"Es gibt nur eine Möglichkeit, zu erfahren, was sich am 11. September 2001 zwischen 8.30 Uhr und 10.29 Uhr im Restaurant des Nordturms des World Trade Centers zugetragen hat: Man muß es erfinden." Frédéric Beigbeder Fesselnd, erschütternd, polarisierend: der Bestseller jetzt im Taschenbuch
Schockerlebnis und literarisches Ereignis: Beigbeders Roman über den 11. SeptemberDas Drama beginnt um 8.30 Uhr: Der texanische Immobilienmakler Carthew Yorston und seine beiden Söhne Jerry und David ahnen nicht, dass sie nur noch kurze Zeit zu leben haben. In 119 Kapiteln versucht Beigbeder das "Unbeschreibliche" und gibt Minute für Minute die Gedanken des Familienvaters wieder, der am 11. September 2001 mit seinen Kindern im Luxusrestaurant "Windows on the World" frühstückt, als um 8.46 Uhr die erste Boeing in den Nordturm des World Trade Centers rast. Während Carthew im flammenden Inferno des Turms verzweifelt nach einem Ausweg sucht und sein zerrüttetes Leben Revue passieren lässt, zieht Beigbeder ebenfalls Bilanz: Auf dem Montparnasse-Turm in Paris und in den Strassen von New York entwirft er das erschreckende Bild seiner eigenen, gescheiterten und liebesunfähigen Generation, deren oberflächliche Werte durch die Ereignisse des 11. September endgültig zerstört werden.
Schockerlebnis und literarisches Ereignis: Beigbeders Roman über den 11. SeptemberDas Drama beginnt um 8.30 Uhr: Der texanische Immobilienmakler Carthew Yorston und seine beiden Söhne Jerry und David ahnen nicht, dass sie nur noch kurze Zeit zu leben haben. In 119 Kapiteln versucht Beigbeder das "Unbeschreibliche" und gibt Minute für Minute die Gedanken des Familienvaters wieder, der am 11. September 2001 mit seinen Kindern im Luxusrestaurant "Windows on the World" frühstückt, als um 8.46 Uhr die erste Boeing in den Nordturm des World Trade Centers rast. Während Carthew im flammenden Inferno des Turms verzweifelt nach einem Ausweg sucht und sein zerrüttetes Leben Revue passieren lässt, zieht Beigbeder ebenfalls Bilanz: Auf dem Montparnasse-Turm in Paris und in den Strassen von New York entwirft er das erschreckende Bild seiner eigenen, gescheiterten und liebesunfähigen Generation, deren oberflächliche Werte durch die Ereignisse des 11. September endgültig zerstört werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.03.2004In dünner Luft
Frédéric Beigbeders fulminantes Scheitern beim Schreiben des großen Romans zum 11. September
Der französische Schriftsteller Frédéric Beigbeder und der arabische Terrorist Usama Bin Ladin haben, außer der Liebe zur blumigen Formulierung und zum blanken Kitsch, außer einem Hang zur großen Pose und der Herkunft aus sehr wohlhabenden Verhältnissen, vor allem eines gemeinsam: Sie sind sich im wesentlichen einig in ihrem Urteil über die Verkommenheit des Westens.
Im September des Jahres 2000 veröffentlichte Beigbeder seinen Roman "99 Francs" (deutscher Titel "39,90"), in welchem er unserer Welt des Konsums und des Hedonismus und der Amoral den baldigen Untergang voraussagte - und man wurde beim Lesen den Verdacht nicht los, daß dieses Buch, das so voll war von schmutzigen Wörtern und blutigen Szenen, dieser Text aus zerborstenen Metaphern und Trümmern von Poesie, schon an der Erfüllung seiner eigenen Prophezeiungen arbeitete. Im September des Jahres 2001 wurden zwei Boeings zu den Bomben, welche die beiden höchsten Türme von New York zum Einsturz brachten und Tausende von Menschen töteten. Beigbeder saß, als die Flugzeuge ins World Trade Center stürzten, in Paris und gab ein Interview, welches naturgemäß abgebrochen wurde, als die Nachricht von der Katastrophe sich verbreitete.
