Der junge Goethe war ein ungestümer und unsteter Liebhaber: Verlassen und Verlassenwerden zeichnen sich als Lebensmuster ab. Seine Liebeserfahrungen entwickeln sich für Goethe zu Lebenserfahrungen, die er in Dichtung umsetzt. Besonders markant hierfür ist seine Liebe zur Pfarrerstochter Friederike Brion, die ihn zu den Gedichten der "Sesenheimer Lieder" angeregt hat.In Frankfurt und Leipzig erlebt der junge Goethe das erste Scheitern von Liebesbeziehungen: Er wird verlassen und rettet sich in sein dichterisches Talent. Die Verquickung von Liebe und Dichtung setzt sich auch in Sesenheim fort. Durch Friederike inspiriert, verfasst er einige seiner schönsten Gedichte, darunter das gewaltige "Willkomm und Abschied". Es nahm den wirklichen Abschied vorweg.Der Abschied: wir wissen nicht, warum er kam. Käthchen Schönkopf in Leipzig hatte ihn verlassen, jetzt verließ er Friederike: da war eine schlimme Urerfahrung ins Gegenteil verkehrt. Friederike hat später nicht geheiratet, eigentlichnie ein eigenes Leben geführt; sie blieb die Verlassene. Goethe war noch einmal davongekommen. Nur so konnte er wohl zum Dichter werden. Denn in den "Sesenheimer Liedern" hat Goethe eine dichterische Sprache gefunden wie vorher nie.Der renommierte Literaturwissenschaftler Helmut Koopmann geht hier den Lebensspuren des jungen Goethe nach, aber er will auch zeigen, was aus der Geliebten geworden ist: jener unglücklichen Friederike, die mit Goethe so glücklich gewesen war.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Friedmar Apel is not amused angesichts von Helmut Koopmanns Versuch, Goethes Verhältnis zu Käthchen Schönkopf in Leipzig beziehungsweise zu Friederike Brion in Sesenheim zu beleuchten. Daran dass der Autor ein Kenner des Goetheschen Werkes ist, hat der Rezensent dabei gar keinen Zweifel, und bekommt auch Kostproben der Textexegese im Buch. Umso erschrockener ist Apel allerdings, wenn er mitansehen muss, wie sich der "Liebeschronist" Koopmann in allerlei Vermutungen und "verquasten" Suggestionen, ja peinlichem biografistischen Tratsch ergeht, um zu beweisen, was die für Goethe-Biografik typische Zitatcollage aus Texten Goethes nun mal nicht hergibt. Da wird das "Heidenröslein" als literarisches Bekenntnis für eine Vergewaltigung gedeutet und längst widerlegte Gerüchte (die Brion eine Dorfhure!) wieder aufgewärmt. Apel stöhnt, aber ganz und gar nicht lustvoll.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.07.2014Der Dichter der Liebe war selbst ein eher wankelmütiger Liebhaber
Schnell entflammt und bald wieder auf dem Rückzug: Was Goethe der Sesenheimer Pfarrerstochter Friederike Brion antat, will Helmut Koopmann wissen
Goethe war der Dichter der Liebe. Umfassend und durchgängig erscheint sie in seinem Werk als Medium der Weltaneignung und Sinnstiftung, als Quelle aller Kreativität. Gleichwohl beschwört Goethes Sprache der Liebe keineswegs nur das Ideal der Harmonie, sie kennt von Anfang an Verletzung, Verlust und Enttäuschung. Im "Werther" oder in den "Wahlverwandtschaften" ist die Liebe sogar eine zerstörerische, soziale Normen außer Kraft setzende Naturgewalt, die das Individuum in Verwirrung und Unglück treibt. Doch auch im Scheitern und Verlassen bleibt die Liebe bei Goethe unabdingbar für die Bildung der Persönlichkeit.
Käthchen Schönkopf, Friederike Brion, Charlotte Buff, Charlotte von Stein, Corona Schröter, Lili Schönemann, Sylvie von Ziegesar, Minna Herzlieb, Marianne von Willemer ... Von je hat es die passionierten Goethe-Leser irritiert, dass der Dichter der Liebe offenbar ein höchst wankelmütiger Liebhaber war, schnell entflammt und bald wieder auf dem Rückzug. Goethe hat in seinen Werken, in Briefen und autobiographischen Aufzeichnungen ausführlich über seine Lieben wie über seine Abbrüche berichtet, und doch erfährt der neugierige Leser erstaunlich wenig über die tieferen Beweggründe.
