Bernd Willenbrock, ehemals Ingenieur in einem DDR-Betrieb, führt in Berlin einen Gebrauchtwagenhandel. Er ist ein sympathischer Mann im besten Alter. Sein Leben verläuft in geordneten Bahnen. Die Ehe mit einer Boutiquebesitzerin funktioniert ohne Probleme. Von seinen Treffen mit attraktiven Kundinnen bekommt die Gattin nichts mit. Doch dann beginnen die Sicherheiten der bürgerlichen Existenz wegzubrechen - erst unmerklich und dann unübersehbar. Mehrmals verschwinden von seinem Geschäftsparkplatz Autos, ohne dass die Diebstähle aufgeklärt werden können. Als schließlich Willenbrock selbst Opfer eines brutalen Überfalls wird, ist sein Sicherheitsbedürfnis erschüttert. Die Erfahrung der Wehrlosigkeit verändert sein Verhältnis zum Rechtsstaat. Hatte er bisher Waffenliebhaber stets verachtet, besorgt er sich nun mit Hilfe eines russischen Kunden einen Revolver. Eine Zeitbombe beginnt zu ticken.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.07.2000Schonzeit für Helden
Christoph Heins Roman "Willenbrock" erzählt von den Kränkungen der kleinen Leute · Von Gerhard Schulz
Ein Gebrauchtwagenhändler als Romanheld? Das Gewerbe gehört weder zu den faszinierendsten noch respektiertesten Tätigkeiten. Gleiches ließe sich auch von dem Rosshandel jenes Michael Kohlhaas sagen, den Heinrich von Kleist auf den Weg in die Weltliteratur geschickt hat. Christoph Heins Autohändler Bernd Willenbrock ist offensichtlich von Kohlhaas' Stamm, obgleich man ihn kaum wie seinen Urahn einen "der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit" nennen könnte. Gewiss, Willenbrock wird eine Pistole erwerben und er wird sie auch benutzen, nur bleibt ihm der Gang aufs Schafott und der Triumph über die gebrechliche Einrichtung der Welt erspart. Er wird weiterhin Autos verkaufen.
Christoph Heins neuer Roman über einen erfolgreichen Geschäftsmann irgendwo im Norden Berlins dreht sich um eine der wichtigsten Ikonen deutschen Wertbewusstseins, um das Auto. Auf den Straßen der aufgelösten DDR bildete in den frühen neunziger Jahren der westliche Gebrauchtwagen den ersten sichtbaren Spross für das Zusammenwachsen dessen, was nun zusammengehören sollte. So lässt Hein seinen Willenbrock, ehemaligen Ingenieur in einer volkseigenen Rechenmaschinenfabrik, die Zeichen der Zeit erkennen und zügig zu Gelde kommen, "spitzensteuersatzmäßig", wie er es nennt. Auch hat sich inzwischen - wir schreiben das Jahr 1996 - der Markt weit ins Östliche ausgedehnt. Willenbrocks Ware geht vorwiegend nach Polen und Russland; Jurek, sein Mechaniker, ist Pole, und der Doktor Krylow aus Moskau sein bester Kunde. Besiegte und Sieger eines Krieges kehren sich um zu Siegern und Besiegten der Geschichte. Das bringt Probleme.
Der neue Wohlstand wird unterminiert durch jene, die ihn dem Deutschen bringen. Autos werden gestohlen, dann wird der Nachtwächter zusammengeschlagen, Willenbrock in seinem Ferienhaus überfallen. Unbegreiflich für den einstigen DDR-Bürger, lässt der neue Rechtsstaat die beiden jungen Russen laufen, kaum dass sie als Täter dingfest gemacht worden sind. Wie Kohlhaas, so erblickt Willenbrock die Welt in einer Unordnung. Hein bedient sich eines Kleist'schen Motivs, mit dem dessen Erzählungen zumeist anheben: eine kleine, im Grunde geringfügige Störung des Normalen setzt einen Prozess von Reaktionen in Gang, der schließlich eine Existenz, ja die Ordnung der Welt in Frage stellt.