Zum Schweigen war er aber nicht zu bringen, ganz im Gegenteil. Frédéric Beigbeder hat sich hingesetzt und einen Roman geschrieben, den ersten Roman über den elften September - und wer die Gegenüberstellung Beigbeders mit Bin Ladin als unfair empfindet, sollte gleich mal die Seite 317 aufschlagen; dann weiß er, daß es den Richtigen trifft. Da schreibt Beigbeder über das Restaurant "Windows on the World", hoch oben im World Trade Center, daß es zu einer "Luxus-Gaskammer" geworden sei. "Seine Gäste wurden vergast, verbrannt und zu Asche wie in Auschwitz. Wir schulden ihnen das gleiche Gedenken." Das sind die dümmsten Sätze in diesem Buch, in dem es noch einige dumme Sätze gibt - und weil "Windows on the World" auch ein Roman übers Romanschreiben ist, steht dahinter, in Klammern: "Seite gestrichen", was hier bloß albern wirkt.
Beigbeder muß sich nicht wundern, daß ihm aus mancher Rezension der reine Haß entgegenschlägt, und wer diesen Schriftsteller nach "99 Francs" schon für einen Blender und Angeber hielt, wird ihn jetzt noch ein bißchen widerlicher finden, zumal es in diesem Buch zwei Hauptfiguren gibt, von denen eine Frédéric Beigbeder heißt, Schriftsteller ist und sich von Anfang an als ein dermaßen blasiertes Würstchen inszeniert, daß man fast meint, Beigbeder wolle seinen Leser zur Aggressivität gegen literarische Figuren erziehen.
"Ich weiß wirklich nicht, warum ich dieses Buch geschrieben habe", schreibt Beigbeder auf Seite 341, und natürlich möchte man in solchen Momenten das Buch anbrüllen: "Dann hättest du es halt bleibenlassen!" Und damit, mit solchen heftigen Reaktionen, hat man als Leser genau die Haltung eingenommen, die gegenüber Beigbeders Buch die einzig angemessene ist. Man muß es selber weiterschreiben, weiterdenken - und wenn die Kritik der Bücher so etwas Ähnliches wie die Kritik von Saucen wäre, wenn es also nur darum ginge, einem Autor das Gelingen oder Mißlingen seines Werks zu bescheinigen, dann müßte man Beigbeder wohl das totale Scheitern attestieren.
"Windows on the World": Roman steht auf dem Umschlag, aber ein Roman steht gar nicht drin - das Ganze liest sich eher wie der Materialienband zu dem Roman, welchen Beigbeder zu seinem Glück und dem des Lesers nicht geschrieben hat. Ein Roman über den 11. September 2001 - wenn der gelungen wäre, dann hätte sich Beigbeder eines ähnlichen Zynismus schuldig gemacht wie die Wahlhelfer des George W. Bush, welche in ihre neuen Spots ganz lässig die Bilder der gestürzten Türme einbauen - und dabei nicht wahrhaben wollen, daß sie damit die Katastrophe zum extrabilligen Spezialeffekt herabwürdigen.
Es sah ja damals, vor zweieinhalb Jahren, unmittelbar nach dem Sturz der Zwillingstürme so aus, als ob das Attentat und seine Folgen für lange Zeit ein ästhetisches Tabu bleiben würden. "Der Schock ist, daß das passiert, wovon man geträumt hat", sagte damals Slavoj Zizek, die Filmbilder von der Zerstörung New Yorks, welche dem realen Attentat vorausgingen, hatte jeder gesehen - es war zum Kurzschluß zwischen unseren Destruktionsphantasien und der Tat der Terroristen gekommen: Das Terrain von Ground Zero war kontaminiert. Hier wuchsen keine Fiktionen mehr.
Beigbeder versucht es trotzdem - und er macht es sich zugleich einfach und unendlich schwer. Er erfindet einen Mann, Immobilienmakler aus Texas, dreiundvierzig Jahre alt, der mit seinen beiden Söhnen im "Windows on the World" beim Frühstücken ist, als die Boeing, zwanzig Stockwerke unter ihnen, in den Nordturm rast. Und er gruppiert um seine Helden eine Gruppe von Leuten, die er wohl für eine repräsentative Auswahl hält, Wall-Street-Typen, Büromenschen, Personal, eine Schwarze, einen Homosexuellen: nicht besonders gut erfunden, aber um so interessanter als Dokumentation dafür, wie man sich von Frankreich aus die Amerikaner vorstellt.
Parallel dazu, quasi wie im Film, erzählt Beigbeder von jener Figur, die er "Beigbeder" nennt, diesem mäßig sympathischen Mann, welcher den Bestseller "99 Francs" geschrieben und damit viel Geld verdient hat und auch sonst seinem Autor zum Verwechseln ähnlich sieht. Jeden Morgen begibt sich dieser Mann ins Restaurant "Ciel de Paris", hoch oben in der Tour Montparnasse, welche, zu seinem größten Bedauern, nur halb so hoch ist, wie es die New Yorker Zwillingstürme waren, und da sitzt er dann und nimmt ein Frühstück und schreibt alles auf, was sein Kopf so denkt oder zu denken versucht. Was naturgemäß von überbordender und - wie man als deutscher Leser versucht ist zu sagen - von typisch französischer Geschwätzigkeit ist. Und genau das ist das Interessante an diesem Buch. Ein populäres Bonmot unter Filmexperten besagt, daß jeder Spielfilm vor allem als Dokumentation seiner eigenen Inszenierung zu betrachten sei. Beigbeders sogenannter Roman ist die Dokumentation der Unmöglichkeit, diesen Roman zu schreiben.
