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Prosa und Gedichte von Anne Duden:"Vielleicht ist es das sonderbar Prosaische ihrer Poesie, die so gelassen scheint, weil sie soviel Schreckliches hinter sich hat. So akkurat und leger beschreibt sie das Grauenhafte, dass man manchmal erst auf halber Strecke begreift, in welchem Schreckenskabinett man sich befindet, mit einer fast altmodischen Höflichkeit führt sie uns durch die Strafkolonien des Alltags." (aus: FAZ 10.10.1995)

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Produktbeschreibung
Prosa und Gedichte von Anne Duden:"Vielleicht ist es das sonderbar Prosaische ihrer Poesie, die so gelassen scheint, weil sie soviel Schreckliches hinter sich hat. So akkurat und leger beschreibt sie das Grauenhafte, dass man manchmal erst auf halber Strecke begreift, in welchem Schreckenskabinett man sich befindet, mit einer fast altmodischen Höflichkeit führt sie uns durch die Strafkolonien des Alltags." (aus: FAZ 10.10.1995)

Autorenporträt
Anne Duden*, 1942 geboren, lebt seit 1978 in London und Berlin. Mehrere Poetikdozenturen. Sie erhielt u.a. den Kranichsteiner Literaturpreis, den Dedalus Preis, den_ Marburger Literaturpreis, den Berliner Literaturpreis,_ den Preis der Literatour Nord und den Hans Reimer Preis der Aby- Warburg-Stiftung. 2003 wurde sie mit dem _Heinrich-Böll-Prei_s der Stadt Köln ausgezeichnet.Sonstige Veröffentlichungen: Übergang, 1982, Das Judasschaf, 1985_, Der wunde Punkt im Alphabe_t, 1995.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.1995

Notausgang für Märtyrer
Anne Duden zähmt das Wimpertier / Von Heinrich Detering

Karl Kraus war auch so ein Spaßverderber. "Wenn Sie noch nicht erkannt haben, daß Sie durch ihre Geburt in eine Mördergrube geraten sind", fährt er 1921, angesichts von Verharmlosungen des Weltkriegs, seine Leser an: "dann hol' Sie der Teufel." Anne Duden ist entschieden höflicher und leiser, aber ein Motto ihres Schreibens könnte dieser Bannfluch schon abgeben. Seit ihren ersten Erzählungen Anfang der achtziger Jahre ist diese Schriftstellerin ein Kind von Traurigkeit gewesen, beharrlich im Erinnern an die Bestialität unterm nett geordneten Alltag, an Verbrechen und Verwesung, an Krankheit und Angst und das Unerhörte des Sterbens. Ihre konkreten Phantasien von Zerstückelung und Vernichtung haben in den wenigen Bänden, die sie bisher veröffentlicht hat, eine Sprache gefunden, deren Bildkraft, Strenge und Intensität in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur beispiellos sind. Zuletzt vor zwei Jahren, in dem Gedichtband "Steinschlag", hat sie unsere Alltagswelt als ein Sprachgewitter inszeniert, als einen Albtraum vom verschwiegenen Sterben und vom unglücklichen Leben.

Wer diese eindringliche Stimme bisher überhört haben sollte, kann das Versäumte jetzt nachholen. Gleich mit zwei schmalen Bänden ist Anne Duden nun auf einmal zu hören. Der eine, "Wimpertier", versammelt in chronologischer Folge Prosa und Gedichte, die in den letzten zehn Jahren verstreut publiziert worden sind. Nicht, wie in solchen Fällen üblich, ein Zettelkasten des Liegengebliebenen für einige Fans, vielmehr eine Sammlung, die auch The Best of . . . heißen könnte. Hier finden sich Meisterstücke im Miniaturformat, die Neugierigen auf ein paar Seiten klarmachen könnten, was an dieser Dichterin so aufregend ist: der einleitende Prosatext "Fleischlaß" etwa, das gespenstische Protokoll einer psychophysischen Zerstörung, oder das titelgebende Prosastück über das Auge, das große, gallertige "Wimpertier".

