Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.02.2016Flüchtlingen ins Gesicht geschaut
Bildband dokumentiert ihre Ankunft in Darmstadt
h.r. DARMSTADT. Die Flüchtlingskrise hat eine europäische Sinnkrise ausgelöst. Und die scheint einen ihrer Gründe in der Komplexität des Phänomens zu haben. Wer sind die Menschen, die nach Deutschland kommen? Was sind ihre Motive und ihre Wünsche? Welche Einstellungen bringen sie mit, welche Fähigkeiten? Auf solche Fragen authentische Antworten geben zu können ist schwer, sind doch die Asylbewerber in ihren Unterkünften mehr verborgen als sichtbar. Das zumindest war der Eindruck, der den Verleger Gerd Ohlhauser dazu brachte, jener "Flüchtlingskrise" auf den Grund zu gehen, über die vom Spätsommer an jeder sprach, aber die für die meisten Menschen kein "Gesicht" hatte.
Herausgekommen ist das Fotobuch der Edition Darmstadt "Willkommen in Darmstadt - Den Geflüchteten ein Gesicht geben. Ihre Ankunft im Herbst 2015". Der Fotograf Christoph Rau war für die Publikation wochenlang mit seiner Kamera in Darmstadt unterwegs und hat die Menschen und ihre neue Lebenssituation unermüdlich festgehalten: wie sie im Bus nach Darmstadt ins Erstaufnahmelager "Michaelisdorf" transportiert werden, wie sie rucksackbeladen Zelte beziehen, wie sie Schlange stehen bei der Registrierung. Ebenso wie sie in der Darmstädter Kleiderkammer nach Hosen und Jacken suchen, vor einer Schultafel sitzen und Deutsch lernen, Fußball spielen und Geburtstag feiern. Rau hat aber auch die Krisensitzung der Einsatzkräfte dokumentiert, die Hilfe der ehrenamtlichen Kräfte und das große Willkommensfest in der Darmstädter Innenstadt.
Mit den 280 Fotografien des Buchs soll es gelingen, die Geflüchteten aus ihrer Fremdheit und Anonymität herauszuholen. "Wer ihnen ins Gesicht schaut, in dem ihr Schicksal und Hoffen geschrieben steht, wird ihnen unweigerlich Mitgefühl und Wohlwollen entgegenbringen", sagt Ohlhauser. Rau hat dies auch als Auftrag verstanden, wie seine vielen eindrücklichen Personenporträts zeigen. "Willkommen in Darmstadt" bietet auf diese Weise eine tatsächlich ungewöhnliche Nähe.
Dazu trägt auch der informative Text von Bettina Bergstedt bei. Die Journalistin beschreibt ausführlich die Zeit seit August 2015, als die Stadt erstmals angewiesen wurde, so schnell wie möglich eine Zeltstadt für bis zu 700 Menschen zu errichten. Ihr Bericht dokumentiert die beeindruckende Fähigkeit von Katastrophenschutzeinheiten, Feuerwehr, Polizei, Wohlfahrtsverbänden, staatlichen Ämtern und Behörden und vielen Bürgern, den Zustrom so vieler Menschen zu bewältigen.
Das unaufdringliche Lob der Kraft einer demokratischen Zivilgesellschaft ergänzt Bergstedt durch Einzelschicksale, wie das der kleinen Sahar aus Afghanistan, die im Michaelisdorf lebte. Sie hat zusammen mit ihrer Mutter und ihren vier Geschwistern in Darmstadt den zwölften Geburtstag feiern können. Ein Restaurantbesitzer hatte die Familie eingeladen und sogar einen Kuchen mit zwölf Kerzen auf den Tisch gestellt. Als Sahar die Kerzen ausblies, wünschte sie sich, im nächsten Jahr mit der gesamten Familie feiern zu können. Denn ihr Vater war nicht dabei: "Er ist uns auf der Flucht verlorengegangen, und wir wissen nicht, wo er ist", sagte das Mädchen, die jeden Tag jene Ohrringe trägt, die ihr der Vater vor der Flucht geschenkt hatte.
