Kein Politiker der deutschen Nachkriegszeit war derart umstritten und zugleich von einer solchen Leidenschaft erfüllt, kaum einer hat so für seine Visionen gekämpft und musste dabei solche Rückschläge hinnehmen wie Willy Brandt: Vor den Nationalsozialisten floh er ins Exil nach Norwegen, als Berliner Bürgermeister musste er 1961 hilflos dem Bau der Mauer zusehen, als Kanzler übernahm er mit seinem Kniefall in Warschau symbolhaft die Verantwortung für die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg und läutete die Entspannungspolitik mit dem Osten ein. Hans-Joachim Noack, langjähriger Politikchef des «Spiegel», verfolgte Brandts Laufbahn über Jahrzehnte aus nächster Nähe und zeichnet nun das Leben des Ausnahmepolitikers nach: Willy Brandts Kampf gegen den Nationalsozialismus, seine Zeit als Korrespondent im Spanischen Bürgerkrieg, später sein Wirken und Ringen in der deutschen Politik, die Erfolge, Fehler und persönlichen Niederlagen. Er porträtiert den schwierigen, zerrissenen und doch so charismatischen Menschen, der aus einfachen Verhältnissen an die Spitze des Staates aufstieg, als Kanzler aber an sich selbst scheiterte. Ein eindrucksvolles Lebensporträt - und zugleich eine Reise durch ein bewegtes Jahrhundert deutscher Geschichte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.10.2013Privates und Poliertes
Noch war nicht alles über die Jahrhundertgestalt der Sozialdemokratie gesagt. Zum 100. Geburtstag von Willy Brandt meldet sich Sohn Peter zu Wort - und Torsten Körner will allen Mitgliedern der Familie Brandt gerecht werden.
Von Daniela Münkel
Alle mögen Willy" titelte schon 1965 eine große deutsche Zeitung. Willy Brandt ist heute eine Ikone - auch über die Parteigrenzen hinweg. Kaum eine große politische Rede - Bundeskanzlerin Angela Merkel macht da keine Ausnahme - ohne ein Willy-Brandt-Zitat; besonders beliebt ist das Motto der Regierungserklärung von 1969: "Wir wollen mehr Demokratie wagen!" Im Jahr des 100. Geburtstags setzt ein regelrechter "Willy-Boom" ein: 31 Bücher, zahlreiche Jubelfeiern und Konferenzen: "Willy sells." Die meisten der Publikationen, die jetzt auf den Markt kommen, sind Neuauflagen von bereits vor Jahren erschienenen Büchern - es gibt wenig Neues zu berichten über den "Jahrhundertpolitiker" Willy Brandt.
Eines der wenigen Bücher, die etwas anderes und vielleicht auch ein wenig Neues versprechen, ist das Buch von Brandts ältestem Sohn Peter. Der lässt sich auf das Experiment ein, als Historiker ein persönliches Buch über seinen Vater zu schreiben. So viel sei vorweg gesagt: Dieses Experiment ist gelungen. Es ist ein Buch, das die Lebensgeschichte von Willy Brandt mit der Familiengeschichte und der Vater-Sohn-Beziehung auf gelungene Weise verbindet. Es ist auch ein sehr ausgewogenes, ausgeglichenes Buch - wie es wohl dem Naturell von Peter Brandt entspricht. Man sucht vergeblich Zorn oder böse Worte, auch nicht über die Frau, die seiner Mutter nachfolgte, diese von der Beerdigung des Vaters ausschloss und mit der es einige Konflikte um das "schriftliche Erbe" Willy Brandts gab. Vor allem das persönliche Bild von Willy Brandt wird zurechtgerückt. Nichts von dem "fernen Vater". Brandt wird als liebevoller, verständnisvoller Vater gezeichnet - auch in den Auseinandersetzungen mit dem Sohn, als dieser seine linksradikalen Vorstellungen im Zuge von 1968 offensiv vertrat und sogar mit dem Gesetz in Konflikt geriet. Sätze wie: "Wenn Vater da war und sich für die Familie Zeit nahm, war er auch präsent", unterstreichen das.
Spannend sind die Passagen, die das persönliche Umfeld von Brandt jenseits von Egon Bahr und den "üblichen Verdächtigen" beleuchten. Da trifft man auf ganz "normale" Nachbarn, mit denen die Familie gemeinsam Ferien machte, da wird deutlich, dass die Bindung an die Freunde aus dem Exil, der Weimarer Zeit und damit der linkssozialistischen SAP auch nach 1945 Bestand hatte, obwohl Brandt sich schon während der Emigrationszeit politisch von ihnen entfernt hatte. Hervorzuheben ist auch, dass Peter Brandt die Mär, an die sein Vater zeit seines Lebens geglaubt hat und die heute noch von Brigitte Seebacher und Egon Bahr verbreitet wird, dass Herbert Wehner ihn verraten habe und somit für seinen Rücktritt verantwortlich sei, zurückweist. Im Gegenteil, er betont die Gemeinsamkeiten dieser beiden Männer trotz allem Trennenden.