Ein solche Verwandtschaft über die Zeiten hinweg ist alles andere als zufällig. Aus dem Anfang der achtziger Jahre stammt Heins "Bericht" über einen "neueren (glücklicheren) Kohlhaas", die Geschichte vom Buchhalter Hubert K., der um einer kleinen Geldsumme willen, die man ihm vorenthält, in seinem "Rechtsgefühl" gestört ist und erst am Ende, nach dem Durchgang durch alle Instanzen, jene 40 Mark erhält, die ihm zustehen, nur dass er darüber seine Familie verliert und als "verfluchter Gottesnarr" verschrien wird. Auf die Apotheose einer sozialistischen Gerechtigkeit hatte es Hein damals nicht abgesehen.
So weit wie Hubert K. treibt es Willenbrock nicht, und er beginnt keinen Krieg gegen den Staat wie Michael Kohlhaas, obwohl er sich mit einer Pistole in der Tasche zu einem Staatsanwalt begibt. Hein erzählt keine außerordentliche Begebenheit, sondern ein Stück deutsche Welt und Berliner Geschäftsalltag. Details, ja sogar Banalitäten gehören dazu, was die Gefahr der Langweile einschließt, nur dass der Roman aller Akribie zum Trotz bald eine eigene Sogwirkung entwickelt, die nicht so sehr in der Handlung, als im Interesse an den inneren Konflikten seines Helden begründet ist. Denn Hein hat seinen Willenbrock, diesen unaufgeregten, praktischen, geschickten, aber keineswegs raffinierten, manchmal auch selbstironischen und leicht melancholischen Geschäftsmann mit einer komplexen Persönlichkeit ausgestattet, die sich selbst ein Rätsel ist. Das aber macht ihn attraktiv.
Da ist die kinderlose, ebenso freundschaftliche wie sinnliche Ehe Willenbrocks mit Susanne, der er zur Selbstverwirklichung eine Boutique gekauft hat. Außerdem hält er sich eine Damenriege zur gelegentlichen Verfügung, ohne dass er wüsste, weshalb. Dann gibt es noch die Familie seiner Frau, deren penetrante Kleinbürgerlichkeit ihm so lästig wird, dass er mit Susanne über Neujahr lieber nach Venedig fährt, um der Rührseligkeit zu entgehen. Zu der eigenen Familie zieht es ihn noch weniger, denn schließlich hat sein Bruder Peter ihm den Traum vom Segelfliegen durch seine Republikflucht vermasselt, so wie der IM Dr. Feuerbach verhinderte, dass man ihn zum "Reisekader" erhob.
Gerade dieser Bodensatz aus vergangenen DDR-Zeiten, den Willenbrock zuerst erfolgreich verdrängt hat, kommt wieder hoch, als seine neue Ordnung durcheinander gebracht wird. Nein, mit diesem Feuerbach wollte er nichts mehr zu schaffen haben: "Es ist alles so lange her. Damit müssen wir uns abfinden." Aber eines Tages wird er ihm trotzdem gegen seinen besseren Vorsatz ins Gesicht schlagen: "Die einen denunzieren mich, die anderen bestehlen mich oder wollen mich totschlagen. Ich werde es euch zeigen, mein Lieber. Ich werde das nicht hinnehmen." Ihm wird am Ende nichts anderes übrig bleiben, als gerade das zu tun.
Es gibt ein sprachliches Leitmotiv in diesem Roman. Immer wieder, wohl ein Dutzend Mal, sind in einer bestimmten Weise grundierte Sätze, die zumeist aus Willenbrocks Mund stammen, eingeflochten: "Jeder ist so oder so veranlagt, eine Frage der Gene, damit muss man leben", heißt es gleich zu Anfang. Oder als es um das Zufriedensein geht: "Man kann sein Leben nicht damit verbringen, sich am Leben zu rächen." Bei der Frage nach dem Verhältnis zwischen Moral und Geld: "Aber so ist die Welt nun einmal eingerichtet." Gebrechlich, wie wir von Kleist wissen. Schließlich gegen Schluss: "Er sah verlegen auf seine Hände. ,Ja, das Leben', sagte Willenbrock nur." Die lässige Akzeptanz einer angenehmen Wirklichkeit wendet sich zur Resignation. Denn Willenbrock hat, das Recht in seine Hand nehmend, einen Menschen angeschossen, vielleicht erschossen, und obwohl das Leben weitergeht, scheint es ein anderes geworden zu sein. "Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein" - ein Satz aus einem seiner geliebten Fliegerbücher, der Willenbrock durch den Kopf geht. Nur bleibt alles, wie es war: Die Waffe wird weggeschlossen, die Obstbäume stehen in Blüte, "und das Abendlicht verstärkte den zarten Glanz der rosafarbenen Blätter". Was also soll's?