So gehen die Spekulationen von je weit auseinander. Etwas Unberechenbares und Dämonisches hat man dem jungen Goethe attestiert, ein übersteigertes Freiheitsbedürfnis, das sich vor der Fessel der Liebe scheut, Herzenskälte oder narzisstische, vielleicht auch melancholische Liebesunfähigkeit, schließlich dichterische Berechnung, die Verlieben wie Verlassen gleichermaßen als Schreibanlass betrachtete. Den engen Zusammenhang zwischen Erlebnis und Dichtung hat Goethe selbst in prägnanten Sätzen vorgegeben, welche die Goethe-Biographik bis heute antreibt und zugleich beengt. Seine Dichtung sei eine Konfession, früh schon habe er die Gewohnheit angenommen, "dasjenige, was mich erfreute oder quälte oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen". Wie ernsthaft Goethes Liebeserfahrungen vor der Italien-Reise waren und wie weit sie gingen, scheint aber hinter dem dichten Gewebe der Biographik verborgen zu bleiben. Einen definitiven Befund hat nur Kurt Eisler in seiner überdimensionalen psychoanalytischen Studie zu Goethe gewagt. Aufgrund verdrängter Homosexualität sowie einer inzestuösen Bindung zu seiner Schwester Cornelia habe sich Goethe bis zu seinem römischen Aufenthalt, also bis zum neununddreißigsten Lebensjahr, des "genitalen Vollzugs" enthalten. Fern der heimatlichen Beengung soll dann Goethe die Sexualität in lieblich knarrenden römischen Betten umso lustvoller erfahren haben.
Helmut Koopmann hat schon der schwierigen Beziehung Goethes zu Charlotte von Stein nachgespürt und dabei trotz vieler fehlender Dokumente recht einseitig Partei für Frau von Stein ergriffen. Nun widmet er sich Goethes Verhältnis zu Käthchen Schönkopf in Leipzig und zu Friederike Brion in Sesenheim während des Straßburger Aufenthalts. Das "Vorspiel in Leipzig" zeigt gleich die Problematik des Buches wie der Goethe-Biographik. Die Darstellung ist über weite Strecken eine mit einfühlsamen Kommentaren bedachte Zitatcollage aus Texten von Goethe.
Die Briefe an Kätchen Schönkopf wurden gerade auch in ihrem bisweilen theatralischen Jammerton bisher überwiegend als dem empfindsamen Diskurs sich anpassende Tändelei gesehen. Koopmann nimmt gerade die Klagen ernster. Zwar phantasiere sich Goethe in allerlei hinein, "was nie gelebt worden war", erlebt wurde überhaupt recht wenig, dennoch habe sich Goethe zumindest zum Schluss "zerstört, mißachtet, verkannt, zurückgestoßen" und verlassen gefühlt. Gerade deshalb aber habe er zu einer neuen Sprache gefunden, die ihm zugleich als Heilmittel gedient habe.
Das gilt gesteigert für die Beziehung zu der Sesenheimer Pfarrerstochter Friederike Brion, in deren Dasein Goethe das gefunden habe, was sein Freund Herder nur predigte: "Ursprünglichkeit, Natürlichkeit, das Fehlen jeder Künstelei, übereinstimmendes Leben mit der Natur." Das stimmt freilich nicht recht damit zusammen, dass Goethe die Situation von vornherein literarisch überformt wahrnahm. Im Sesenheimer Pfarrhaus fand er wieder, was er in Oliver Goldsmiths Roman "The Vicar of Wakefield" gelesen hatte, und auch seine merkwürdigen Verkleidungsspiele, die er zu Friederikes Verblüffung aufführte, folgten literarischen Vorbildern.
Das abrupte Ende der Beziehung hinterließ bei Goethe erstaunlich wenig Nachwirkungen. Obwohl ihm der Abschiedsbrief angeblich das Herz zerrissen hatte, sei er "gesünder und froher" nach Frankfurt zurückgelangt. Spätere Äußerungen über die "kleine" Friederike klingen freundlich, aber ein wenig von oben herab. Andererseits scheint sich Goethe schuldig gefühlt zu haben. Das freilich nicht zum letzten Mal. Noch in der Erinnerung an die italienische Reise reflektiert er eine wiederkehrende Erfahrung, nämlich je in Gefahr gestanden zu haben, "Neigungen zu erregen, die, wenn sie auch kein tragisches Ende nehmen, doch schmerzlich genug, gefährlich und schädlich werden können".
