Helga Grebing, die bekannte Historikerin der Arbeiterbewegung und Mitherausgeberin der 'Berliner Ausgabe' von Brandts Schriften, entwirft ihr ganz eigenes und doch auf Objektivität zielendes Bild der Person und des Politikers Willy Brandt. Sie begegnete Willy Brandt erstmals 1949: 'Irgendwie, so erinnere ich mein damaliges Empfinden, wurde der dunkelmuffige Raum heller, und der sogleich beindruckende Mann vemittelte in seiner kurzen Rede Zuversicht auf eine ganz andere Zukunft, an der auch wir mitarbeiten wollten.' In den Jahrzehnten danach beobachtete sie den Politiker Brandt nicht nur aus der Ferne der Wissenschaft, sondern ist ihm als politische Mitstreiterin auch immer wieder begegnet.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2008Der heilige Willy
Helga Grebing will die SPD erbauen / Von Peter Voß
Nach Peter Merseburger, Brigitte Seebacher, Gregor Schöllgen und anderen unternimmt es nun Helga Grebing, ihr Bild von Willy Brandt zu beschreiben, den sie als den "anderen Deutschen" schlechthin würdigen will. Sie will sich abheben von Brandt-Deutern, denen ihr Held durchaus widersprüchlich - etwa als "Visionär und Realist" oder als "pragmatischer Idealist" - erscheint, und mag in solchen Gegensatzpaaren nur Widersprüche in der Wahrnehmung der Biographen erkennen. Im konfliktscheuen, von Selbstzweifeln oder gar Depressionen heimgesuchten "Visionär" sieht sie ohnehin nur ein Stereotyp der Interpreten und mag der komplexen Persönlichkeit Brandts allenfalls "Vielschichtigkeit" attestieren. Kein Träumer oder gar Spinner sei er gewesen. Vielmehr habe Brandt Wirklichkeitssinn und Mut bewiesen als Patriot, als Europäer, als Weltbürger - und dies alles "weitgehend bruchlos" -, auch als Vordenker der Globalisierung, als erster Medienkanzler, vor allem aber als oft unterschätzter SPD-Vorsitzender, der "demokratischen Sozialismus" mit "konsequent verwirklichter Demokratie" gleichsetzte. Auch wenn sich die Autorin von Klischees freihalten will und um eine nüchterne Diktion bemüht, ist da eine gewisse Tendenz zur Glorifizierung unverkennbar.
Brandts politisches Leben wird noch einmal gründlich und genau rekapituliert: die politische Sozialisierung in Lübeck, das Wachsen am und im skandinavischen Exil, der neue Start in Berlin, die Kanzlerschaft seit 1969 und der Sturz über Guillaume 1974, schließlich besonders eingehend die späten Jahre als Führer und Vordenker der deutschen und internationalen Sozialdemokratie. Doch das für nicht wenige (Zeit-)Genossen faszinierend wie auch irritierend Mehrdeutige, das Changierende im politischen Agieren Brandts wird nicht untersucht oder gar erklärt, sondern letztlich auf die Formel "Grundsatztreue plus Flexibilität" reduziert.
Dass der Patriot Brandt, "links und frei", ein anderes Deutschland wollte als die Konservativen, dass er Demokratisierung als permanenten Prozess sah, der die ganze Gesellschaft durchdringen sollte - das ist nicht neu und wird akribisch belegt. Dass darin allerdings ein Problem liegt, weil Freiheit und Gleichheit - ebenso wie Freiheit und Sicherheit - nicht deckungsgleich zu verwirklichen sind, sondern permanent gegeneinander abgewogen werden müssen, wird einfach ausgeblendet. Als ob Brandts Integrationskraft nicht auch auf seiner Gabe, Unvereinbarkeiten rhetorisch zu überspielen, beruht hätte, weil seine einprägsamen, lebendig und mit Leidenschaft vorgetragenen Formulierungen gleichwohl die nötige Unklarheit und Unverbindlichkeit aufwiesen, um sie als zukunftsweisend (eben doch visionär?) erscheinen zu lassen. Sein Charisma fügte zusammen, was nicht unbedingt zusammengehört - und dieses Phänomen erkennt die Autorin gar nicht erst als Problem. Und deshalb kommt sie auch nicht auf die Frage, ob seine epochale Leistung wie auch sein Scheitern etwas damit zu tun haben könnten.