Das zeigt sich schon darin, daß jene Kapitel, die im Turm spielen, sehr viel kürzer geworden sind. Hier wäre Geschwätz ein Angriff auf die Würde jener, die da oben tatsächlich litten und gestorben sind, hier würden Wörter das in Dekor verwandeln, was doch der unsagbare Schmerz der langsam verschmorenden Menschen war. Für den Schmerz, schreibt Elaine Scarry, gebe es, anders als für die Angst, keinen Bezugspunkt und kein Zeichen außerhalb des eigenen Körpers, der Schmerz widerstehe jeder Kommunikation - und weil, was da oben im 107. Stockwerk geschah, wohl im wesentlichen aus Schmerzen bestand, wird Beigbeders Erzählung immer dünner und knapper, wenn die Temperatur im Turm steigt und die ersten, weil sie es nicht ertragen, aus den Fenstern springen.
Um 8.46 Uhr schlägt die Boeing ein, um 10.28 Uhr stürzt der Turm, und am Anfang, so stellt Beigbeder sich das vor, ist noch Hoffnung, daß das Bauwerk halten werde und die Menschen übers Dach und mit Hubschraubern gerettet würden. Seinen Söhnen, die das Flugzeug kommen sahen und die Erschütterung gespürt haben, erzählt der Vater, daß das hier bloß ein Spiel sei, eine Art Geisterbahn mit spektakulären Effekten, und natürlich glauben ihm die Kinder, weil sie das, was sie sehen, aus dem Kino und dem Themenpark zu kennen glauben. Später, als es heiß geworden ist und keiner mehr an ein Spiel glaubt, redet der jüngere Sohn sich ein, daß sein Vater ein Supervater sei, ein Held, der wie Superman gleich seine übermenschlichen Kräfte mobilisieren und seine Söhne retten werde. In diesen Passagen meint man als Leser, das Rückkopplungspfeifen zu hören und das Durchknallen all jener Sicherungen, welche die Kreisläufe der Wirklichkeit vor dem Einbruch der Fiktionen trennen sollen. Auch zweieinhalb Jahre nach dem Attentat bestätigt sich noch der Befund, daß damals, in der Glut der brennenden Türme, beides untrennbar miteinander verschmolzen ist.
Und in Paris sitzt Beigbeder und stenographiert den Strom seiner Gedanken - und je weiter man liest, desto klarer kommt hinter all den Redundanzen und den kleinen Geschwätzigkeiten das große Bild zum Vorschein, und es ist nicht das Bild von Amerika, nach dem sich Beigbeders Blicke sehnen. Vielmehr ist es das Bild des Bildes, das die Franzosen (und vielleicht die meisten Europäer) sich von Amerika machen wollen - die Einsicht in die Unmöglichkeit, angesichts der Evidenz der Katastrophe dazu auch noch eine Meinung oder Haltung zu entwickeln. Beigbeder hat, bis er dahin kommt, genügend Meinungen ausprobiert, er hat Haltungen angezogen, so wie man im Kleiderladen ein Jackett anzieht, und er hat sie alle wieder zurückgehängt. Und nur so läßt sich auch sein unangenehmer Auschwitz-Vergleich verstehen: Er hat ihn ausprobiert und verworfen, und weil sein Text nicht Essay, sondern Protokoll ist, hat er ihn nicht aus dem Manuskript gestrichen.
Warum hat Beigbeder dieses Buch geschrieben? Vermutlich, weil er vor dreieinhalb Jahren "99 Francs" geschrieben hat. Denn darin hatte er so vehement die Umkehr gefordert und herbeigesehnt, daß ihm wohl gar nichts anderes übrigblieb, als den 11. September persönlich zu nehmen. Von Beigbeder aus betrachtet, muß man wohl "99 Francs" genauso zu den Inspirationsquellen des Attentats zählen, wie das bei Filmen wie "Independence Day" offensichtlich ist.