Was ist es, das diese schrecklichen Texte so anziehend macht und die Lektüre zu einem Parforceritt, an dessen Ende man erstaunt und entsetzt zurückblickt? Vielleicht ist es das sonderbar Prosaische ihrer Poesie, die so gelassen scheint, weil sie soviel Schreckliches hinter sich hat. So akkurat und leger beschreibt sie das Grauenhafte, daß man manchmal erst auf halber Strecke begreift, in welchem Schreckenskabinett man sich befindet, mit einer fast altmodischen Höflichkeit führt sie uns durch die Strafkolonien des Alltags.

"Wimpertier" ist ein Rückblick, eine poetische Summe. Was aber in dem gleichzeitig erschienenen Band "Der wunde Punkt im Alphabet" geschieht, ist neu. Zumindest für alle Nichtleser der "Basler Zeitung", in der die meisten dieser siebzehn Kolumnen seit 1989 erschienen sind. Ja, tatsächlich: Kolumnen. Ausgerechnet in jenem journalistischen Genre, das Onkel Max vergoldet hat, äußert sich diese Schriftstellerin "über die Musik Carlo Gesualdos", über den Feierabendstau in London (wo sie seit vielen Jahren lebt), notiert Mitteilungen aus schlaflosen Nächten, aus der Kurklinik, Ansichten von den Nachtseiten dessen, was sie "das schöne Leben" nennt.

Inmitten von Stadtteil-, Kultur- und Straßenfesten, zwischen den Sprachwelten von Knabberspaß und fit-for-fun, in denen "immer alles klar ist", inmitten dieser lustigen Welt schreibt Anne Duden "Im verlorenen Ton". Diese Überschrift benennt nicht nur die Trauer, die, wie im so überschriebenen Text, mitten im Tage unverhofft von Körper und Seele Besitz ergreifen kann, oder das Erschrecken beim Stocken der U-Bahn, wenn "irgendwo die unmenschlichen Überreste eines Menschen von den Gleisen gelöst" werden, oder die stumpfe und stumme Verzweiflung der im florierenden Kurbetrieb "vollgestopften und ausgelieferten Körper". Mit solchen "Ton"-, nämlich Melodie-Angaben überschrieben auch die Sänger-Dichter des Mittelalters ihre Texte. Und tatsächlich handelt es sich hier, im Kolumnen-Titel, um ein verdecktes Zitat aus den dunklen Versen des Heinrich von Meißen, alias "Frauenlob", aus dem vierzehnten Jahrhundert.

Und da öffnen sich zwischen den Zeitungsspalten verborgene Eingänge zu einer versunkenen Welt, in deren fremden Bildern die Muster unserer Gegenwart entziffert werden könnten. Einige dieser Bilder werden hier reproduziert: Gemälde des ausgehenden Mittelalters, der Renaissance und des Barock. Von ihnen handeln die meisten dieser Prosastücke (an deren Ende jeweils ein zierlicher Pfeil auf die zugehörige Abbildung weist), in ihnen findet sie Darstellungen und mögliche Deutungen dessen, was sich zwischen Fernsehschirm und Fitneßcenter abspielt. In Carpaccios "Martyrium der zehntausend Christen auf dem Berge Ararat" beispielsweise zeigt sich die Erde als "Manövergelände", der Himmel als "Notausgang für Märtyrer", und vergeblich bleibt die Mühe des Betrachters, "das Gemetzel entwirren, ein Massaker ordnen" zu wollen. "Um nicht auf der Strecke zu bleiben" vor dem Höllenspektakel, bedarf es "des Kunstflugs der Blicke". Solche Kunstflüge sind Anne Dudens Bildlektüre, ihre Ausflüge in vergangene Gemälde und Sprachen.