Das Buch endet mit einer in die Zukunft zielenden Frage, "ob die in der langfristig angelegten Ostpolitik Willy Brandts zum Einsatz gekommene Methode der Konfliktbearbeitung und seine Vorschläge für die solidarische Gestaltung des Nord-Süd-Verhältnisses nicht Lehren vermitteln können, die bei den gegenwärtigen Krisen und Kriegen Auswege weisen" - gleichsam ein Willy Brandt fürs 21. Jahrhundert!
Auch Torsten Körner wirft einen anderen Blick auf das Leben und Wirken von Willy Brandt. Der Journalist schreibt über "Die Familie Willy Brandt". Zwar ist auch hierüber schon viel geschrieben und noch mehr spekuliert worden, aber in solch einer dichten Beschreibung hat sich bis jetzt noch niemand dem Thema genähert. Der Autor betont zu Recht, dass der "private" Brandt bereits zu Lebzeiten, nicht zuletzt auch in den eigenen autobiographischen Werken, zunehmend hinter dem Politiker und Staatsmann verschwand. Das Gleiche gilt für die Öffentlichkeit, die den Privatmann, wenn überhaupt, nur noch im Zusammenhang mit gerüchteweise kolportierten Sexaffären wahrnahm. Körner bietet eine Mischung aus Reportage, Chronik und Erzählung - ein spannender Zugang, der ein abwechslungsreiches Lesevergnügen verspricht. Der Autor begibt sich auf eine Reise: Er besichtigt Orte, die im Leben der Familie Brandt bedeutsam waren, und besucht die Söhne, die Tochter, er spricht mit den Enkeln. Weggefährten von Willy und Rut Brandt und auch Freunde der Kinder kommen zu Wort. Er berichtet von den Schwierigkeiten, Lars Brandt überhaupt zu einem Gespräch zu bewegen. An alldem lässt er den Leser teilhaben, als wenn er live dabei wäre. Erzählende Passagen halten die verschiedenen Bausteine des Textes zusammen.
Das Buch ist mit sehr viel Sympathie für die Protagonisten geschrieben - man erfährt viel Privates, ohne dass es voyeuristisch wird. Die Passagen zu den Söhnen sind nicht ausschließlich auf den Vater fokussiert, sondern berichten eine Menge über deren eigenes Leben. Hervorzuheben ist die Würdigung von Brandts Tochter aus erster Ehe, Ninja Frahm, über die man bis jetzt relativ wenig wusste, weil sie in Norwegen aufwuchs und dort noch heute lebt. Sie ist ein wichtiger Teil der Familie Brandt. Der Vater hielt zeitlebens engen Kontakt zu ihr, und sie besuchte die Familie Brandt häufig in den Ferien. Besonders berührend sind Passagen aus bisher unveröffentlichten Briefen, die Willy Brandt an seine kleine Tochter schrieb, als er nach dem Krieg nach Deutschland zurückgekehrt war und er sie nicht mehr regelmäßig sehen konnte. Hier tritt ein liebevoller Vater, voller Gefühle, zutage, der Angst hat, den Kontakt zu seiner Tochter zu verlieren. Brandt, dem nachgesagt wird, dass er sich nicht emotional öffnen konnte, zeigt hier eine ganz andere Seite.
Erwähnenswert ist, dass in diesem Buch Rut Brandt einen sehr breiten Raum einnimmt - eine überfällige Würdigung. Der Autor nähert sich ihr mit großer Empathie. Rut Brandt war mehr als die Frau von Willy Brandt und Mutter seiner Söhne. Sie wird als selbstbewusste Frau dargestellt, die Probleme mit ihrem Leben zwischen Deutschland und Norwegen hatte und zugleich eine liebevolle, aber auch kritische Mutter war. Streckenweise ufert der Text ein wenig aus, und so manche Passage gleitet ins Psychologisieren ab. Versucht wird, eine normale Familie zu beschreiben mit ihren Sorgen, Nöten und Freuden. Der Autor bemüht sich, allen Familienmitgliedern und ihrer Geschichte gerecht zu werden, letztlich ist Willy Brandt aber auch in diesem Buch übermächtig, sein Schatten fällt bis heute auf die Familie.
Zwei andere Neuerscheinungen sind konventioneller gestrickt und für jene Leser gedacht, die sich sachkundig und schnell über Brandts Lebenswerk und politisches Wirken informieren wollen. Der frühere Leiter des Ressorts Politik beim Spiegel, Hans-Joachim Noack, hat eine traditionelle politische Biographie über Brandt verfasst, chronologisch gegliedert und flott geschrieben. Auf den ersten Seiten lässt Noack den Leser an seinen persönlichen Erinnerungen teilhaben, die bis auf das Jahr 1970 zurückreichen. Er hat als Journalist Brandt lange Jahre begleitet. Diese wenigen Seiten sind eigentlich die spannendsten dieses Buches, denn sie enthalten einige interessante Aspekte und Einschätzungen jenseits des Mainstreams. So beschreibt Noack, dass die eigene Berichterstattung über Brandt und die großer Teile seiner Kollegen zeitweise ausgesprochen unkritisch gewesen sei. Er räumt ein, "mit welcher Fürsorglichkeit unsereins damals in die Tasten griff, um den ersten sozialdemokratischen Kanzler der Bundesrepublik in möglichst günstigem Licht erscheinen zu lassen". Man sei auch nicht vor der ein oder anderen "polierten Passage" zurückgeschreckt - eine interessante Sicht auf das überschwengliche Medienecho, das die ersten drei Jahre von Willy Brandts Kanzlerschaft begleitet hat. Man hätte sich mehr solche Passagen gewünscht. Besonders für diejenigen Leser, die sich bereits ausführlicher mit Brandt beschäftigt haben, wäre die Biographie dann interessanter.