Was nun der manifeste Grund für die Trennung war und was sie bei Friederike Brion auslöste, konnte, zumal dreißig Briefe Goethes an sie vernichtet wurden, in fast zweihundert Jahren "Friederikenforschung" (so spöttisch Karl Otto Conrady) nicht mit Bestimmtheit ermittelt werden. Koopmann scheint sich zunächst mit der These zu begnügen, Friederike sei "wohl nicht Person genug" gewesen. Im Übrigen habe sich Goethe aus den "Fesseln einer drohenden Ehe" befreit und zugleich von einer überkommenen Lyrik. Aber dann schwant ihm doch, "dass da mehr gewesen ist also nur eine ländliche Liebelei in den Grenzen des damals Üblichen und Zugestandenen". So ergeht sich der Liebeschronist in allerlei wie über den Gartenzaun geflüsterten Vermutungen über "Verführung oder noch Weitergehendes".
Das ginge noch an, ärgerlich wird es, wenn Koopmann in seltsam verquaster Suggestion versucht, die Vermutung durch literaturwissenschaftliche und andere Betisen aufzubauschen. So führt er an, der (später hinzugefügte) Titel des berühmtesten Sesenheimer Gedichts "Willkomm und Abschied" könne auf eine zeitgenössische juristische Wendung verweisen, mit der die Tracht Prügel gemeint war, die Straftätern bei Haftantritt verabreicht wurde, auf dass sie vor einer Wiederkehr zurückschrecken sollten. Das Gedicht ist nicht ohne Dämonie, weil es Geliebtwerden und Lieben in eins mit dem Abschied zu preisen scheint, dass Goethe es nachträglich mit einem solchen Zynismus rubriziert haben soll, ist aber abwegig. Koopmann glaubt daran selbst nicht im Ernst.
Ins Peinliche schlägt sein tentativer biographistischer Tratsch in der These um, beim berühmten "Heidenröslein" könne es sich um einen "literarischen Beweis" handeln. Im Kontext der Erlebnisse Goethes im Sommer 1771 gelesen, handele es sich ziemlich eindeutig um "eine Verführungsgeschichte. Eigentlich mehr noch: die Geschichte einer Vergewaltigung." Diese neuere, von einem sexualisierten, zugleich ins Prüde zurückschlagenden Zeitgeist zeugende Deutung soll wohl Koopmanns Vermutung stützen, Goethe habe ein Bekenntnis darin verborgen.
In dem Gedicht aber geht es in ältester, gleichwohl subtiler Symbolik um eine allgemeine Erfahrung, um die beiderseitigen Schmerzen jugendlicher Liebeswirrung. Der sonst so sensible Deuter verfährt hier aus durchsichtigem Grund plump. Aber damit nicht genug, zum Schluss müssen auch längst widerlegte Gerüchte noch einmal aufgewärmt werden, Friederike Brion sei hernach so etwas wie eine Dorfhure gewesen, bevor sie als Engel in die Literaturgeschichte einging. Das alles ist ziemlich abgestanden, schon Conrady hat es in seiner großen Biographie überzeugend abgewiesen.
Dabei ist Helmut Koopmann ein hervorragender Kenner des Goetheschen Werks, und so bietet das Buch viele Ansätze zum Verständnis auch weniger bekannter Texte des jungen Goethe. Das langatmige Hin und Her von Vermutungen und ihrer Rücknahme und vor allem die verdruckste Art der üblen Nachrede aber verderben dem geneigten Leser die Freude daran leider beträchtlich.
FRIEDMAR APEL
Helmut Koopmann: "Willkomm und Abschied. Goethe und Friedrike Brion." Verlag C. H. Beck, München 2014. 300 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schnell entflammt und bald wieder auf dem Rückzug: Was Goethe der Sesenheimer Pfarrerstochter Friederike Brion antat, will Helmut Koopmann wissen
Goethe war der Dichter der Liebe. Umfassend und durchgängig erscheint sie in seinem Werk als Medium der Weltaneignung und Sinnstiftung, als Quelle aller Kreativität. Gleichwohl beschwört Goethes Sprache der Liebe keineswegs nur das Ideal der Harmonie, sie kennt von Anfang an Verletzung, Verlust und Enttäuschung. Im "Werther" oder in den "Wahlverwandtschaften" ist die Liebe sogar eine zerstörerische, soziale Normen außer Kraft setzende Naturgewalt, die das Individuum in Verwirrung und Unglück treibt. Doch auch im Scheitern und Verlassen bleibt die Liebe bei Goethe unabdingbar für die Bildung der Persönlichkeit.
