Marktplatzangebote
6 Angebote ab € 30,00 €
Produktdetails
  • Verlag: Ammann
  • ISBN-13: 9783250105329
  • ISBN-10: 3250105325
  • Artikelnr.: 25572978
Autorenporträt
Abraham Sutzkever wurde 1913 in Smorgon bei Wilna geboren. Beim Einmarsch der Deutschen 1941 war Sutzkever in den Kreisen der Avantgarde. Im Wilner Getto war er Teil des kulturellen Widerstands. 1943 schloß er sich den Partisanen an. Seine Erinnerungen und Gedichte wurden in über 30 Sprachen übersetzt - in Deutschland sind sie nahezu unbekannt. Abraham Sutzkever lebt heute in Tel Aviv.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.01.2010

Zeuge des jüdischen Leidens, Hüter des jiddischen Wortes
Der Dichter Abraham Sutzkever ist mit siebenundneunzig Jahren gestorben: Jetzt liegen sein Getto-Tagebuch und seine Gedichte auf Deutsch vor

Joseph Roth verhalf ihm zur ersten Veröffentlichung, mit Marc Chagall verband ihn eine innige Freundschaft. Er kannte Pasternak, Wassili Grossman - und Ilja Ehrenburg schätzte seine Poeme. Fast hätte er den Nobelpreis bekommen, doch das Nobel-Komitee zeichnete 1978 mit Isaac Bashevis Singer einen anderen jiddischsprachigen Schriftsteller aus. Abraham Sutzkever wurde 1913 im heute weißrussischen Smorgon geboren, er durchlitt das Getto in Wilna (jiddisch: Wilne), floh im Krieg nach Moskau und lebt seit 1947 in Israel. Er gilt als einer der wichtigsten Poeten jiddischer Zunge und als Bewahrer der im Holocaust fast ausgelöschten Sprache - nicht nur durch sein literarisches Werk, sondern auch durch die Herausgabe der Zeitschrift "Di goldene kejt" ("Die goldene Kette"). Das zwischen 1949 und 1995 erscheinende Blatt war lange das wichtigste Organ der jiddischen Kultur. Am Mittwoch ist er im Alter von siebenundneunzig Jahren in Tel Aviv gestorben.

Drei Neuerscheinungen versammeln Texte des hierzulande kaum bekannten Autors. Im Ammann Verlag erscheint das Tagebuch "Wilner Getto 1941-1944" und der Gedichtband "Gesänge vom Meer des Todes", zwei erschütternde Bücher. Fünf Jahrzehnte von Sutzkevers Schaffen umfasst hingegen der Lyrik- und Prosaband "Geh über Wörter wie über ein Minenfeld" aus dem Campus-Verlag.

Schon im Ersten Weltkrieg musste Sutzkevers Familie aus der Heimatstadt fliehen: Die Juden Smorgons wurden beschuldigt, für das Deutsche Reich zu spionieren. Man ließ sich in Omsk nieder, wo der Vater im Alter von nur dreißig Jahren starb. Trotz Hunger und Kälte sollte die kristalline Schönheit Sibiriens für den Lyriker später zum Inbegriff seiner poetischen "Sehnsucht" werden. 1920 kehrte die Mutter mit den Kindern nach Wilna zurück, das als Zentrum einer reichen jüdischen Tradition und Kultur den Ehrentitel "Jerusalem des Nordens" trug. Rund ein Drittel der Bewohner dieser Stadt, in der Sozialismus und Zionismus auf eine lebendige jiddische Kunst- und Wissenschaftsszene trafen, waren damals Juden. Seit 1926 befand sich auch das in Berlin gegründete YIVO, das Jiddische Wissenschaftliche Institut, an dem Sutzkever Studien zur Literatur trieb, mit allen seinen Abteilungen in Wilna. 1934 wurde der junge Lyriker Mitglied der sozialrevolutionären Dichtergruppe "Jung-Vilne", die ihn zunächst wegen seines expressiven Individualismus abgelehnt hatte. 1937 schließlich erschien auf Vermittlung Joseph Roths, dem er zufällig in Wilna begegnet war, in Polen sein erster Gedichtband, "Lider" ("Lieder").

