Willy Brandt hat vieles erlebt: Gestolpert und gestürzt ist er über Gegner und Neider, über Frauen und Spione und nicht zuletzt über sich selbst. Doch gescheitert ist er nicht: Willy Brandt war einer der bedeutendsten und zugleich populärsten Kanzler der Bundesrepublik. Mit dieser ersten großen Brandt-Biographie schuf der Historiker Gregor Schöllgen ein einzigartiges Porträt des Menschen und eine kritische Würdigung des Politikers Willy Brandt.
Willy Brandt war einer der bedeutendsten und zugleich populärsten Kanzler der Bundesrepublik. Wie nur wenige hat er das politische Klima in unserem Land geprägt.
Mit dieser ersten großen Biographie gelang dem Historiker Gregor Schöllgen ein einzigartiges Porträt des Menschen und eine kritische Würdigung des Politikers Willy Brandt.
Willy Brandt war einer der bedeutendsten und zugleich populärsten Kanzler der Bundesrepublik. Wie nur wenige hat er das politische Klima in unserem Land geprägt.
Mit dieser ersten großen Biographie gelang dem Historiker Gregor Schöllgen ein einzigartiges Porträt des Menschen und eine kritische Würdigung des Politikers Willy Brandt.
Mit Blicken vor und hinter die Kulissen: Gregor Schöllgen erzählt aus dem Leben des Kanzlers und SPD-Vorsitzenden Brandt
Gregor Schöllgen: Willy Brandt. Die Biographie. Propyläen Verlag, Berlin/München 2001. 320 Seiten, 48,90 Mark.
Was ist Diskretion? Wenn im Personenregister eines neuen Buches über Willy Brandt unter "Bruns, Wibke" auf Seite 205 verwiesen wird, dort aber der Name der Journalistin nicht auftaucht. Statt dessen versetzt der Biograph den nachschlagenden Leser mitten in die Ereignisse des 1. Mai 1974, unmittelbar vor dem Rücktritt des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers. Wer erinnert sich noch? Am 24. April 1974 erfuhr Brandt, daß sein Referent Günter Guillaume verhaftet worden sei, sich sogar mit Stolz als Offizier der Volksarmee der DDR zu erkennen gegeben habe. 48 Stunden später behauptete der Bundeskanzler vor dem Bundestag, daß der Spion "nicht mit Geheimakten befaßt" gewesen sei.
Am "Tag der Arbeit" - auf Seite 205 - erscheint nun Klaus Kinkel, Persönlicher Referent des Bundesinnenministers, beim Regierungschef und zeigt ihm einen Brief des Bundeskriminalamt-Präsidenten Horst Herold an Hans-Dietrich Genscher. Es geht um Frauen-Affären. Was der Kanzler zu lesen bekommt, "verblüfft ihn dann doch: So viele sollen es gewesen sein, rund um den Globus, in Hotels, Zügen und wer weiß noch? An manche Situationen kann er sich gar nicht erinnern, zumal kaum Namen genannt werden. Überhaupt nur vier sind es, darunter ein Name, den die Gewährsleute nicht einmal korrekt zu buchstabieren wissen, und derjenige einer bundesweit bekannten Journalistin, die Brandt nach Guillaumes Aussage allerdings erst im ,zweiten Anlauf geschafft' haben soll. Im übrigen sind den Schnüfflern bestenfalls der Beruf beziehungsweise die Nationalität der einen oder anderen Dame oder auch ein Schmuckstück erinnerlich, das angeblich im Bett des Kanzlers gefunden worden ist und später von den Medien besagter Journalistin angedichtet wird."
In den 1989 erschienenen "Erinnerungen" sprach Brandt von einem "Produkt blühender Phantasie". Hier widerspricht Biograph Gregor Schöllgen: "Daß er sich gelegentlich mit einer Dame zurückgezogen hat, in ein Hotelzimmer oder auch in die Kanzlerräume des Sonderzuges, ist wohl richtig. Aber, was dann?" Ja, was dann gewesen sein könnte, darauf gibt der kundige Erlanger Wissenschaftler nun doch keine Antwort und verschont den Leser mit Spekulationen. Ein Romanautor hätte weiter ausmalen können, während sich der Historiker - weil bekanntlich nicht alles in den Akten steht - nun wegen fehlender schriftlicher Zeugnisse ganz auf die Zeitzeugen verlassen muß. So fährt Schöllgen fort: "Gewiß, mancher Weggefährte hat bei Brandt schon in den fünfziger Jahren Züge der Hemmungslosigkeit im Umgang mit Frauen beobachtet; andere glauben, der Einsame habe diese Nähe gebraucht; und dann der Streß, gerade in Zeiten des Wahlkampfes. Welche Rolle Frauen für Willy Brandt wirklich spielen, hat sich in den forschenden Polizistenaugen ohnehin nicht erschließen können."