Die Frage wird viele Antworten finden. Dass der Rechtsstaat seine Bürger nur bedingt schützen kann, ist eine Weisheit, die der Roman zwar enthält, aber sie ist bekannt, und man bedarf seiner nicht dazu. Dass der Polizeistaat DDR als "sicherer" galt, weiß man, aber sein Bankrott war eine hinreichende Bestätigung seines Unwerts. Dass Asien nach Europa eingebrochen sei und Sibirien vor der eigenen Berliner Haustür beginne, ist nur die Ansicht der arroganten, neureichen Puhlmanns auf Susannes Modenschau und unter keinen Umständen die des Autors. Nur weist gerade dieser Satz auf das, was diesem Buch nicht als Weisheit, sondern als Sujet, als Gegenstand zugrunde liegt. Christoph Heins "Willenbrock" ist in erster Linie ein Buch über die Deutschen.
"Ach, ihr Deutschen. Ihr macht alles immer offiziell. Wäre Gott ein Deutscher, was hätten wir für eine fabelhafte Ordnung auf der Welt", meint der Doktor Krylow mit bitterer Ironie, denn der gewaltsame Versuch zu einer deutschen Weltordnung hatte ihn einst, als Kind, das Leben seiner Mutter gekostet. Was sie aber antreibt, diese Deutschen, ist das kohlhaasische Gekränktsein der kleinen Bürger angesichts ihrer Bedeutungslosigkeit. "Du weißt ja", erklärt Willenbrock seiner Frau, "ich komme aus einer Kleinstadt, und was ich da erlebt habe, das waren gekränkte Leute. Meine Eltern waren gekränkt, weil Vater ein einfacher Entwicklungsingenieur blieb. Die Verwandtschaft war gekränkt, weil es immer irgendwo irgendwelche Leute gab, die viel erfolgreicher waren als sie. Die ganze, schöne, kleine Stadt, sie war immerzu gekränkt", weshalb er sich vornimmt, mit seinem Leben zufrieden zu sein, was die anderen "noch mehr kränkte". Nur kommt ihm dann seine Deutschheit in die Quere, denn schon der erste Diebstahl wirft ihn aus der Bahn: "Es kränkt mich. Das ist es." Sanft erst, aber immer entschiedener lässt sich Willenbrock kränken und aus der Bahn werfen, ankämpfend gegen das retardierende "So ist das Leben".
Nur der Zufall bewahrt ihn vor den "Schranken" des Berliner Kammergerichts, denen der Kleist'sche Held weder ausweichen kann noch will. Heutzutage herrscht Schonzeit für Helden. Der Vorstellung von den kleinstädtischen, ewig gekränkten Deutschen kann man Wahrheit nicht absprechen. Hein lässt sie zur poetischen Narbe werden, um die sich der Roman dreht. Von ihr her erklärt sich auch, was dieses Buch an scheinbar Unmotiviertem, Überflüssigem enthält: Szenen von Familienbesuchen, Begräbnissen, Parteiversammlungen, Sylvesterfeiern, dazu die Gespräche mit Beamten, Polizisten, Ärzten, Staatsanwälten. Mechaniker Jurek und der scharfblickende Doktor Krylow sorgen für den Blickpunkt von außen.