1940 verleibte die Rote Armee Litauen der Sowjetunion ein; im Sommer 1941 begann mit der Okkupation durch die deutsche Wehrmacht der Untergang des jüdischen Wilna. "Als ich am 22. Juni frühmorgens das Radio anschloss, da sprang es mir entgegen wie ein Knäuel Eidechsen: ein hysterisches Geschrei in deutscher Sprache. Aus all dem Lärm folgerte ich nur: Das deutsche Militär war über unsere Grenzen ins Land gedrungen", schreibt Sutzkever zu Beginn seiner Chronik. Innerhalb von nur sechs Monaten wurden Zehntausende von litauischen Juden in Ponar südwestlich von Wilna ermordet. Gleichzeitig richteten die Deutschen in der Stadt zwei Gettos ein. Eine beklemmende Vision von Untergang und Mord zeichnet das Gedicht "Die erste Nacht im Getto": "Können Schiffe auf festem Land versinken? / Ich spür. Es sinken Schiffe unter mir, nur die Segel, / geflickte und zertretene, wälzen sich oben: / die grünen erstarrten Leiber, auf die Erde gebreitet. / ... In der Rinne spült Regen zu anderer Zeit, / ein linder, weicher, segnender. Mütter stellen / Eimer hin für die süße Wolkenmilch, / der Töchter Haar zu waschen, dass ihre Zöpfe glücklich leuchten. / Jetzt sind da keine Mütter, keine Töchter, kein Regen, / nur Ziegel einer Ruine, nur die klagenden Ziegel, / mit Stücken Fleisch ihrer Wände herausgerissen."

Selbst wer die Geschichte der Schoa zu kennen meint, erschauert über den Vernichtungswillen der deutschen Besatzer. Die furchtbaren Geschehnisse notierte Sutzkever, wenn er wie die anderen Gettobewohner bei den "Aktionen" in winzigen Verstecken, sogenannten "Malinen", auf Dachböden und in Kellern, ausharrte. Ermordet wurden seine Mutter, deren Schuh er eines Tages in einem Wagen voller Raubgut entdeckte, und sein neugeborener Sohn, der gleich nach der Geburt vergiftet wurde. Doch auch die "Chapunes", die litauischen Häscher, schreckten vor keiner Bosheit zurück. Berichtet wird die Geschichte eines jüdischen Mannes, der seinem Häscher, den er kannte, die Goldzähne für sein Leben anbot. So bitter wie nüchtern hält der Autor fest: "Bei dem Studenten erwachte das Gewissen. Er schlug dem Juden die Zähne aus und ließ ihn leben." Im Tagebuch lässt Sutzkever auch die Stimmen vieler Leidensgenossen zu Wort kommen. Kaum zu ertragen ist der Bericht über die "Leichenbrenner", Häftlinge in Ponar, die gegen Kriegsende die Massengräber öffnen und die Leichen verbrennen mussten, unter den Toten oft genug Freunde und Verwandte.

Schreiben ist für Sutzkever vor allem Erinnerung an die Toten, denen der überlebende Dichter seine Stimme leihen muss. Als er vom "Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg" gezwungen wurde, wertvolle jüdische Manuskripte und Pretiosen auszuwählen, die in Deutschland "eine Wissenschaft des Judentums ohne Juden" ermöglichen sollten, versteckte er möglichst viele Schätze im Getto. In "Weizenkörner" schreibt er: "Wie einen zarten Säugling / beschütz ich das jiddische Wort, / schnuppre in jeden Berg Papier, / rette den Geist vor Mord." Wo die Besatzer jede Kultur fahrenließen, entwickelte sich im Getto parallel zu den Aktivitäten der Partisanen auch ein kultureller und spiritueller Widerstand.