Ein informatives Bändchen über "die sozialdemokratische Jahrhundertgestalt" hat Bernd Faulenbach in der Reihe "Beck Wissen" vorgelegt. Neben einem chronologischen Zugang entfaltet er kompetent einige Querschnittthemen. So fragt er nach dem "Menschen Willy Brandt" oder nach seiner Rolle als SPD-Vorsitzender und Präsident der "Sozialistischen Internationale". In einem resümierenden Kapitel zur "Bedeutung Willy Brandts" hebt der Autor fünf Politikfelder hervor, auf denen seiner Ansicht nach der Einfluss von Brandt am nachhaltigsten spürbar ist: der Wandel der SPD zur Volkspartei; die Demokratisierung der Gesellschaft und die Entideologisierung der Politik; die Rolle Deutschlands im Hinblick auf eine europäische Friedensordnung sowie der frühe Ansatz zu einem "globalen Denken". Faulenbach betont, es sei das Erbe Willy Brandts im 21. Jahrhundert, ständig nach neuen Wegen zu suchen, um "Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit" zu realisieren.
Was bleibt? Offenbar war doch noch nicht alles gesagt über den Jahrhundertpolitiker Willy Brandt - der "private Willy" hat Konjunktur. Was darüber hinaus noch Neues zu erwarten ist, wird die Zukunft zeigen. Jedenfalls fordern Jahrestage ihren Tribut von Geschichtswissenschaft und Publizistik, insbesondere wenn "große Männer" im Spiel sind. Da ist es unerheblich, ob es viel Neues zu berichten gibt oder nicht.
Peter Brandt: Mit anderen Augen. Versuch über den Politiker und Privatmann Willy Brandt.
Verlag J. H. W. Dietz, Bonn 2013. 304 S., 24,90 [Euro].
Torsten Körner: Die Familie Willy Brandt.
Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 510 S., 22,99 [Euro].
Hans-Joachim Noack: Willy Brandt. Ein Leben, ein Jahrhundert.
Rowohlt Verlag, Berlin 2013. 352 S., 19,95 [Euro].
Bernd Faulenbach: Willy Brandt. Die sozialdemokratische Jahrhundertgestalt.
C. H. Beck Verlag, München 2013. 128 S., 8,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Noch war nicht alles über die Jahrhundertgestalt der Sozialdemokratie gesagt. Zum 100. Geburtstag von Willy Brandt meldet sich Sohn Peter zu Wort - und Torsten Körner will allen Mitgliedern der Familie Brandt gerecht werden.
Von Daniela Münkel
Alle mögen Willy" titelte schon 1965 eine große deutsche Zeitung. Willy Brandt ist heute eine Ikone - auch über die Parteigrenzen hinweg. Kaum eine große politische Rede - Bundeskanzlerin Angela Merkel macht da keine Ausnahme - ohne ein Willy-Brandt-Zitat; besonders beliebt ist das Motto der Regierungserklärung von 1969: "Wir wollen mehr Demokratie wagen!" Im Jahr des 100. Geburtstags setzt ein regelrechter "Willy-Boom" ein: 31 Bücher, zahlreiche Jubelfeiern und Konferenzen: "Willy sells." Die meisten der Publikationen, die jetzt auf den Markt kommen, sind Neuauflagen von bereits vor Jahren erschienenen Büchern - es gibt wenig Neues zu berichten über den "Jahrhundertpolitiker" Willy Brandt.
Eines der wenigen Bücher, die etwas anderes und vielleicht auch ein wenig Neues versprechen, ist das Buch von Brandts ältestem Sohn Peter. Der lässt sich auf das Experiment ein, als Historiker ein persönliches Buch über seinen Vater zu schreiben. So viel sei vorweg gesagt: Dieses Experiment ist gelungen. Es ist ein Buch, das die Lebensgeschichte von Willy Brandt mit der Familiengeschichte und der Vater-Sohn-Beziehung auf gelungene Weise verbindet. Es ist auch ein sehr ausgewogenes, ausgeglichenes Buch - wie es wohl dem Naturell von Peter Brandt entspricht. Man sucht vergeblich Zorn oder böse Worte, auch nicht über die Frau, die seiner Mutter nachfolgte, diese von der Beerdigung des Vaters ausschloss und mit der es einige Konflikte um das "schriftliche Erbe" Willy Brandts gab. Vor allem das persönliche Bild von Willy Brandt wird zurechtgerückt. Nichts von dem "fernen Vater". Brandt wird als liebevoller, verständnisvoller Vater gezeichnet - auch in den Auseinandersetzungen mit dem Sohn, als dieser seine linksradikalen Vorstellungen im Zuge von 1968 offensiv vertrat und sogar mit dem Gesetz in Konflikt geriet. Sätze wie: "Wenn Vater da war und sich für die Familie Zeit nahm, war er auch präsent", unterstreichen das.