Man mag unzufrieden sein mit dem etwas vagen Ausgang des Buches, das langsam versickert im weichen Boden von Willenbrocks Berliner Frühlingsgarten. Nur gibt es wahrscheinlich keinen dramatischeren Schluss dort, wo man zu akzeptieren bereit ist, dass die Welt so eingerichtet ist, wie sie ist. Übereinkünfte und Zugeständnisse sind die Stärke des Rechtsstaats. Willenbrock erfährt nur jene Unordnung der Welt, die beklagenswert im Einzelnen sein mag, im Ganzen jedoch verhindert, dass eine Nation von gekränkten Kohlhaas-Nachfolgern ihr Ordnungsbewusstsein der Welt aufnötigen kann.
Hein hat einmal bekannt, dass er das Publikum nicht belehren möchte. Chronist wolle er sein, der eine Sache mitzuteilen habe. Streiten lässt sich, ob alles Mitgeteilte, zum Beispiel die detaillierten Berichte über die Querelen beim Bau von Willenbrocks neuer Verkaufshalle, notwendig ist für diese Chronik eines kleinen Stückes deutscher Gegenwart. Auch gibt es hier und da stilistische Nachlässigkeiten, als ob es ein wenig zu hastig zugegangen sei mit der Umarmung durch den neuen Verlag. Aber das wird kompensiert durch eine hintergründige Kleist'sche Genauigkeit, so wenn es beim Besuch im Waffengeschäft heißt: "Der Verkäufer kratzte sich an einer kleinen Narbe am Handgelenk, dann nahm er das Gerät, das er auf dem Ladentisch abgelegt hatte, wieder auf, legte es in den Glaskasten zurück und schaute Willenbrock erwartungsvoll an." Bernd Willenbrocks innerer Monolog, mit dem er sich angesichts seiner Seitensprünge zur Nachsicht gegenüber der Untreue seiner Susanne nötigt, ist ein Stück exquisiter psychologischer Prosa. Denn Christoph Heins Roman, so durchsetzt er ist von den Spuren geschichtlichen Geschehens im letzten Halbjahrhundert, transzendiert am Ende alles konkret Politische in Richtung auf die Gebrechlichkeit von Mensch und Welt, wie Kleist das genannt haben würde.
Christoph Hein: "Willenbrock". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 319 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Christoph Heins Roman "Willenbrock" erzählt von den Kränkungen der kleinen Leute · Von Gerhard Schulz
Ein Gebrauchtwagenhändler als Romanheld? Das Gewerbe gehört weder zu den faszinierendsten noch respektiertesten Tätigkeiten. Gleiches ließe sich auch von dem Rosshandel jenes Michael Kohlhaas sagen, den Heinrich von Kleist auf den Weg in die Weltliteratur geschickt hat. Christoph Heins Autohändler Bernd Willenbrock ist offensichtlich von Kohlhaas' Stamm, obgleich man ihn kaum wie seinen Urahn einen "der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit" nennen könnte. Gewiss, Willenbrock wird eine Pistole erwerben und er wird sie auch benutzen, nur bleibt ihm der Gang aufs Schafott und der Triumph über die gebrechliche Einrichtung der Welt erspart. Er wird weiterhin Autos verkaufen.
Christoph Heins neuer Roman über einen erfolgreichen Geschäftsmann irgendwo im Norden Berlins dreht sich um eine der wichtigsten Ikonen deutschen Wertbewusstseins, um das Auto. Auf den Straßen der aufgelösten DDR bildete in den frühen neunziger Jahren der westliche Gebrauchtwagen den ersten sichtbaren Spross für das Zusammenwachsen dessen, was nun zusammengehören sollte. So lässt Hein seinen Willenbrock, ehemaligen Ingenieur in einer volkseigenen Rechenmaschinenfabrik, die Zeichen der Zeit erkennen und zügig zu Gelde kommen, "spitzensteuersatzmäßig", wie er es nennt. Auch hat sich inzwischen - wir schreiben das Jahr 1996 - der Markt weit ins Östliche ausgedehnt. Willenbrocks Ware geht vorwiegend nach Polen und Russland; Jurek, sein Mechaniker, ist Pole, und der Doktor Krylow aus Moskau sein bester Kunde. Besiegte und Sieger eines Krieges kehren sich um zu Siegern und Besiegten der Geschichte. Das bringt Probleme.