Als das Getto im September 1943 endgültig liquidiert wurde, war Abraham Sutzkever mit seiner Frau nur wenige Tage zuvor die Flucht gelungen. Das Ehepaar schloss sich einer jüdischen Partisanenorganisation in den litauischen Wäldern an. Im selben Jahr entstand das Langgedicht "Kol Nidre", benannt nach dem Gebet am Abend des Versöhnungstages (Jom Kippur). Sein Inhalt beruht auf einem tatsächlichen Ereignis in Ponar. Dort hatte ein jüdischer Vater seinen Sohn erstochen, um ihm weitere Martern zu ersparen. Bei Sutzkever verzweifelt das lyrische Ich an Gott, es erhebt wie Hiob Klage: "Gott hat mir all mein Beten nicht erhört, / er macht gemeine Sache mit dem Schinder." Das Gedicht gelangte in der Sowjetunion unter anderem in die Hände des jiddischen Dichters Perez Markisch und von Ilja Ehrenburg - und beeindruckte beide tief. Im März 1944 flog ein kleines Flugzeug die Sutzkevers unter dramatischen Umständen nach Moskau aus.

Nach der Befreiung Wilnas im Juli 1944 kehrte Sutzkever kurz in die Stadt zurück, um die verborgenen Kulturschätze auszugraben. Diesmal musste er sie dem Zugriff der Sowjets entziehen und ließ sie deshalb nach New York schmuggeln, wo sie sich noch heute im wieder gegründeten YIVO-Institut befinden. 1946 veröffentlichte er das "Tagebuch" in Moskau und Paris und sagte vor dem Nürnberger Tribunal als Zeuge aus. Kurz vor der Gründung des jüdischen Staats emigrierte er mit seiner Frau nach Israel. Damit entkam er den schlimmsten antisemitischen Repressionen in der Sowjetunion, die im August 1952 in der Erschießung der gesamten jiddischen intellektuellen Elite gipfelte - unter den Opfern war auch Perez Markisch, der Retter, dem Sutzkever ein Gedicht widmete: "Wo bist du, Freund? Nun sing die Wahrheit, / sing aus dem Grab und rebellier: / Mein Land, ich schenkte dir Poeme, und eine Kugel gabst du mir."

Sutzkevers Tagebuch ist das politisch verdunkelte Klima dieser Zeit deutlich anzumerken. Während die Namen der deutschen Täter genannt werden, bleibt zum Beispiel die Identität der zahlreichen litauischen Kollaborateure ungenannt. Auch zum umstrittenen Vorsitzenden des Wilnaer Judenrates, Jakow Gents, der später in Joshua Sobols berühmtem Drama "Ghetto" (1984) eine tragende Rolle spielen sollte, äußert sich Sutzkever nur sehr knapp. Schade, dass sich der Ammann Verlag trotz feinsinniger Übersetzung und liebevoller Gestaltung nicht zu einem historischen Geleitwort entschließen konnte, das die Lücken und die verständliche Vorsicht des Autors über sechzig Jahre nach den Geschehnissen ausführlicher beleuchtet. In der Campus-Ausgabe sind der diachronischen Auswahl dagegen zwei instruktive Vorworte zu Leben und Werk Sutzkevers beigesellt. Doch auf die verlegerische Großtat, das Verdienst um die jiddische Literatur, kommt es in erster Linie an. Über den Reichtum dieser Sprache hat Isaac Bashevis Singer einmal gesagt: "Das Jiddische hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen. Es enthält Schätze, die noch lange nicht geborgen sind."

JUDITH LEISTER

Abraham Sutzkever: "Wilner Getto 1941-1944". Ammann Verlag, Zürich 2009. 272 S., geb., 22,95 [Euro].

Abraham Sutzkever: "Gesänge vom Meer des Todes". Ammann Verlag, Zürich 2009.192 S., geb., 22,95 [Euro]. - Beide Bücher aus dem Jiddischen von Hubert Witt.