Aber auch dem analytisch-scharfen Historikerblick bleibt manches verborgen. Schöllgen weiß das, und so macht er gar nicht erst den Versuch, den herausragenden Sozialdemokraten in mehreren Bänden bis in alle tagespolitischen Einzelheiten hinein zu porträtieren. Vielmehr verzichtet Schöllgen auf Tausende von Anmerkungen, auf Hunderte von Auszügen aus Reden und Aufzeichnungen. Er löst sich bewußt von ihm wohlbekannten Quellenmassen und konzentriert sich darauf, das Leben Brandts vor und hinter den Kulissen spannend zu erzählen und pointiert zu gewichten. Auch der geringe Umfang von dreihundert Seiten zielt auf ein großes Publikum.
Im Mittelpunkt des gelungenen Buches steht nicht nur der Politiker, sondern vor allem der Mensch Willy Brandt, der am 18. Dezember 1913 als nichteheliches Kind mit dem Namen Herbert Ernst Karl Frahm in der Hansestadt Lübeck das Licht der Welt erblickte. Im Alter von 19 Jahren nahm er - im Kampf gegen die nationalsozialistische Diktatur - erstmals den Namen Willy Brandt an. Durch die "vaterlose" Herkunft, das journalistische Wirken im Exil in Skandinavien, die Verbindungen zu Vertretern des deutschen Widerstandes, die Rückkehr nach Deutschland in norwegischer Uniform zur Berichterstattung über den Nürnberger Prozeß 1946 und die nach der Wiedereinbürgerung 1949 amtlich vollzogene Namensänderung bot Brandt natürlich mancherlei Angriffsfläche für Verleumdungskampagnen seiner politischen Gegner. Hinzu kamen die kleinen und größeren Schwächen des Genußmenschen: gutes Essen, Alkohol (von eigenen Genossen als "Weinbrand-Willy" diffamiert), Nikotin und eben das Ewigweibliche.
Schon allein mit den drei Ehefrauen hielt Brandt in seiner Politiker-Generation sicherlich den bundesdeutschen Rekord: Die erste war seit 1941 die zehn Jahre ältere Norwegerin Anna Carlota Thorkildsen (eine gemeinsame Tochter: Ninja Frahm), die zweite seit 1949 die acht Jahre jüngere und eheerfahrene Norwegerin Rut Bergaust geborene Hansen (drei gemeinsame Söhne: Peter, Lars und Matthias) und die dritte die - 1977 als Redenschreiberin für den SPD-Parteivorsitzenden eingestellte und 1983 geehelichte - 33 Jahre jüngere Historikerin Brigitte Seebacher-Brandt, auch BSB genannt.
Schöllgens Bewunderung gilt Rut Brandt, die den schwierigen Helden über drei Jahrzehnte hinweg ge- und unterstützt hat. Demgegenüber bescheinigt der Biograph der Ehefrau Nr. 3 "beträchtlichen Ehrgeiz" und "enormen" Einfluß auf den Altkanzler. Nicht nur bei Brandts reger publizistischer Tätigkeit sei "ihre Handschrift mit der Zeit erkennbar" geworden, sondern auch äußerlich: "Unmittelbar äußert sich das neue Glück in den meist kräftig gestreiften Hemden mit mehr oder weniger passender Krawatte." Schöllgen wundert sich darüber, wie sich die BSB "bald nach dem Tod ihres Mannes von restlos allem trennt, was an die gemeinsame Zeit erinnert . . . : Möbel, Bilder, Bücher, intime Korrespondenzen - alles nimmt leidenschaftslos seinen Weg ins Archiv." Positiv stellt er demgegenüber heraus, wie sie den seit Ende 1991 in Unkel am Rhein "Dahinsiechenden aufopferungsvoll" bis zu seinem Tod am 8. Oktober 1992 betreute.