So war schon lange der Kampf aller heiligen George gegen die Drachen der bildgewordene Abwehrkampf der Zivilisation gegen die ungebändigte, also böse Natur, ein Hauptthema ihres Schreibens. In der stereotypen Ordnung der Drachenkampf-Bilder erkennt sie nun zugleich den Kampf einer Sprache gegen die andere. "Neunzig Prozent der Opfer wird das Maul gestopft", den Ungetümen dringt der Speer in die Kehle, zerreißt die Zunge, und es gibt kein Entkommen. Die Drachenköpfe auf diesen stummen Bildern "schreien, brüllen, röcheln die Sprache der Körper und der Herzen", und darum werden sie zur Hölle geschickt. Das Monstrum wird "mundtot gepfählt" vom Ritterheiligen, der damit "scheidet, was einmal zusammengehört haben mag: Tier und Mensch, Leben und Tod".

Was aber jetzt geschieden ist, mag womöglich in einer neuen Sprache wieder zusammengefügt werden, was zerrissen und blutend im Streit liegt, könnte vielleicht wieder eins werden, das "Opfertier" auferstehen. Mit äußerster Zartheit und in der Möglichkeitsform wird in diesen Benjaminschen Allegoresen biblische Sprache umspielt.

Denn soviel Schmerz, Qual, Düsternis und Tod, soviel Daseinsempörung des Fleisches auch diesen Band durchzieht - über ihm liegt doch eine merkwürdige Leichtigkeit, ein entspannter und konzentrierter Rhythmus, der von der Albtraumangst des "Wimpertiers" so weit weg ist wie der in Abrahams Schoß ausruhende Lazarus vom Reichen im Feuer: nämlich himmelweit entfernt, und doch noch immer auf Sichtweite. Man muß wohl, um sie zu beschreiben, Vokabeln aus der Bilderwelt der Evangelien gebrauchen.

Aber wie heikel ist das Terrain, auf das sich diese Texte damit begeben, wie umstellt von Warnschildern, auf denen "Intimsphäre" und "Privatsache" steht, wie verrottet andererseits unter gutgemeintem Sakralkitsch. Nicht etwa das kirchliche Kulturgut ist ja das womöglich letzte Tabu der öffentlichen Rede, sondern das Heilige. Nicht die Kruzifixe sind ihr Skandalon, sondern der gekreuzigte Christus, nicht "das Christentum", sondern Opfer, Erlösung, Auferstehung, den einen ein Ärgernis, den anderen eine Dummheit. Wer bemerkt hat, welcher Umsicht, welcher Aufmerksamkeit es bedarf, um da zwischen den Sprachschablonen und dem Schweigen hindurchzusegeln, muß bestaunen, wie leicht und schön Anne Duden das macht. Dem Mystizismus der Bocksgesänge anstimmenden Dunkelmänner tritt ihre Prosa hell und heiter entgegen, nüchtern und ohne Larmoyanz. Ihre Poesie verdankt sich ihrer Prägnanz. "Sehen: dahin, wo kein Bild mehr ist", heißt es am Ende einer Betrachtung von Mantegnas "Triumph Cäsars". Darauf ist der Band aus, dahin geht seine Bewegung: durch den Alltag, durch die Bilder des Entsetzens hindurch ins Bildlose, das schmerzlos ist.

Aus einer von weither kommenden Vertrautheit mit den Bildern der religiösen Überlieferung und zugleich mit dem verwunderten Blick einer eben Angekommenen über das Sonderbare, Erstaunliche, das es da zu sehen gibt, betrachtet sie das Martyrium der Zehntausend und die Auferstehung des Gekreuzigten und hört gar den Gesang der Engel. Noch "erdgebundene Engel" freilich sind es, Singvögel im englischen Morgengrauen, die ihr hörbar machen, "daß es sich auch noch ins nicht Feststellbare über unsichtbare Stufen aufsteigen läßt, daß es ein Abheben ohne viel Aufhebens gibt". Das Engelsbild ist von so schwebender Mehrdeutigkeit wie die leichtgewichtigen Tiere, die es zeigt und deren Verschwinden "die Ausrottung der Polyphonie" bedeuten würde.

