Vom Unbehagen in der Kultur
Der dritte von vier bisher erschienenen Zeitromanen des Schriftstellers Norbert Niemann erschien 2008 unter dem - bezogen auf den Inhalt - sarkastischen Titel «Willkommen neue Träume». Dieses eher selten anzutreffende literarische Genre ist durch seine Zeitkritik
geprägt, die Zeit selbst also steht im Mittelpunkt dieser Sonderform des Gesellschafts-Romans. Hier ist…mehrVom Unbehagen in der Kultur
Der dritte von vier bisher erschienenen Zeitromanen des Schriftstellers Norbert Niemann erschien 2008 unter dem - bezogen auf den Inhalt - sarkastischen Titel «Willkommen neue Träume». Dieses eher selten anzutreffende literarische Genre ist durch seine Zeitkritik geprägt, die Zeit selbst also steht im Mittelpunkt dieser Sonderform des Gesellschafts-Romans. Hier ist es die Gegenwart zu Beginn des 21ten Jahrhunderts, und zwar in all ihren politischen, sozialen, ökonomischen, kulturellen und medialen Aspekten.
Ort der Handlung ist eine fiktive Kreisstadt in Bayern, in Alpennähe malerisch an einem See gelegen. Mit dem Zug kehrt der erfolgreiche junge Fernsehjournalist Asger Weidenfeldt aus Berlin zu seiner Mutter Clara zurück, die dort eine pompöse Villa mit eigenem Seezugang besitzt. Als einst gefeierte Filmdiva hat sie sich in ihr Refugium zurückgezogen, und auch für ihren versnobten Sohn ist dies ein Rückzug aus dem Beruf, den er trotz aller Erfolge für sich als zunehmend sinnlos empfindet. Sie haben beide auf Abstand gelebt in den letzten Jahren und fremdeln regelrecht, jeder lebt für sich in der alten Villa. Der Bürgermeister des Ortes steht mit der exzentrischen Diva auf gutem Fuß, beide profitieren voneinander, mehr ist da nicht, obwohl die Leute es glauben. Und so hilft er ihr auch bereitwillig, das zu Ehren ihres Sohnes geplante, große Fest mit den Freunden und Begleitern von einst zu organisieren. Asger ist entsetzt über die illustren Gäste, die als Prominente aus allen Bereichen von Kunst und Kultur stammen und ihn genau so anwidern wie der abgeschmackte Medienbetrieb in der Hauptstadt, vor dem er geflohen ist. Durch ein plötzlich hereinbrechendes Unwetter werden die Disharmonien unter den fragwürdigen Gästen symbolisch überformt, das rauschende Fest endet im Chaos.
Asger nimmt zuallererst Kontakt zu seinem ehemals besten Freund auf, der Leiter des Stadtarchivs geworden ist und nun ein bürgerliches Leben mit Frau und Kindern führt. Beide waren in der Schule besonders bei ihrem inzwischen pensionierten Deutschlehrer für ihre intellektuell beachtlichen, kritischen Beiträge im Unterricht beliebt. Mit der unehelichen Tochter der Sekretärin im Bürgermeisteramt führt der Autor eine weitere Figur ein, die in die Fußstapfen der Diva tritt und eine raketenartige Karriere als TV-Serienstar hinlegt. Der junge neue Pfarrer erweist sich als eifriger Disputant für seine Sache und bleibt in lebhaften Diskussionen mit dem Deutschlehrer, dem Archivar und Asger auf keinen ketzerischen Anwurf eine Antwort schuldig. Der Roman lebt von den philosophischen Disputen ebenso wie von den kontemplativen inneren Monologen seiner diversen Figuren. Jede von ihnen ist auf ihre Weise auf der Sinnsuche, versucht auszubrechen aus den eingefahrenen Wegen, hadert mit den anbrechenden neuen Zeiten und den veränderten Realitäten, die nichts Gutes zu bringen scheinen.
Dieses breit angelegte Panorama der deutschen Gesellschaft wird von den vielen Figuren getragen, deren Rede oft durch den auktorialen Erzähler ergänzt wird. Allzu offensichtlich dienen ihm seine Figuren zur Verkündung eigener Thesen, den handelnden Personen unterlegt er seinen eigenen Duktus in den heftig geführten Debatten. Neben den im Mittelpunkt stehenden künstlerischen und kulturellen Fehlentwicklungen werden auch der ausufernde Konsumterror und die Umwelt-Zerstörung mit allen ihren Folgen thematisiert. Und dazu gehört natürlich auch die Klimakatastrophe, die in den Roman als so noch nie dagewesenes Hochwasser eingebaut ist. Diese radikale Zeitdiagnose ist in einem wortgewaltigen, messerscharf formulierten Stil geschrieben, dessen Prägnanz Satz für Satz wie in Stein gemeißelt erscheint. Auch die Figurenzeichnung ist stimmig, nur der Held, Asger, bleibt relativ farblos in seinem kultur-pessimistischen Selbstmitleid. Und in der Sache kann man den vielen Thesen im Buch ebenso viele Einwände entgegenhalten, - man würde jedenfalls gern mitdiskutieren!