Denn dass Brandts Integrationskurs zumindest eine SPD in der Regierungsverantwortung überfordern musste, zeigt die jüngste Geschichte der Partei ebenso wie ihr aktueller Zustand. Legte nicht gerade der große Integrator und Brückenbauer Brandt, der Dissonanzen auflöste, indem er sie als Zukunftsmusik harmonisierte, den Grund für große innerparteiliche Zerreißproben vom Streit um die Nachrüstung bis zum Streit um die Energiepolitik? Können derart fundamentale Streitfragen überhaupt auf den politischen Nenner einer einzigen Partei gebracht werden?
War denn die Nachrüstung, die Helmut Schmidt in seiner Kanzlerschaft (1974 bis 1982) betrieb und die Willy Brandt zu verhindern suchte, um die Friedensbewegten zu integrieren, nicht mindestens so sehr wie zuvor Brandts Ostpolitik eine notwendige Voraussetzung dafür, dass Gorbatschow Ende der achtziger Jahre die Einsicht und den Mut fand, die große weltpolitische Wende zu wagen? Ist der "demokratische Sozialismus", den die Autorin im Sinne Brandts verteidigen will, nicht doch ein Etikettenschwindel, jedenfalls wenn man davon ausgeht, dass die Vergesellschaftung der wichtigen Produktionsmittel, verbunden mit Planwirtschaft, zur Substanz eines jeden Sozialismus zählt? Gibt es in der sich globalisierenden Menschheit keinen Zielkonflikt zwischen dem Eintreten für Demokratie und Menschenrechte auf der einen und der Notwendigkeit, gegenüber den aufstrebenden Mächten Asiens die eigene wirtschaftliche und politische Wettbewerbsfähigkeit zu behaupten, auf der anderen Seite?
Helga Grebing besteht darauf, dass die Fragen und Forderungen, die Brandt stellte, weder in unserer heutigen Gesellschaft noch weltpolitisch erledigt seien. Doch im Blick auf die Antworten, die er zu geben vermochte, bleibt sie so konsequent kritikfrei, dass ihr - bei manchem Verdienst im Detail - alles in allem nur ein solider Beitrag zur sozialdemokratischen Erbauungsliteratur gelingt.
Helga Grebing: Willy Brandt. Der andere Deutsche. Wilhelm Fink Verlag, München 2008. 183 S., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Helga Grebing will die SPD erbauen / Von Peter Voß
Nach Peter Merseburger, Brigitte Seebacher, Gregor Schöllgen und anderen unternimmt es nun Helga Grebing, ihr Bild von Willy Brandt zu beschreiben, den sie als den "anderen Deutschen" schlechthin würdigen will. Sie will sich abheben von Brandt-Deutern, denen ihr Held durchaus widersprüchlich - etwa als "Visionär und Realist" oder als "pragmatischer Idealist" - erscheint, und mag in solchen Gegensatzpaaren nur Widersprüche in der Wahrnehmung der Biographen erkennen. Im konfliktscheuen, von Selbstzweifeln oder gar Depressionen heimgesuchten "Visionär" sieht sie ohnehin nur ein Stereotyp der Interpreten und mag der komplexen Persönlichkeit Brandts allenfalls "Vielschichtigkeit" attestieren. Kein Träumer oder gar Spinner sei er gewesen. Vielmehr habe Brandt Wirklichkeitssinn und Mut bewiesen als Patriot, als Europäer, als Weltbürger - und dies alles "weitgehend bruchlos" -, auch als Vordenker der Globalisierung, als erster Medienkanzler, vor allem aber als oft unterschätzter SPD-Vorsitzender, der "demokratischen Sozialismus" mit "konsequent verwirklichter Demokratie" gleichsetzte. Auch wenn sich die Autorin von Klischees freihalten will und um eine nüchterne Diktion bemüht, ist da eine gewisse Tendenz zur Glorifizierung unverkennbar.
Brandts politisches Leben wird noch einmal gründlich und genau rekapituliert: die politische Sozialisierung in Lübeck, das Wachsen am und im skandinavischen Exil, der neue Start in Berlin, die Kanzlerschaft seit 1969 und der Sturz über Guillaume 1974, schließlich besonders eingehend die späten Jahre als Führer und Vordenker der deutschen und internationalen Sozialdemokratie. Doch das für nicht wenige (Zeit-)Genossen faszinierend wie auch irritierend Mehrdeutige, das Changierende im politischen Agieren Brandts wird nicht untersucht oder gar erklärt, sondern letztlich auf die Formel "Grundsatztreue plus Flexibilität" reduziert.