Brandts Nachkriegskarriere begann im freien Teil Berlins: 1955 wurde er Präsident des Abgeordnetenhauses, 1957 Regierender Bürgermeister. Auf bundesdeutscher Ebene wurde er von Herbert Wehner "aufgebaut und durchgeboxt": 1961 und 1965 war Brandt Kanzlerkandidat der SPD, 1964 wurde er Parteivorsitzender. Wehner hielt den sehr empfindlichen Brandt übrigens schon Anfang der sechziger Jahre "für einen Schlappschwanz", brauchte ihn aber als jugendlich, sympathisch und dynamisch wirkenden Hoffnungsträger der deutschen Sozialdemokratie. Sich selbst baute der Regierende Bürgermeister hin und wieder mit der Losung auf: "Nichts ist mit Nichtstun zu lösen."
Als Wehner sein Lieblingsprojekt einer Großen Koaltion aus CDU und SPD endlich Ende 1966 durchsetzen konnte, verließ Brandt, der eigentlich nach der Bundestagswahlniederlage von 1965 zu keiner dritten Kanzlerkandidatur mehr bereit war, seinen Berliner "Traumjob". Zunächst wurde er im Dezember 1966 Außenminister und Vizekanzler unter Kurt Georg Kiesinger, dann im Oktober 1969 Bundeskanzler: "Was für ein Triumph, welche Genugtuung! Der aus Deutschland Geflohene, von Deutschen Verfolgte und Diffamierte hat . . . den Gipfel der politischen Macht in Deutschland erklommen - aber um welchen Preis! Wenn jedem Menschen im Laufe seines Lebens ein gegebener Kräftehaushalt zur Verfügung steht, dann hat dieser Mann . . . sein Budget fast ausgeschöpft." Bis 1972 habe ihm ein "exzellentes Kabinett" zu Seite gestanden, habe er manches bewegen können.
Nach dem Wahlsieg vom November 1972 begann allerdings der Abstieg. "Willy Wolke" nannte man den Träger des Friedensnobelpreises von 1971 hinter vorgehaltener Genossenhand, weil der Kanzler mittlerweile selbst an die ihm zugeschriebene Rolle des großen Heilsbringers und Visionärs glaubte. Selbst im Kanzleramt trat er plötzlich anders auf, wollte nicht mehr nur "Primus inter pares" sein, sondern kehrte den Boß heraus. Helmut Schmidt und Herbert Wehner drängten den auch gesundheitlich Angeschlagenen schließlich zu der Entscheidung vom 6. Mai 1974, die "politische Verantwortung für Fahrlässigkeiten im Zusammenhang mit der Agentenaffäre Guillaume" zu übernehmen und zurückzutreten. Damit sei - so Schöllgen - für den längst Überforderten "ein Leidensweg" zu Ende gegangen.
Nach kurzer Erholungsphase lief Brandt noch einmal zur Hochform auf: Er blieb Bundestagsabgeordneter, bis 1987 auch Parteivorsitzender der SPD, wurde zudem etwa Präsident der Sozialistischen Internationale, Vorsitzender der Nord-Süd-Kommission. Im Zusammenhang mit der Nachrüstungsdebatte (Nato-Doppelbeschluß) 1981/82 fiel er sogar dem Nachfolger Helmut Schmidt in den Rücken.
Schöllgen kehrt Brandts deutschlandpolitische Irrpfade vor 1989 nicht unter einen hochpolierten Wiedervereinigungstisch: wie sich Brandt von Honecker, dem angeblich "letzten Gesamtdeutschen", im September 1985 wie ein Staatsgast hofieren ließ, wie er drei Jahre später die Einheit Deutschlands als "spezifische Lebenslüge der zweiten deutschen Republik" bezeichnete. Immerhin war er vom 10. November 1989 an nicht sprachlos, sondern geradezu sprachgewaltig, um seine Genossen in der deutschen Frage, in der "Neuvereinigung" auf Vordermann zu bringen. Bundeskanzler Kohl, der (ebenfalls wenig vorausschauend) 1987 noch den Ost-Berliner Staatsratsvorsitzenden mit protokollarischen Ehren in Bonn empfangen und damit zur Aufwertung der SED- und Stasi-Herrschaft beigetragen hatte, habe "in dieser bewegten Zeit häufig den Rat des Elder statesman" gesucht. Damals seien sich die beiden - wie Kohl jetzt Schöllgen berichtet hat - "in der Beurteilung immer näher" gekommen. Sie kannten offensichtlich vorübergehend keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche.
RAINER BLASIUS
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