Abraham Sutzkever: "Geh über Wörter wie über ein Minenfeld". Aus dem Jiddischen von Peter Comans. Verlag Campus, Frankfurt und New York 2009. 389 S., geb., 34,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.01.2010

Der rote Regen
Abraham Sutzkever war der Dichter des Wilnaer Ghettos
In der Stadt der vielen Namen – Wilna, Wilno, Wilne, Vilné, Vilnius – führt kein Wegweiser zum Wald von Ponar. Einst ein lieblicher Ort der Sommerfrische, von Napoleon bewundert und von romantischen Dichtern wie Adam Mickiewicz besungen, wurde die nur wenige Kilometer außerhalb der Stadt gelegene Idylle seit dem Sommer 1941 zur Stätte einer Todesmaschinerie, die die sogenannte „Endlösung” vorwegnahm: ’S firn Wegn zu Ponar zu /’S firt kein Weg zurik, beginnt ein jiddisches Lied. Es erzählt von dem letzten Weg, den rund 100 000 Menschen, darunter die gesamte jüdische Einwohnerschaft von Wilna, zurücklegten – bis zu den Gruben, in die Männer, Frauen und Kinder, nackt und unter den Hieben der Häscher gejagt und in denen sie bestialisch ermordet wurden.
Die „Todesfabrik” von Ponar, wie Abraham Sutzkever sie in seinem Bericht „Wilner Getto 1941-1944” nannte, war auf deutschen Landkarten nicht verzeichnet. Die Stimme eines Ghettobewohners schildert, was dort zu sehen war: „Über dem Tor, das zum Ort der Exekutionen führte, hing ein Schild: ,Betreten auch für deutsche Offiziere streng verboten!’ Durch dieses Tor führten Gleise hinein – die Opfer, die mit der Bahn ankamen, sollten sofort zu den Gruben geführt werden. Je weiter wir gingen, um so Schrecklicheres sahen wir. Das Gras war rot von Blut. Das ganze Feld war mit Leichen bedeckt. Die Bäume waren mit Mord bespritzt. Bei den Baumstämmen lagen zerschmetterte Kinder; ich habe viele Kinder gesehen, die auseinandergerissen waren – ein Füßchen da und ein Füßchen dort. Anderswo sah ich nur Kinderköpfe.”
Abraham Sutzkever, einer der letzten großen Dichter der jiddischen Sprache, der am Dienstag vergangener Woche im Alter von 96 Jahren in Tel Aviv verstarb, zählte zu den wenigen Überlebenden des Ghettos von Wilna, des einst legendären „Jeruscholaim de Lite”: Mit vormals über 100 Gebetshäusern und Synagogen, Bibliotheken und wissenschaftlichen Instituten, jiddischen wie hebräischen Verlagsanstalten und rund fünfzig jüdischen Zeitungen und Periodika war es ein Zentrum der jüdischen Aufklärung. Sutzkever, 1913 in Weißrussland geboren und in Sibirien aufgewachsen, wohin seine Familie nach Kriegsausbruch vertrieben wurde, kam 1920 an der Seite seiner verwitweten Mutter nach Wilna. Als Mitglied des avantgardistischen Künstlerbunds „Jung Wilne” machte er sich schon in den dreißiger Jahren einen Namen als Dichter.
Sutzkever war nach 1941 Mitorganisator eines intensiven Kulturlebens im Ghetto, Teilnehmer aber auch des organisierten bewaffneten Widerstands. Als Angehöriger einer Arbeitsbrigade dem Amt Rosenberg unterstellt, um jüdisches Kulturgut teils zu vernichten, teils zu sammeln, um es ins Reich zu verfrachten, gelang es ihm, kostbare Handschriften, bedeutende Kunstwerke und wertvolle Bücher dem Zugriff der Deutschen zu entziehen, sie in Verstecken zu verwahren oder in Erdböden zu vergraben. Sutzkever selbst konnte noch vor der Liquidation des Ghettos in die Wälder fliehen.