Der neue Wohlstand wird unterminiert durch jene, die ihn dem Deutschen bringen. Autos werden gestohlen, dann wird der Nachtwächter zusammengeschlagen, Willenbrock in seinem Ferienhaus überfallen. Unbegreiflich für den einstigen DDR-Bürger, lässt der neue Rechtsstaat die beiden jungen Russen laufen, kaum dass sie als Täter dingfest gemacht worden sind. Wie Kohlhaas, so erblickt Willenbrock die Welt in einer Unordnung. Hein bedient sich eines Kleist'schen Motivs, mit dem dessen Erzählungen zumeist anheben: eine kleine, im Grunde geringfügige Störung des Normalen setzt einen Prozess von Reaktionen in Gang, der schließlich eine Existenz, ja die Ordnung der Welt in Frage stellt.
Ein solche Verwandtschaft über die Zeiten hinweg ist alles andere als zufällig. Aus dem Anfang der achtziger Jahre stammt Heins "Bericht" über einen "neueren (glücklicheren) Kohlhaas", die Geschichte vom Buchhalter Hubert K., der um einer kleinen Geldsumme willen, die man ihm vorenthält, in seinem "Rechtsgefühl" gestört ist und erst am Ende, nach dem Durchgang durch alle Instanzen, jene 40 Mark erhält, die ihm zustehen, nur dass er darüber seine Familie verliert und als "verfluchter Gottesnarr" verschrien wird. Auf die Apotheose einer sozialistischen Gerechtigkeit hatte es Hein damals nicht abgesehen.
So weit wie Hubert K. treibt es Willenbrock nicht, und er beginnt keinen Krieg gegen den Staat wie Michael Kohlhaas, obwohl er sich mit einer Pistole in der Tasche zu einem Staatsanwalt begibt. Hein erzählt keine außerordentliche Begebenheit, sondern ein Stück deutsche Welt und Berliner Geschäftsalltag. Details, ja sogar Banalitäten gehören dazu, was die Gefahr der Langweile einschließt, nur dass der Roman aller Akribie zum Trotz bald eine eigene Sogwirkung entwickelt, die nicht so sehr in der Handlung, als im Interesse an den inneren Konflikten seines Helden begründet ist. Denn Hein hat seinen Willenbrock, diesen unaufgeregten, praktischen, geschickten, aber keineswegs raffinierten, manchmal auch selbstironischen und leicht melancholischen Geschäftsmann mit einer komplexen Persönlichkeit ausgestattet, die sich selbst ein Rätsel ist. Das aber macht ihn attraktiv.
Da ist die kinderlose, ebenso freundschaftliche wie sinnliche Ehe Willenbrocks mit Susanne, der er zur Selbstverwirklichung eine Boutique gekauft hat. Außerdem hält er sich eine Damenriege zur gelegentlichen Verfügung, ohne dass er wüsste, weshalb. Dann gibt es noch die Familie seiner Frau, deren penetrante Kleinbürgerlichkeit ihm so lästig wird, dass er mit Susanne über Neujahr lieber nach Venedig fährt, um der Rührseligkeit zu entgehen. Zu der eigenen Familie zieht es ihn noch weniger, denn schließlich hat sein Bruder Peter ihm den Traum vom Segelfliegen durch seine Republikflucht vermasselt, so wie der IM Dr. Feuerbach verhinderte, dass man ihn zum "Reisekader" erhob.
Gerade dieser Bodensatz aus vergangenen DDR-Zeiten, den Willenbrock zuerst erfolgreich verdrängt hat, kommt wieder hoch, als seine neue Ordnung durcheinander gebracht wird. Nein, mit diesem Feuerbach wollte er nichts mehr zu schaffen haben: "Es ist alles so lange her. Damit müssen wir uns abfinden." Aber eines Tages wird er ihm trotzdem gegen seinen besseren Vorsatz ins Gesicht schlagen: "Die einen denunzieren mich, die anderen bestehlen mich oder wollen mich totschlagen. Ich werde es euch zeigen, mein Lieber. Ich werde das nicht hinnehmen." Ihm wird am Ende nichts anderes übrig bleiben, als gerade das zu tun.