Spannend sind die Passagen, die das persönliche Umfeld von Brandt jenseits von Egon Bahr und den "üblichen Verdächtigen" beleuchten. Da trifft man auf ganz "normale" Nachbarn, mit denen die Familie gemeinsam Ferien machte, da wird deutlich, dass die Bindung an die Freunde aus dem Exil, der Weimarer Zeit und damit der linkssozialistischen SAP auch nach 1945 Bestand hatte, obwohl Brandt sich schon während der Emigrationszeit politisch von ihnen entfernt hatte. Hervorzuheben ist auch, dass Peter Brandt die Mär, an die sein Vater zeit seines Lebens geglaubt hat und die heute noch von Brigitte Seebacher und Egon Bahr verbreitet wird, dass Herbert Wehner ihn verraten habe und somit für seinen Rücktritt verantwortlich sei, zurückweist. Im Gegenteil, er betont die Gemeinsamkeiten dieser beiden Männer trotz allem Trennenden.
Das Buch endet mit einer in die Zukunft zielenden Frage, "ob die in der langfristig angelegten Ostpolitik Willy Brandts zum Einsatz gekommene Methode der Konfliktbearbeitung und seine Vorschläge für die solidarische Gestaltung des Nord-Süd-Verhältnisses nicht Lehren vermitteln können, die bei den gegenwärtigen Krisen und Kriegen Auswege weisen" - gleichsam ein Willy Brandt fürs 21. Jahrhundert!
Auch Torsten Körner wirft einen anderen Blick auf das Leben und Wirken von Willy Brandt. Der Journalist schreibt über "Die Familie Willy Brandt". Zwar ist auch hierüber schon viel geschrieben und noch mehr spekuliert worden, aber in solch einer dichten Beschreibung hat sich bis jetzt noch niemand dem Thema genähert. Der Autor betont zu Recht, dass der "private" Brandt bereits zu Lebzeiten, nicht zuletzt auch in den eigenen autobiographischen Werken, zunehmend hinter dem Politiker und Staatsmann verschwand. Das Gleiche gilt für die Öffentlichkeit, die den Privatmann, wenn überhaupt, nur noch im Zusammenhang mit gerüchteweise kolportierten Sexaffären wahrnahm. Körner bietet eine Mischung aus Reportage, Chronik und Erzählung - ein spannender Zugang, der ein abwechslungsreiches Lesevergnügen verspricht. Der Autor begibt sich auf eine Reise: Er besichtigt Orte, die im Leben der Familie Brandt bedeutsam waren, und besucht die Söhne, die Tochter, er spricht mit den Enkeln. Weggefährten von Willy und Rut Brandt und auch Freunde der Kinder kommen zu Wort. Er berichtet von den Schwierigkeiten, Lars Brandt überhaupt zu einem Gespräch zu bewegen. An alldem lässt er den Leser teilhaben, als wenn er live dabei wäre. Erzählende Passagen halten die verschiedenen Bausteine des Textes zusammen.
Das Buch ist mit sehr viel Sympathie für die Protagonisten geschrieben - man erfährt viel Privates, ohne dass es voyeuristisch wird. Die Passagen zu den Söhnen sind nicht ausschließlich auf den Vater fokussiert, sondern berichten eine Menge über deren eigenes Leben. Hervorzuheben ist die Würdigung von Brandts Tochter aus erster Ehe, Ninja Frahm, über die man bis jetzt relativ wenig wusste, weil sie in Norwegen aufwuchs und dort noch heute lebt. Sie ist ein wichtiger Teil der Familie Brandt. Der Vater hielt zeitlebens engen Kontakt zu ihr, und sie besuchte die Familie Brandt häufig in den Ferien. Besonders berührend sind Passagen aus bisher unveröffentlichten Briefen, die Willy Brandt an seine kleine Tochter schrieb, als er nach dem Krieg nach Deutschland zurückgekehrt war und er sie nicht mehr regelmäßig sehen konnte. Hier tritt ein liebevoller Vater, voller Gefühle, zutage, der Angst hat, den Kontakt zu seiner Tochter zu verlieren. Brandt, dem nachgesagt wird, dass er sich nicht emotional öffnen konnte, zeigt hier eine ganz andere Seite.