Sein Ruf als Poet und Partisan war unterdessen nach Moskau zu dem Schriftsteller Ilja Ehrenburg gedrungen, der ihn 1944 ausfliegen ließ. Den Bericht aus dem Wilnaer Ghetto hatte Sutzkever ursprünglich für ein von Ehrenburg geplantes Schwarzbuch über die Vernichtung der sowjetischen Juden verfasst. Als Stalins Regime selbst auf antisemitischen Kurs ging, zog Ehrenburg das Projekt zurück. Sutzkevers Bericht erschien zwar 1946 in Moskau und Paris, aber nur in zensierten und verstümmelten Fassungen. Im Jahr darauf emigrierte Sutzkever nach Israel und entging so der Verfolgung und Liquidation der jüdischen Elite in der Sowjetunion. Das Schwarzbuch erschien, von Arno Lustiger herausgegeben, erst in den achtziger Jahren im Rowohlt Verlag.
Der stattliche, zwei Bände Prosa und Dichtung enthaltende Schuber, mit dem der Zürcher Ammann Verlag ein hierzulande beinahe unbekanntes Werk in großartiger Übertragung durch Hubert Witt dem deutschsprachigen Publikum zugänglich macht, ist jetzt zum Epitaph für Abraham Sutzkever geworden. Dem Prosa-Bericht aus dem Wilnaer Ghetto steht darin unter dem Titel „Gesänge vom Meer des Todes” eine Auswahl meist gleichzeitig entstandener Gedichte gegenüber. Dem Leser bieten sie sich zur parallelen Lektüre an.
Der Bericht ist als Mosaik aus Nachricht, Chronik, Tagebuch, Reportage, Porträt und Erzählung collagiert. Ein Satz daraus wie dieser: „ . . . und die Blutströme liefen die Straßen entlang, als wäre ein roter Regen herabgekommen”, ist – wie der Übersetzer notiert – wortgleich auch im Protokoll von Sutzkevers Zeugenaussage 1946 bei den Nürnberger Prozessen festgehalten. Nur war Jiddisch als Gerichtssprache dort nicht zugelassen, weshalb der Zeuge auf Russisch aussagen musste.
Der Abtransport der eigenen Mutter nach Ponar wird im Prosabericht nur leise erwähnt. Aber lakonisch heißt es an anderer Stelle: „Nach jeder Mordaktion spürten die Deutschen ein ,Erbarmen’ mit den Verbliebenen. Die schlechteren Schuhe oder Mäntel der Getöteten schickten sie ins Getto als Geschenk. Einmal sah ich im Getto einen Wagen Schuhe. Ich erkannte unter ihnen einen Hausschuh meiner Mutter.” Das zugehörige Gedicht, „Ein Wagen voller Schuhe”, wird zur Totenklage: „Es zerreißt mir das Herz, ihr Schuh, / ich bitt euch, sagt mir die Wahrheit: / Wo sind die Füße dazu?” Die Prosa, die sonst viel vom grausamen Geschick der Kinder zu berichten weiß, erwähnt nur, dass das eigene Kind aufgrund des im Getto geltenden Gebärverbots unmittelbar nach der Geburt getötet wird. Das Gedicht „An mein Kind” aber hält rührende Zwiesprache: „Mein Kind, / in Worten heißt du: Liebe, / und wortlos bist du es selber, / du – die Mitte meines jeden Traums . . . ”.
Den tiefsten Punkt der Hölle erreicht Sutzkevers Sammlung in den Augenzeugenberichten jenes barbarischen Schlussakts, bei dem die Deutschen im Dezember 1943, um die Spuren ihrer Verbrechen zu beseitigen, die letzten überlebenden Juden und einige Kriegsgefangene zwingen, die verwesten Leichen der 100 000 Toten von Ponar auszugraben und auf einen gigantischen Scheiterhaufen zu tragen: „Dabei belehrte uns der Sturmführer, wir sollten vollkommen vergessen, dass die Leichen vorher Menschen gewesen waren. Heute sind das tote Gegenstände – ,Scheißdreck’ – und man muss mit ihnen rechnen wie mit Materialstücken: ,Balken oder so was’ . . . ”. Die Mörder nahmen ihren Platz auf einem Hügel ein: „Sie blickten durch ihre Theatergläser und observierten alles, was in den Gruben vorging.”
