Kleist.. Es fällt auch das böse Wort Langeweile, das der Kritiker aber gleich zurücknimmt, um dem Roman durchaus Sogwirkung zu bescheinigen. Auch gebe es "hie und da stilistische Nachlässigkeiten", als sei es "ein wenig zu hastig zugegangen mit der Umarmung durch den neuen Verlag".
© Perlentaucher Medien GmbH
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