Das Buch "Willkommen in Darmstadt" ist als 14. Band der Edition Darmstadt erschienen, 320 Seiten, 14,80 Euro. Im Preis enthalten ist eine Spende von zwei Euro für die Flüchtlingshilfe.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bildband dokumentiert ihre Ankunft in Darmstadt
h.r. DARMSTADT. Die Flüchtlingskrise hat eine europäische Sinnkrise ausgelöst. Und die scheint einen ihrer Gründe in der Komplexität des Phänomens zu haben. Wer sind die Menschen, die nach Deutschland kommen? Was sind ihre Motive und ihre Wünsche? Welche Einstellungen bringen sie mit, welche Fähigkeiten? Auf solche Fragen authentische Antworten geben zu können ist schwer, sind doch die Asylbewerber in ihren Unterkünften mehr verborgen als sichtbar. Das zumindest war der Eindruck, der den Verleger Gerd Ohlhauser dazu brachte, jener "Flüchtlingskrise" auf den Grund zu gehen, über die vom Spätsommer an jeder sprach, aber die für die meisten Menschen kein "Gesicht" hatte.
Herausgekommen ist das Fotobuch der Edition Darmstadt "Willkommen in Darmstadt - Den Geflüchteten ein Gesicht geben. Ihre Ankunft im Herbst 2015". Der Fotograf Christoph Rau war für die Publikation wochenlang mit seiner Kamera in Darmstadt unterwegs und hat die Menschen und ihre neue Lebenssituation unermüdlich festgehalten: wie sie im Bus nach Darmstadt ins Erstaufnahmelager "Michaelisdorf" transportiert werden, wie sie rucksackbeladen Zelte beziehen, wie sie Schlange stehen bei der Registrierung. Ebenso wie sie in der Darmstädter Kleiderkammer nach Hosen und Jacken suchen, vor einer Schultafel sitzen und Deutsch lernen, Fußball spielen und Geburtstag feiern. Rau hat aber auch die Krisensitzung der Einsatzkräfte dokumentiert, die Hilfe der ehrenamtlichen Kräfte und das große Willkommensfest in der Darmstädter Innenstadt.
Mit den 280 Fotografien des Buchs soll es gelingen, die Geflüchteten aus ihrer Fremdheit und Anonymität herauszuholen. "Wer ihnen ins Gesicht schaut, in dem ihr Schicksal und Hoffen geschrieben steht, wird ihnen unweigerlich Mitgefühl und Wohlwollen entgegenbringen", sagt Ohlhauser. Rau hat dies auch als Auftrag verstanden, wie seine vielen eindrücklichen Personenporträts zeigen. "Willkommen in Darmstadt" bietet auf diese Weise eine tatsächlich ungewöhnliche Nähe.
Dazu trägt auch der informative Text von Bettina Bergstedt bei. Die Journalistin beschreibt ausführlich die Zeit seit August 2015, als die Stadt erstmals angewiesen wurde, so schnell wie möglich eine Zeltstadt für bis zu 700 Menschen zu errichten. Ihr Bericht dokumentiert die beeindruckende Fähigkeit von Katastrophenschutzeinheiten, Feuerwehr, Polizei, Wohlfahrtsverbänden, staatlichen Ämtern und Behörden und vielen Bürgern, den Zustrom so vieler Menschen zu bewältigen.
Das unaufdringliche Lob der Kraft einer demokratischen Zivilgesellschaft ergänzt Bergstedt durch Einzelschicksale, wie das der kleinen Sahar aus Afghanistan, die im Michaelisdorf lebte. Sie hat zusammen mit ihrer Mutter und ihren vier Geschwistern in Darmstadt den zwölften Geburtstag feiern können. Ein Restaurantbesitzer hatte die Familie eingeladen und sogar einen Kuchen mit zwölf Kerzen auf den Tisch gestellt. Als Sahar die Kerzen ausblies, wünschte sie sich, im nächsten Jahr mit der gesamten Familie feiern zu können. Denn ihr Vater war nicht dabei: "Er ist uns auf der Flucht verlorengegangen, und wir wissen nicht, wo er ist", sagte das Mädchen, die jeden Tag jene Ohrringe trägt, die ihr der Vater vor der Flucht geschenkt hatte.
Das Buch "Willkommen in Darmstadt" ist als 14. Band der Edition Darmstadt erschienen, 320 Seiten, 14,80 Euro. Im Preis enthalten ist eine Spende von zwei Euro für die Flüchtlingshilfe.
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