In Poesie und Prosa hat Adam Sutzkever es mit dem Höllenwanderer Dante aufgenommen. In einer „Ode an die Taube”, verfasst in der Nachkriegszeit, spricht er den Florentiner als seinen Meister an: „ – Meister der Hölle, willst du ein Weilchen die Höllen vertauschen? / Ich spaziere in deiner, und du in den wirklichen Feuern . . . / Meister, es schmälert deinen ewigen, marmornen Ruhm nicht, / du bleibst Alighieri, und deine Hölle bleibt Allegorie.”
Abraham Sutzkever gelang, was vor Saul Friedländer, dem Verfasser des Standardwerks „Das Dritte Reich und die Juden", keinem Historiker und auch keinem Dichter mit vergleichbarer Intensität gelang: die Opfer der Massenvernichtung vor dem Status entindividualisierter Objekthaftigkeit zu retten und in lebendige Subjekte zurückzuverwandeln. „Ich schaufelte den Sand beiseite”, schreibt Sutzkever, „und der Spaten wurde sehr kalt in meinen Händen. Ein Körper ohne Kopf lag über einen zweiten hingeworfen. Die Hälse sahen noch rosa und frisch aus. Wie ein blindes Auge blickte vom Rücken des einen ein gelber Flicken. Ich habe nicht mehr weitergegraben. Tiefer als bis zur Wahrheit werde ich nicht graben. Ich nahm nur den Flicken des Opfers und zerdrückte ihn in meiner Faust.”
So widerlegt Sutzkever auch die Legende von den Lämmern, die sich angeblich stumm und wehrlos zur Schlachtbank führen ließen: „Mit Schatten umpanzert, beim Schein eines Lämpchens, / erhitzten wir Bleisatz, bis er zerfloß” – und daraus Gewehrkugeln wurden „in heldenhafter jüdischer Hand / sah all die Kämpfe Jerusalems / sah fallen die granitene Wand. / Die Wörter genommen, in Blei geronnen, / im Herzen ihre Stimmen erkannt”. VOLKER BREIDECKER
ABRAHAM SUTZKEVER: Wilner Getto 1941-1944. Gesänge vom Meer des Todes. Aus dem Jiddischen übertragen von Herbert Witt. Ammann Verlag, Zürich 2009. Zwei Bände im Schuber, 271 und 191 Seiten, 34,95 Euro.
„ . . . in Worten heißt du: Liebe, / und wortlos bist du es selber, / du – die Mitte meines Traums”
„Ich habe nicht mehr weitergegraben. Tiefer als bis zur Wahrheit werde ich nicht graben”
Abraham Sutzkever 1985 in New York Foto:William E. Sauro/The New York Times
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Als außerordentlichen Künstler und mutigen Menschen stellt Susanne Mayer den gerade verstorbenen großen Dichter des Jiddischen, den israelischen Schriftsteller Abraham Sutzkever vor, dessen hier versammelten Gedichte über die Ausrottung der Juden Wilnas sie ebenso ausgeprägten Lebenshunger wie Gestaltungswillen und Sprachmacht bescheinigt. Vor allem die bittere wie lakonische Verdichtung von Ereignissen und Motiven, aus denen Sutzkever seine Gedichte macht, beeindrucken sie tief. Dreizehn Zeilen brauche dieser Dichter, um von der Geburt eines Kindes, dem Mord an ihm und seiner Mutter sowie der Deportation der Großmutter aus der angedeuteten Perspektive des Vaters, Ehemanns und Sohnes dieser Toten zu erzählen. Ein poetisches Geschichtsbuch sei dies, schreibt Mayer. Sutzkever schneide Augenzeugen- mit Kampfberichten und Porträts gegeneinander, in denen sich Szenen von großem Schrecken entfalteten, die gelegentlich mit einer an den Rand der Unerträglichkeit gehenden Kargheit der Verzweiflung Ausdruck geben würden.

© Perlentaucher Medien GmbH