Es gibt ein sprachliches Leitmotiv in diesem Roman. Immer wieder, wohl ein Dutzend Mal, sind in einer bestimmten Weise grundierte Sätze, die zumeist aus Willenbrocks Mund stammen, eingeflochten: "Jeder ist so oder so veranlagt, eine Frage der Gene, damit muss man leben", heißt es gleich zu Anfang. Oder als es um das Zufriedensein geht: "Man kann sein Leben nicht damit verbringen, sich am Leben zu rächen." Bei der Frage nach dem Verhältnis zwischen Moral und Geld: "Aber so ist die Welt nun einmal eingerichtet." Gebrechlich, wie wir von Kleist wissen. Schließlich gegen Schluss: "Er sah verlegen auf seine Hände. ,Ja, das Leben', sagte Willenbrock nur." Die lässige Akzeptanz einer angenehmen Wirklichkeit wendet sich zur Resignation. Denn Willenbrock hat, das Recht in seine Hand nehmend, einen Menschen angeschossen, vielleicht erschossen, und obwohl das Leben weitergeht, scheint es ein anderes geworden zu sein. "Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein" - ein Satz aus einem seiner geliebten Fliegerbücher, der Willenbrock durch den Kopf geht. Nur bleibt alles, wie es war: Die Waffe wird weggeschlossen, die Obstbäume stehen in Blüte, "und das Abendlicht verstärkte den zarten Glanz der rosafarbenen Blätter". Was also soll's?
Die Frage wird viele Antworten finden. Dass der Rechtsstaat seine Bürger nur bedingt schützen kann, ist eine Weisheit, die der Roman zwar enthält, aber sie ist bekannt, und man bedarf seiner nicht dazu. Dass der Polizeistaat DDR als "sicherer" galt, weiß man, aber sein Bankrott war eine hinreichende Bestätigung seines Unwerts. Dass Asien nach Europa eingebrochen sei und Sibirien vor der eigenen Berliner Haustür beginne, ist nur die Ansicht der arroganten, neureichen Puhlmanns auf Susannes Modenschau und unter keinen Umständen die des Autors. Nur weist gerade dieser Satz auf das, was diesem Buch nicht als Weisheit, sondern als Sujet, als Gegenstand zugrunde liegt. Christoph Heins "Willenbrock" ist in erster Linie ein Buch über die Deutschen.
"Ach, ihr Deutschen. Ihr macht alles immer offiziell. Wäre Gott ein Deutscher, was hätten wir für eine fabelhafte Ordnung auf der Welt", meint der Doktor Krylow mit bitterer Ironie, denn der gewaltsame Versuch zu einer deutschen Weltordnung hatte ihn einst, als Kind, das Leben seiner Mutter gekostet. Was sie aber antreibt, diese Deutschen, ist das kohlhaasische Gekränktsein der kleinen Bürger angesichts ihrer Bedeutungslosigkeit. "Du weißt ja", erklärt Willenbrock seiner Frau, "ich komme aus einer Kleinstadt, und was ich da erlebt habe, das waren gekränkte Leute. Meine Eltern waren gekränkt, weil Vater ein einfacher Entwicklungsingenieur blieb. Die Verwandtschaft war gekränkt, weil es immer irgendwo irgendwelche Leute gab, die viel erfolgreicher waren als sie. Die ganze, schöne, kleine Stadt, sie war immerzu gekränkt", weshalb er sich vornimmt, mit seinem Leben zufrieden zu sein, was die anderen "noch mehr kränkte". Nur kommt ihm dann seine Deutschheit in die Quere, denn schon der erste Diebstahl wirft ihn aus der Bahn: "Es kränkt mich. Das ist es." Sanft erst, aber immer entschiedener lässt sich Willenbrock kränken und aus der Bahn werfen, ankämpfend gegen das retardierende "So ist das Leben".