Käthchen Schönkopf, Friederike Brion, Charlotte Buff, Charlotte von Stein, Corona Schröter, Lili Schönemann, Sylvie von Ziegesar, Minna Herzlieb, Marianne von Willemer ... Von je hat es die passionierten Goethe-Leser irritiert, dass der Dichter der Liebe offenbar ein höchst wankelmütiger Liebhaber war, schnell entflammt und bald wieder auf dem Rückzug. Goethe hat in seinen Werken, in Briefen und autobiographischen Aufzeichnungen ausführlich über seine Lieben wie über seine Abbrüche berichtet, und doch erfährt der neugierige Leser erstaunlich wenig über die tieferen Beweggründe.
So gehen die Spekulationen von je weit auseinander. Etwas Unberechenbares und Dämonisches hat man dem jungen Goethe attestiert, ein übersteigertes Freiheitsbedürfnis, das sich vor der Fessel der Liebe scheut, Herzenskälte oder narzisstische, vielleicht auch melancholische Liebesunfähigkeit, schließlich dichterische Berechnung, die Verlieben wie Verlassen gleichermaßen als Schreibanlass betrachtete. Den engen Zusammenhang zwischen Erlebnis und Dichtung hat Goethe selbst in prägnanten Sätzen vorgegeben, welche die Goethe-Biographik bis heute antreibt und zugleich beengt. Seine Dichtung sei eine Konfession, früh schon habe er die Gewohnheit angenommen, "dasjenige, was mich erfreute oder quälte oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen". Wie ernsthaft Goethes Liebeserfahrungen vor der Italien-Reise waren und wie weit sie gingen, scheint aber hinter dem dichten Gewebe der Biographik verborgen zu bleiben. Einen definitiven Befund hat nur Kurt Eisler in seiner überdimensionalen psychoanalytischen Studie zu Goethe gewagt. Aufgrund verdrängter Homosexualität sowie einer inzestuösen Bindung zu seiner Schwester Cornelia habe sich Goethe bis zu seinem römischen Aufenthalt, also bis zum neununddreißigsten Lebensjahr, des "genitalen Vollzugs" enthalten. Fern der heimatlichen Beengung soll dann Goethe die Sexualität in lieblich knarrenden römischen Betten umso lustvoller erfahren haben.
Helmut Koopmann hat schon der schwierigen Beziehung Goethes zu Charlotte von Stein nachgespürt und dabei trotz vieler fehlender Dokumente recht einseitig Partei für Frau von Stein ergriffen. Nun widmet er sich Goethes Verhältnis zu Käthchen Schönkopf in Leipzig und zu Friederike Brion in Sesenheim während des Straßburger Aufenthalts. Das "Vorspiel in Leipzig" zeigt gleich die Problematik des Buches wie der Goethe-Biographik. Die Darstellung ist über weite Strecken eine mit einfühlsamen Kommentaren bedachte Zitatcollage aus Texten von Goethe.
Die Briefe an Kätchen Schönkopf wurden gerade auch in ihrem bisweilen theatralischen Jammerton bisher überwiegend als dem empfindsamen Diskurs sich anpassende Tändelei gesehen. Koopmann nimmt gerade die Klagen ernster. Zwar phantasiere sich Goethe in allerlei hinein, "was nie gelebt worden war", erlebt wurde überhaupt recht wenig, dennoch habe sich Goethe zumindest zum Schluss "zerstört, mißachtet, verkannt, zurückgestoßen" und verlassen gefühlt. Gerade deshalb aber habe er zu einer neuen Sprache gefunden, die ihm zugleich als Heilmittel gedient habe.
Das gilt gesteigert für die Beziehung zu der Sesenheimer Pfarrerstochter Friederike Brion, in deren Dasein Goethe das gefunden habe, was sein Freund Herder nur predigte: "Ursprünglichkeit, Natürlichkeit, das Fehlen jeder Künstelei, übereinstimmendes Leben mit der Natur." Das stimmt freilich nicht recht damit zusammen, dass Goethe die Situation von vornherein literarisch überformt wahrnahm. Im Sesenheimer Pfarrhaus fand er wieder, was er in Oliver Goldsmiths Roman "The Vicar of Wakefield" gelesen hatte, und auch seine merkwürdigen Verkleidungsspiele, die er zu Friederikes Verblüffung aufführte, folgten literarischen Vorbildern.