Erwähnenswert ist, dass in diesem Buch Rut Brandt einen sehr breiten Raum einnimmt - eine überfällige Würdigung. Der Autor nähert sich ihr mit großer Empathie. Rut Brandt war mehr als die Frau von Willy Brandt und Mutter seiner Söhne. Sie wird als selbstbewusste Frau dargestellt, die Probleme mit ihrem Leben zwischen Deutschland und Norwegen hatte und zugleich eine liebevolle, aber auch kritische Mutter war. Streckenweise ufert der Text ein wenig aus, und so manche Passage gleitet ins Psychologisieren ab. Versucht wird, eine normale Familie zu beschreiben mit ihren Sorgen, Nöten und Freuden. Der Autor bemüht sich, allen Familienmitgliedern und ihrer Geschichte gerecht zu werden, letztlich ist Willy Brandt aber auch in diesem Buch übermächtig, sein Schatten fällt bis heute auf die Familie.
Zwei andere Neuerscheinungen sind konventioneller gestrickt und für jene Leser gedacht, die sich sachkundig und schnell über Brandts Lebenswerk und politisches Wirken informieren wollen. Der frühere Leiter des Ressorts Politik beim Spiegel, Hans-Joachim Noack, hat eine traditionelle politische Biographie über Brandt verfasst, chronologisch gegliedert und flott geschrieben. Auf den ersten Seiten lässt Noack den Leser an seinen persönlichen Erinnerungen teilhaben, die bis auf das Jahr 1970 zurückreichen. Er hat als Journalist Brandt lange Jahre begleitet. Diese wenigen Seiten sind eigentlich die spannendsten dieses Buches, denn sie enthalten einige interessante Aspekte und Einschätzungen jenseits des Mainstreams. So beschreibt Noack, dass die eigene Berichterstattung über Brandt und die großer Teile seiner Kollegen zeitweise ausgesprochen unkritisch gewesen sei. Er räumt ein, "mit welcher Fürsorglichkeit unsereins damals in die Tasten griff, um den ersten sozialdemokratischen Kanzler der Bundesrepublik in möglichst günstigem Licht erscheinen zu lassen". Man sei auch nicht vor der ein oder anderen "polierten Passage" zurückgeschreckt - eine interessante Sicht auf das überschwengliche Medienecho, das die ersten drei Jahre von Willy Brandts Kanzlerschaft begleitet hat. Man hätte sich mehr solche Passagen gewünscht. Besonders für diejenigen Leser, die sich bereits ausführlicher mit Brandt beschäftigt haben, wäre die Biographie dann interessanter.
Ein informatives Bändchen über "die sozialdemokratische Jahrhundertgestalt" hat Bernd Faulenbach in der Reihe "Beck Wissen" vorgelegt. Neben einem chronologischen Zugang entfaltet er kompetent einige Querschnittthemen. So fragt er nach dem "Menschen Willy Brandt" oder nach seiner Rolle als SPD-Vorsitzender und Präsident der "Sozialistischen Internationale". In einem resümierenden Kapitel zur "Bedeutung Willy Brandts" hebt der Autor fünf Politikfelder hervor, auf denen seiner Ansicht nach der Einfluss von Brandt am nachhaltigsten spürbar ist: der Wandel der SPD zur Volkspartei; die Demokratisierung der Gesellschaft und die Entideologisierung der Politik; die Rolle Deutschlands im Hinblick auf eine europäische Friedensordnung sowie der frühe Ansatz zu einem "globalen Denken". Faulenbach betont, es sei das Erbe Willy Brandts im 21. Jahrhundert, ständig nach neuen Wegen zu suchen, um "Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit" zu realisieren.
Was bleibt? Offenbar war doch noch nicht alles gesagt über den Jahrhundertpolitiker Willy Brandt - der "private Willy" hat Konjunktur. Was darüber hinaus noch Neues zu erwarten ist, wird die Zukunft zeigen. Jedenfalls fordern Jahrestage ihren Tribut von Geschichtswissenschaft und Publizistik, insbesondere wenn "große Männer" im Spiel sind. Da ist es unerheblich, ob es viel Neues zu berichten gibt oder nicht.
Peter Brandt: Mit anderen Augen. Versuch über den Politiker und Privatmann Willy Brandt.
Verlag J. H. W. Dietz, Bonn 2013. 304 S., 24,90 [Euro].
Torsten Körner: Die Familie Willy Brandt.
Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 510 S., 22,99 [Euro].
Hans-Joachim Noack: Willy Brandt. Ein Leben, ein Jahrhundert.
Rowohlt Verlag, Berlin 2013. 352 S., 19,95 [Euro].
Bernd Faulenbach: Willy Brandt. Die sozialdemokratische Jahrhundertgestalt.
C. H. Beck Verlag, München 2013. 128 S., 8,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Hans-Joachim Noack hat eine ordentliche journalistische Willy-Brandt-Biografie vorgelegt, findet dessen SPD-Genosse Erhard Eppler. Neues fördert Noack nicht zutage, aber wer sich über den Politiker Brandt informieren möchte, greift mit diesem Buch sicher nicht fehl, verrät der Rezensent. Trotzdem hätte sich Eppler gefreut, wenn der Autor sich der wenigen dunklen Stellen in Brandts Leben und Politik angenommen hätte, zum Beispiel der Rolle des ewig abwesenden Vaters für den Heranwachsenden, oder Brandts Haltung gegenüber der aufkommenden Ökologiebewegung. Eine Aussage die er selbst laut Noack über Brandt gemacht haben soll, irritiert Eppler dann doch, die habe es so nie gegeben, erklärt er. Obwohl ihn das Weglassen der Quellenangaben allgemein nicht gestört hat, diese eine hätte den Rezensenten dann doch interessiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.09.2013Ein Arbeiterjunge aus Lübeck
Hans-Joachim Noacks Biografie über Willy Brandt ist vorzüglich, lässt aber ein paar Fragen offen. Von Erhard Eppler
Wer im Jahr 2013, an dessen Ende Willy Brandt hundert Jahre alt geworden wäre, 21 Jahre nach seinem Tode, noch eine Biografie über den ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler schreibt, muss sich der Frage stellen, was da an Neuem noch zu sagen übrig war.