Nur der Zufall bewahrt ihn vor den "Schranken" des Berliner Kammergerichts, denen der Kleist'sche Held weder ausweichen kann noch will. Heutzutage herrscht Schonzeit für Helden. Der Vorstellung von den kleinstädtischen, ewig gekränkten Deutschen kann man Wahrheit nicht absprechen. Hein lässt sie zur poetischen Narbe werden, um die sich der Roman dreht. Von ihr her erklärt sich auch, was dieses Buch an scheinbar Unmotiviertem, Überflüssigem enthält: Szenen von Familienbesuchen, Begräbnissen, Parteiversammlungen, Sylvesterfeiern, dazu die Gespräche mit Beamten, Polizisten, Ärzten, Staatsanwälten. Mechaniker Jurek und der scharfblickende Doktor Krylow sorgen für den Blickpunkt von außen.
Man mag unzufrieden sein mit dem etwas vagen Ausgang des Buches, das langsam versickert im weichen Boden von Willenbrocks Berliner Frühlingsgarten. Nur gibt es wahrscheinlich keinen dramatischeren Schluss dort, wo man zu akzeptieren bereit ist, dass die Welt so eingerichtet ist, wie sie ist. Übereinkünfte und Zugeständnisse sind die Stärke des Rechtsstaats. Willenbrock erfährt nur jene Unordnung der Welt, die beklagenswert im Einzelnen sein mag, im Ganzen jedoch verhindert, dass eine Nation von gekränkten Kohlhaas-Nachfolgern ihr Ordnungsbewusstsein der Welt aufnötigen kann.
Hein hat einmal bekannt, dass er das Publikum nicht belehren möchte. Chronist wolle er sein, der eine Sache mitzuteilen habe. Streiten lässt sich, ob alles Mitgeteilte, zum Beispiel die detaillierten Berichte über die Querelen beim Bau von Willenbrocks neuer Verkaufshalle, notwendig ist für diese Chronik eines kleinen Stückes deutscher Gegenwart. Auch gibt es hier und da stilistische Nachlässigkeiten, als ob es ein wenig zu hastig zugegangen sei mit der Umarmung durch den neuen Verlag. Aber das wird kompensiert durch eine hintergründige Kleist'sche Genauigkeit, so wenn es beim Besuch im Waffengeschäft heißt: "Der Verkäufer kratzte sich an einer kleinen Narbe am Handgelenk, dann nahm er das Gerät, das er auf dem Ladentisch abgelegt hatte, wieder auf, legte es in den Glaskasten zurück und schaute Willenbrock erwartungsvoll an." Bernd Willenbrocks innerer Monolog, mit dem er sich angesichts seiner Seitensprünge zur Nachsicht gegenüber der Untreue seiner Susanne nötigt, ist ein Stück exquisiter psychologischer Prosa. Denn Christoph Heins Roman, so durchsetzt er ist von den Spuren geschichtlichen Geschehens im letzten Halbjahrhundert, transzendiert am Ende alles konkret Politische in Richtung auf die Gebrechlichkeit von Mensch und Welt, wie Kleist das genannt haben würde.
Christoph Hein: "Willenbrock". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 319 S., geb., 39,80 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Man spürt: Gerhard Schulz wollte freundlich mit Heins Roman sein, obwohl er ihm nicht wirklich gefallen hat. Gleich zu Beginn macht er auf einen literarischen Urahn des Autohändlers Willenbrock aufmerksam, Kleists Michael Kohlhaas und dessen Rosshandel nämlich. Und dass es bei Hein um eine "der wichtigsten Ikonen deutschen Wertbewußtseins, um das Auto" geht. Routiniert aber etwas lustlos stellt Schulz dann Hauptfiguren und Handlungsstränge vor und holt sich Schreib- und Denkmotivation immer wieder bei Rückgriffen auf Kleist.. Es fällt auch das böse Wort Langeweile, das der Kritiker aber gleich zurücknimmt, um dem Roman durchaus Sogwirkung zu bescheinigen. Auch gebe es "hie und da stilistische Nachlässigkeiten", als sei es "ein wenig zu hastig zugegangen mit der Umarmung durch den neuen Verlag".
© Perlentaucher Medien GmbH
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