Dass der Patriot Brandt, "links und frei", ein anderes Deutschland wollte als die Konservativen, dass er Demokratisierung als permanenten Prozess sah, der die ganze Gesellschaft durchdringen sollte - das ist nicht neu und wird akribisch belegt. Dass darin allerdings ein Problem liegt, weil Freiheit und Gleichheit - ebenso wie Freiheit und Sicherheit - nicht deckungsgleich zu verwirklichen sind, sondern permanent gegeneinander abgewogen werden müssen, wird einfach ausgeblendet. Als ob Brandts Integrationskraft nicht auch auf seiner Gabe, Unvereinbarkeiten rhetorisch zu überspielen, beruht hätte, weil seine einprägsamen, lebendig und mit Leidenschaft vorgetragenen Formulierungen gleichwohl die nötige Unklarheit und Unverbindlichkeit aufwiesen, um sie als zukunftsweisend (eben doch visionär?) erscheinen zu lassen. Sein Charisma fügte zusammen, was nicht unbedingt zusammengehört - und dieses Phänomen erkennt die Autorin gar nicht erst als Problem. Und deshalb kommt sie auch nicht auf die Frage, ob seine epochale Leistung wie auch sein Scheitern etwas damit zu tun haben könnten.
Denn dass Brandts Integrationskurs zumindest eine SPD in der Regierungsverantwortung überfordern musste, zeigt die jüngste Geschichte der Partei ebenso wie ihr aktueller Zustand. Legte nicht gerade der große Integrator und Brückenbauer Brandt, der Dissonanzen auflöste, indem er sie als Zukunftsmusik harmonisierte, den Grund für große innerparteiliche Zerreißproben vom Streit um die Nachrüstung bis zum Streit um die Energiepolitik? Können derart fundamentale Streitfragen überhaupt auf den politischen Nenner einer einzigen Partei gebracht werden?
War denn die Nachrüstung, die Helmut Schmidt in seiner Kanzlerschaft (1974 bis 1982) betrieb und die Willy Brandt zu verhindern suchte, um die Friedensbewegten zu integrieren, nicht mindestens so sehr wie zuvor Brandts Ostpolitik eine notwendige Voraussetzung dafür, dass Gorbatschow Ende der achtziger Jahre die Einsicht und den Mut fand, die große weltpolitische Wende zu wagen? Ist der "demokratische Sozialismus", den die Autorin im Sinne Brandts verteidigen will, nicht doch ein Etikettenschwindel, jedenfalls wenn man davon ausgeht, dass die Vergesellschaftung der wichtigen Produktionsmittel, verbunden mit Planwirtschaft, zur Substanz eines jeden Sozialismus zählt? Gibt es in der sich globalisierenden Menschheit keinen Zielkonflikt zwischen dem Eintreten für Demokratie und Menschenrechte auf der einen und der Notwendigkeit, gegenüber den aufstrebenden Mächten Asiens die eigene wirtschaftliche und politische Wettbewerbsfähigkeit zu behaupten, auf der anderen Seite?
Helga Grebing besteht darauf, dass die Fragen und Forderungen, die Brandt stellte, weder in unserer heutigen Gesellschaft noch weltpolitisch erledigt seien. Doch im Blick auf die Antworten, die er zu geben vermochte, bleibt sie so konsequent kritikfrei, dass ihr - bei manchem Verdienst im Detail - alles in allem nur ein solider Beitrag zur sozialdemokratischen Erbauungsliteratur gelingt.
Helga Grebing: Willy Brandt. Der andere Deutsche. Wilhelm Fink Verlag, München 2008. 183 S., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Trägt der Willy Brandt von Helga Grebing nicht einen Heiligenschein? Rezensent Peter Voß sieht das so und trauert ein wenig um die vertane Chance, mit Hilfe der im Buch waltenden Nüchternheit doch ein differenzierteres, kritischeres Bild Brandts zu zeichnen. Das Brandt von Grebing aufgedrückte Prädikat "vielschichtig" erscheint Voß viel zu zahm. Für ihn ist Brandt noch immer der Mann der Gegensätze. Und genau hier hätte er die Autorin gerne ansetzen sehen und Brandts Wirken im Hinblick auf das "irritierend Mehrdeutige" vorgeführt bekommen. Stattdessen muss der Rezensent mit ansehen, wie die Autorin Unvereinbarkeiten (z. B. betreffend Freiheit und Sicherheit) einfach ausblendet. Und damit auch Brandts Talent zur rhetorischen Überspielung und schließlich die für Voß hier gründenden innerparteilichen Zerreißproben der SPD, siehe Nachrüstung oder Energiepolitik.
© Perlentaucher Medien GmbH
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