Hans-Joachim Noack, 27 Jahre jünger als Brandt, einer der jüngeren Top-Journalisten zur Zeit seiner Kanzlerschaft, gibt darauf direkt keine Antwort. Er will uns keinen neuen oder den richtigen Brandt vorführen. Seine Wertungen mögen Nuancen aufweisen zu dem, was wir schon wissen, umstürzend sind sie nicht. Noack hat eine konsequent journalistische Biografie vorgelegt, sie ist als solche gelungen: Hier wird in einem gut lesbaren, unprätentiösen Deutsch berichtet, erzählt, was über diesen manchmal rätselhaften, manchmal mitreißenden Menschen und seinen ungewöhnlichen Lebenslauf zu sagen ist. Jede Biografie kreist nur um die Wahrheit eines Menschenlebens, kann sie nie voll erfassen. Diese – das sagt der Rezensent, der über zwei Jahrzehnte Brandt zuarbeiten durfte – kreist sehr nahe an der Wahrheit.
Wer also als neugieriger Staatsbürger sich ein Bild von diesem demokratischen Sozialisten, diesem ganz und gar europäischen unter den deutschen Patrioten machen will, sollte zu diesem Buch greifen. Noack schildert nicht nur das Auf und Ab in Brandts Stimmungen, seinen Elan und seine Depressionen, er wagt auch Deutungen. So sieht er in dem, was der 52-jährige Parteivorsitzende im Spätherbst 1965 durchmacht, die wichtigste Zäsur.
Zweimal, 1961 und 1965, hat der Kanzlerkandidat Brandt um die Macht gekämpft, zweimal umgeben von Leuten, die ihn eine Rolle spielen lassen wollten: Jung-Siegfried oder gar John F. Kennedy. Zweimal war er gescheitert. Und nun wollte er nicht mehr. Niemand sollte ihm künftig noch eine Rolle vorgeben. Nichts wollte er künftig sein als der Arbeiterjunge aus Lübeck, der den Nazis nach Norwegen entwischt war, der in Spanien die Stalinisten kennen und fürchten gelernt, ihnen in Berlin widerstanden hatte und nun immerhin Vorsitzender der ältesten Partei Deutschlands war. Er wollte sein, der er war, das war wichtiger als die Kanzlerschaft.
Das entspricht genau dem, was der Rezensent damals empfunden hatte: Der Kandidat von 1961 und 1965, der seine Rollen gespielt hatte, war ihm fremd geblieben, aber der Willy Brandt im Frühjahr 1966 war einfach ein feiner Kerl.
Natürlich bleiben Fragen offen. Etwa die: Was hat dieser Sohn einer 19-jährigen, von Beruf und Kind total überforderten Verkäuferin und eines anscheinend unauffindlichen Vaters in seiner frühen Kindheit erlitten an versagter Zuwendung, und wie hat sich das später auf seine Beziehungen ausgewirkt, auf die Furcht vor menschlicher Nähe und menschlicher Bindung, die er nur selten überwinden konnte? Oder: Wie kommt es, dass dieser durch und durch zivile Brandt in wichtigen Fragen mehr Selbstdisziplin übte als seine Konkurrenten, die eine militärische oder gar eine stalinistische Disziplinierung hinter sich hatten? Warum gibt es so viel mehr Schlimmes, Verletzendes, was andere über ihn gesagt haben, als was er über andere sagte?
Oder: Warum war Brandt im politischen Geschäft ein so aufmerksamer, geduldiger Zuhörer, warum konnte er für Jüngere gelegentlich sogar etwas Väterliches ausstrahlen, mehr als für seine Söhne?
Oder: Wie war Brandts Haltung zur aufkommenden Ökologiebewegung? Was bedeutete es, wenn Brandt den Rezensenten gelegentlich wissen ließ: „Mach mal, das kann noch sehr wichtig werden!“, ohne sich offen auf seine Seite zu stellen? Waren es taktische Rücksichten des Vorsitzenden, der ja vor allem „den Laden zusammenhalten“ wollte, oder zweifelte er damals noch an der politischen Relevanz des Themas? Jedenfalls hat der alte Brandt seine Zurückhaltung bedauert.
Oder: Was war das Geheimnis von Brandts Führungsstil, mit dem er 23 Jahre lang seine schwierige Partei führte. Könnte es sein, dass Brandts unaufdringlicher, zurückhaltender, scheinbar weicher Führungsstil nicht nur demokratischer, sondern auch wirksamer war als alles, was seine Kritiker ihm empfahlen?