Genauso leicht und so polyphon reden die beiden zentralen Texte dieses Bandes vom Evangelium. In "Zeichen auf der Erde" geht es um die Geschichte von Christus und der Ehebrecherin. Mit einem Bilddetail setzt der Text ein, dann weitet sich langsam der Blick, es zeigt sich der Erdboden, dann die darauf stehen, dann die Beziehungen der Figuren, schließlich das Bild als Bild: "denn wir befinden uns in der Geschichte von Christus und der Ehebrecherin, genauer: in dem Grisaille-Bild von Pieter Bruegel d. Ä.". Um ein abwesendes Zentrum gruppieren sich Gestalten: das Schweigen zwischen dem zur Verurteilung aufgeforderten Christus, der statt dessen den rätselhaften Satz Terra terram accusat in den Sand schreibt, und der Sünderin, die dasteht wie das Initial dieses Satzes, sein "Anfangsbuchstabe aus Fleisch und Blut und Knochen", schließlich die verstummten Ankläger, die Zuschauer, die Leser. Sie alle nehmen etwas wahr, "das im Raum steht und ungesagt bleibt, das sich, über und neben dem Geschriebenen, ausschweigt" - und das "Grund und Auslöser der Schrift sein könnte", der im Bild gezeigten und womöglich auch derjenigen, in der hier das Bild beschrieben wird. Vier Seiten Prosa genügen Anne Duden, um diese gewaltige Spanne zu durchmessen, vier Seiten, als schlenderten wir mit ihr ein wenig durchs Museum.

Und schließlich "Blickrichtungen". Vom Auferstehenden handelt dieser Text, nicht vom Auferstandenen, von dem Augenblick, in dem das Einzigartige geschieht: der Lebendige auf dem Rande der Gruft, die Wächter "hingebungsvoll ohnmächtig" hingestreckt als "der Bodensatz der Auferstehungen", das Licht im heiteren Aufruhr. In den Bildern sucht Duden die Grenze, an der der "Alp- und Fiebertraum unversehens in einen Wach- und Wunschtraum übergehen kann, dieses Oszillieren zwischen Schwere und Leichtigkeit, das lange keinen Schluß zuläßt, auf welche Seite das Geschehen sich schlagen soll".

Aber dieser Gedanke ist, selber oszillierend zwischen Schwere und Leichtigkeit, nur der Anfang des Textes. Denn auch hier bewegt sich das betrachtende Auge in langsamer Kamerafahrt rückwärts: Der Höhleneingang, der das unerhörte Geschehen rahmt, kommt von allen Seiten ins Bild, als das "mit Gräsern bewimperte größere Erd-Auge", aus dessen Wänden und Schattenspielen der Blick des betrachtenden Menschen ins Freie fällt. Und damit wird auf einmal, wie in einer Kippfigur, der eingerahmte leere Himmel als Gegenüber erkennbar: als Auge, das zurückblickt. Denn nun hat er "Pupille und Iris" - und die werden in diesem Bild, "hier, in diesem Augenblick, von dem Kopf des Auferstandenen und seiner goldenen Aura gebildet". Damit ist das ganze Bild erfaßt, und damit endet dieses Prosastück.

Die Epiphanien bleiben vorläufig. Das letzte Bild, das letzte Kapitel, bleibt dem Drachenkampf vorbehalten. Der nämlich war in Carpaccios Gemälde von allegorischen Figuren umgeben, von zerstückelten und blinden Leibern auf einem Brachfeld vor den Stadtmauern. Deren stummes Weiterreden wird am Ende des Bandes hörbar, "auch wenn die Musik aus der Stadt jeden anderen Laut und Angst und Zweifel der Lebenden vielleicht übertönt". Der Blick der Toten trifft, in den letzten Zeilen, auf den des Lesers: wie sie, "stadtabgewandt, mit geschlossenen Lidern, zurückblicken in die Wildnis, bis hin zum Ursprung, wo jetzt Kahlschlag ist und - wir stehen".

Anne Duden: "Wimpertier". Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1995. 128 S., geb., 29,80 DM.

"Der wunde Punkt im Alphabet". Rotbuch Verlag, Berlin 1995. 128 S., geb., 34,- DM.

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