Das abrupte Ende der Beziehung hinterließ bei Goethe erstaunlich wenig Nachwirkungen. Obwohl ihm der Abschiedsbrief angeblich das Herz zerrissen hatte, sei er "gesünder und froher" nach Frankfurt zurückgelangt. Spätere Äußerungen über die "kleine" Friederike klingen freundlich, aber ein wenig von oben herab. Andererseits scheint sich Goethe schuldig gefühlt zu haben. Das freilich nicht zum letzten Mal. Noch in der Erinnerung an die italienische Reise reflektiert er eine wiederkehrende Erfahrung, nämlich je in Gefahr gestanden zu haben, "Neigungen zu erregen, die, wenn sie auch kein tragisches Ende nehmen, doch schmerzlich genug, gefährlich und schädlich werden können".
Was nun der manifeste Grund für die Trennung war und was sie bei Friederike Brion auslöste, konnte, zumal dreißig Briefe Goethes an sie vernichtet wurden, in fast zweihundert Jahren "Friederikenforschung" (so spöttisch Karl Otto Conrady) nicht mit Bestimmtheit ermittelt werden. Koopmann scheint sich zunächst mit der These zu begnügen, Friederike sei "wohl nicht Person genug" gewesen. Im Übrigen habe sich Goethe aus den "Fesseln einer drohenden Ehe" befreit und zugleich von einer überkommenen Lyrik. Aber dann schwant ihm doch, "dass da mehr gewesen ist also nur eine ländliche Liebelei in den Grenzen des damals Üblichen und Zugestandenen". So ergeht sich der Liebeschronist in allerlei wie über den Gartenzaun geflüsterten Vermutungen über "Verführung oder noch Weitergehendes".
Das ginge noch an, ärgerlich wird es, wenn Koopmann in seltsam verquaster Suggestion versucht, die Vermutung durch literaturwissenschaftliche und andere Betisen aufzubauschen. So führt er an, der (später hinzugefügte) Titel des berühmtesten Sesenheimer Gedichts "Willkomm und Abschied" könne auf eine zeitgenössische juristische Wendung verweisen, mit der die Tracht Prügel gemeint war, die Straftätern bei Haftantritt verabreicht wurde, auf dass sie vor einer Wiederkehr zurückschrecken sollten. Das Gedicht ist nicht ohne Dämonie, weil es Geliebtwerden und Lieben in eins mit dem Abschied zu preisen scheint, dass Goethe es nachträglich mit einem solchen Zynismus rubriziert haben soll, ist aber abwegig. Koopmann glaubt daran selbst nicht im Ernst.
Ins Peinliche schlägt sein tentativer biographistischer Tratsch in der These um, beim berühmten "Heidenröslein" könne es sich um einen "literarischen Beweis" handeln. Im Kontext der Erlebnisse Goethes im Sommer 1771 gelesen, handele es sich ziemlich eindeutig um "eine Verführungsgeschichte. Eigentlich mehr noch: die Geschichte einer Vergewaltigung." Diese neuere, von einem sexualisierten, zugleich ins Prüde zurückschlagenden Zeitgeist zeugende Deutung soll wohl Koopmanns Vermutung stützen, Goethe habe ein Bekenntnis darin verborgen.
In dem Gedicht aber geht es in ältester, gleichwohl subtiler Symbolik um eine allgemeine Erfahrung, um die beiderseitigen Schmerzen jugendlicher Liebeswirrung. Der sonst so sensible Deuter verfährt hier aus durchsichtigem Grund plump. Aber damit nicht genug, zum Schluss müssen auch längst widerlegte Gerüchte noch einmal aufgewärmt werden, Friederike Brion sei hernach so etwas wie eine Dorfhure gewesen, bevor sie als Engel in die Literaturgeschichte einging. Das alles ist ziemlich abgestanden, schon Conrady hat es in seiner großen Biographie überzeugend abgewiesen.
Dabei ist Helmut Koopmann ein hervorragender Kenner des Goetheschen Werks, und so bietet das Buch viele Ansätze zum Verständnis auch weniger bekannter Texte des jungen Goethe. Das langatmige Hin und Her von Vermutungen und ihrer Rücknahme und vor allem die verdruckste Art der üblen Nachrede aber verderben dem geneigten Leser die Freude daran leider beträchtlich.
FRIEDMAR APEL
Helmut Koopmann: "Willkomm und Abschied. Goethe und Friedrike Brion." Verlag C. H. Beck, München 2014. 300 S., geb., 22,95 [Euro].
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