In einer wissenschaftlichen Biografie gibt der Autor seine Quellen an, manchmal so penibel, dass die Anmerkungen fast so ausführlich werden wie der Text. Dem muss ein Journalist nicht folgen. Mancher Leser wird ihm dafür dankbar sein. Der Preis dafür ist ein Mangel an Zuverlässigkeit.
Auf Seite 255 wird von dem „sichtlich irritierten Erhard Eppler“ berichtet, der dem Politikwissenschaftler Martin Rupps anvertraut habe, bei einem privaten Besuch bei den Brandts sei der Hausherr „in Selbstbewunderung über sich, den Nobelpreisträger, versunken gewesen und habe jeden Appell, rasch die Regierungsgeschäfte wieder aufzunehmen, mit abweisenden Gesten bedacht“. Die Quelle gibt Noack nicht an. Ich kenne sie nicht, sonst hätte ich diesem Unsinn längst widersprochen.
Erstens habe ich damals keine „privaten Besuche“ bei den Brandts gemacht. Zweitens hat Brandt mir gegenüber nie seinen Nobelpreis auch nur erwähnt. Drittens hätte ich mir niemals erlaubt, Brandt aufzufordern, seine Regierungsgeschäfte „wieder aufzunehmen“. Ich war Brandts 13 Jahre jüngerer Minister, nicht sein Kumpel. Was hier ein Zeuge, an den ich mich beim besten Willen nicht erinnern kann, möglicherweise irgendwo geäußert haben mag, verdreht mein Verhältnis zu Brandt um 180 Grad. Ich stelle dieses hier richtig, weil es den Brandt, den ich da gezeichnet haben soll, nie gegeben hat. Er war manchmal schwer ansprechbar, mit sich nicht im Reinen, vielleicht depressiv, aber nie ein selbstzufriedener Spießer.
Ein solcher Ausrutscher mag auf die Gefahren einer journalistischen Biografie aufmerksam machen. Er wiegt die Meriten einer solchen Biografie nicht auf. Sicher, Brandt war auch nur ein Mensch, wie alle seine Biografen, auch die guten.
Hans-Joachim Noack : Willy Brandt. Ein Leben, ein Jahrhundert. Rowohlt Berlin, 2013. 352 Seiten, 19,95 Euro.
Der SPD-Politiker Erhard Eppler publizierte zusammen mit anderen unlängst den Band „Quo Vadis Europa?“ (Weimarer Verlagsgesellschaft, 2013).
War Brandts scheinbar weicher
Führungsstil womöglich
wirksamer, als die Leute dachten?
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Hans-Joachim Noacks Biografie über Willy Brandt ist vorzüglich, lässt aber ein paar Fragen offen. Von Erhard Eppler
Wer im Jahr 2013, an dessen Ende Willy Brandt hundert Jahre alt geworden wäre, 21 Jahre nach seinem Tode, noch eine Biografie über den ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler schreibt, muss sich der Frage stellen, was da an Neuem noch zu sagen übrig war.
Hans-Joachim Noack, 27 Jahre jünger als Brandt, einer der jüngeren Top-Journalisten zur Zeit seiner Kanzlerschaft, gibt darauf direkt keine Antwort. Er will uns keinen neuen oder den richtigen Brandt vorführen. Seine Wertungen mögen Nuancen aufweisen zu dem, was wir schon wissen, umstürzend sind sie nicht. Noack hat eine konsequent journalistische Biografie vorgelegt, sie ist als solche gelungen: Hier wird in einem gut lesbaren, unprätentiösen Deutsch berichtet, erzählt, was über diesen manchmal rätselhaften, manchmal mitreißenden Menschen und seinen ungewöhnlichen Lebenslauf zu sagen ist. Jede Biografie kreist nur um die Wahrheit eines Menschenlebens, kann sie nie voll erfassen. Diese – das sagt der Rezensent, der über zwei Jahrzehnte Brandt zuarbeiten durfte – kreist sehr nahe an der Wahrheit.
Wer also als neugieriger Staatsbürger sich ein Bild von diesem demokratischen Sozialisten, diesem ganz und gar europäischen unter den deutschen Patrioten machen will, sollte zu diesem Buch greifen. Noack schildert nicht nur das Auf und Ab in Brandts Stimmungen, seinen Elan und seine Depressionen, er wagt auch Deutungen. So sieht er in dem, was der 52-jährige Parteivorsitzende im Spätherbst 1965 durchmacht, die wichtigste Zäsur.
Zweimal, 1961 und 1965, hat der Kanzlerkandidat Brandt um die Macht gekämpft, zweimal umgeben von Leuten, die ihn eine Rolle spielen lassen wollten: Jung-Siegfried oder gar John F. Kennedy. Zweimal war er gescheitert. Und nun wollte er nicht mehr. Niemand sollte ihm künftig noch eine Rolle vorgeben. Nichts wollte er künftig sein als der Arbeiterjunge aus Lübeck, der den Nazis nach Norwegen entwischt war, der in Spanien die Stalinisten kennen und fürchten gelernt, ihnen in Berlin widerstanden hatte und nun immerhin Vorsitzender der ältesten Partei Deutschlands war. Er wollte sein, der er war, das war wichtiger als die Kanzlerschaft.
Das entspricht genau dem, was der Rezensent damals empfunden hatte: Der Kandidat von 1961 und 1965, der seine Rollen gespielt hatte, war ihm fremd geblieben, aber der Willy Brandt im Frühjahr 1966 war einfach ein feiner Kerl.
Natürlich bleiben Fragen offen. Etwa die: Was hat dieser Sohn einer 19-jährigen, von Beruf und Kind total überforderten Verkäuferin und eines anscheinend unauffindlichen Vaters in seiner frühen Kindheit erlitten an versagter Zuwendung, und wie hat sich das später auf seine Beziehungen ausgewirkt, auf die Furcht vor menschlicher Nähe und menschlicher Bindung, die er nur selten überwinden konnte? Oder: Wie kommt es, dass dieser durch und durch zivile Brandt in wichtigen Fragen mehr Selbstdisziplin übte als seine Konkurrenten, die eine militärische oder gar eine stalinistische Disziplinierung hinter sich hatten? Warum gibt es so viel mehr Schlimmes, Verletzendes, was andere über ihn gesagt haben, als was er über andere sagte?
Oder: Warum war Brandt im politischen Geschäft ein so aufmerksamer, geduldiger Zuhörer, warum konnte er für Jüngere gelegentlich sogar etwas Väterliches ausstrahlen, mehr als für seine Söhne?
Oder: Wie war Brandts Haltung zur aufkommenden Ökologiebewegung? Was bedeutete es, wenn Brandt den Rezensenten gelegentlich wissen ließ: „Mach mal, das kann noch sehr wichtig werden!“, ohne sich offen auf seine Seite zu stellen? Waren es taktische Rücksichten des Vorsitzenden, der ja vor allem „den Laden zusammenhalten“ wollte, oder zweifelte er damals noch an der politischen Relevanz des Themas? Jedenfalls hat der alte Brandt seine Zurückhaltung bedauert.
Oder: Was war das Geheimnis von Brandts Führungsstil, mit dem er 23 Jahre lang seine schwierige Partei führte. Könnte es sein, dass Brandts unaufdringlicher, zurückhaltender, scheinbar weicher Führungsstil nicht nur demokratischer, sondern auch wirksamer war als alles, was seine Kritiker ihm empfahlen?
In einer wissenschaftlichen Biografie gibt der Autor seine Quellen an, manchmal so penibel, dass die Anmerkungen fast so ausführlich werden wie der Text. Dem muss ein Journalist nicht folgen. Mancher Leser wird ihm dafür dankbar sein. Der Preis dafür ist ein Mangel an Zuverlässigkeit.
Auf Seite 255 wird von dem „sichtlich irritierten Erhard Eppler“ berichtet, der dem Politikwissenschaftler Martin Rupps anvertraut habe, bei einem privaten Besuch bei den Brandts sei der Hausherr „in Selbstbewunderung über sich, den Nobelpreisträger, versunken gewesen und habe jeden Appell, rasch die Regierungsgeschäfte wieder aufzunehmen, mit abweisenden Gesten bedacht“. Die Quelle gibt Noack nicht an. Ich kenne sie nicht, sonst hätte ich diesem Unsinn längst widersprochen.
Erstens habe ich damals keine „privaten Besuche“ bei den Brandts gemacht. Zweitens hat Brandt mir gegenüber nie seinen Nobelpreis auch nur erwähnt. Drittens hätte ich mir niemals erlaubt, Brandt aufzufordern, seine Regierungsgeschäfte „wieder aufzunehmen“. Ich war Brandts 13 Jahre jüngerer Minister, nicht sein Kumpel. Was hier ein Zeuge, an den ich mich beim besten Willen nicht erinnern kann, möglicherweise irgendwo geäußert haben mag, verdreht mein Verhältnis zu Brandt um 180 Grad. Ich stelle dieses hier richtig, weil es den Brandt, den ich da gezeichnet haben soll, nie gegeben hat. Er war manchmal schwer ansprechbar, mit sich nicht im Reinen, vielleicht depressiv, aber nie ein selbstzufriedener Spießer.
Ein solcher Ausrutscher mag auf die Gefahren einer journalistischen Biografie aufmerksam machen. Er wiegt die Meriten einer solchen Biografie nicht auf. Sicher, Brandt war auch nur ein Mensch, wie alle seine Biografen, auch die guten.
Hans-Joachim Noack : Willy Brandt. Ein Leben, ein Jahrhundert. Rowohlt Berlin, 2013. 352 Seiten, 19,95 Euro.
Der SPD-Politiker Erhard Eppler publizierte zusammen mit anderen unlängst den Band „Quo Vadis Europa?“ (Weimarer Verlagsgesellschaft, 2013).
War Brandts scheinbar weicher
Führungsstil womöglich
wirksamer, als die Leute dachten?
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