Kein Wunder, daß Beigbeder so erschrocken ist, daß er vor allem vom 11. September in seinem eigenen Kopf erzählt. Und sehr konsequent von ihm, daß er schließlich nach New York fliegt und selber überprüfen will, was sich dort geändert hat. Er findet Bars und Discos, Drogen, Sex und unfaßbare Gier. Von Umkehr keine Spur, nichts hat sich geändert. Fragt sich nur, ob das eine gute oder eine schlechte Nachricht ist.
CLAUDIUS SEIDL
Frédéric Beigbeder: "Windows on the World". Ullstein 2004. 352 Seiten. 22 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frédéric Beigbeders fulminantes Scheitern beim Schreiben des großen Romans zum 11. September
Der französische Schriftsteller Frédéric Beigbeder und der arabische Terrorist Usama Bin Ladin haben, außer der Liebe zur blumigen Formulierung und zum blanken Kitsch, außer einem Hang zur großen Pose und der Herkunft aus sehr wohlhabenden Verhältnissen, vor allem eines gemeinsam: Sie sind sich im wesentlichen einig in ihrem Urteil über die Verkommenheit des Westens.
Im September des Jahres 2000 veröffentlichte Beigbeder seinen Roman "99 Francs" (deutscher Titel "39,90"), in welchem er unserer Welt des Konsums und des Hedonismus und der Amoral den baldigen Untergang voraussagte - und man wurde beim Lesen den Verdacht nicht los, daß dieses Buch, das so voll war von schmutzigen Wörtern und blutigen Szenen, dieser Text aus zerborstenen Metaphern und Trümmern von Poesie, schon an der Erfüllung seiner eigenen Prophezeiungen arbeitete. Im September des Jahres 2001 wurden zwei Boeings zu den Bomben, welche die beiden höchsten Türme von New York zum Einsturz brachten und Tausende von Menschen töteten. Beigbeder saß, als die Flugzeuge ins World Trade Center stürzten, in Paris und gab ein Interview, welches naturgemäß abgebrochen wurde, als die Nachricht von der Katastrophe sich verbreitete.
Zum Schweigen war er aber nicht zu bringen, ganz im Gegenteil. Frédéric Beigbeder hat sich hingesetzt und einen Roman geschrieben, den ersten Roman über den elften September - und wer die Gegenüberstellung Beigbeders mit Bin Ladin als unfair empfindet, sollte gleich mal die Seite 317 aufschlagen; dann weiß er, daß es den Richtigen trifft. Da schreibt Beigbeder über das Restaurant "Windows on the World", hoch oben im World Trade Center, daß es zu einer "Luxus-Gaskammer" geworden sei. "Seine Gäste wurden vergast, verbrannt und zu Asche wie in Auschwitz. Wir schulden ihnen das gleiche Gedenken." Das sind die dümmsten Sätze in diesem Buch, in dem es noch einige dumme Sätze gibt - und weil "Windows on the World" auch ein Roman übers Romanschreiben ist, steht dahinter, in Klammern: "Seite gestrichen", was hier bloß albern wirkt.
Beigbeder muß sich nicht wundern, daß ihm aus mancher Rezension der reine Haß entgegenschlägt, und wer diesen Schriftsteller nach "99 Francs" schon für einen Blender und Angeber hielt, wird ihn jetzt noch ein bißchen widerlicher finden, zumal es in diesem Buch zwei Hauptfiguren gibt, von denen eine Frédéric Beigbeder heißt, Schriftsteller ist und sich von Anfang an als ein dermaßen blasiertes Würstchen inszeniert, daß man fast meint, Beigbeder wolle seinen Leser zur Aggressivität gegen literarische Figuren erziehen.
"Ich weiß wirklich nicht, warum ich dieses Buch geschrieben habe", schreibt Beigbeder auf Seite 341, und natürlich möchte man in solchen Momenten das Buch anbrüllen: "Dann hättest du es halt bleibenlassen!" Und damit, mit solchen heftigen Reaktionen, hat man als Leser genau die Haltung eingenommen, die gegenüber Beigbeders Buch die einzig angemessene ist. Man muß es selber weiterschreiben, weiterdenken - und wenn die Kritik der Bücher so etwas Ähnliches wie die Kritik von Saucen wäre, wenn es also nur darum ginge, einem Autor das Gelingen oder Mißlingen seines Werks zu bescheinigen, dann müßte man Beigbeder wohl das totale Scheitern attestieren.
"Windows on the World": Roman steht auf dem Umschlag, aber ein Roman steht gar nicht drin - das Ganze liest sich eher wie der Materialienband zu dem Roman, welchen Beigbeder zu seinem Glück und dem des Lesers nicht geschrieben hat. Ein Roman über den 11. September 2001 - wenn der gelungen wäre, dann hätte sich Beigbeder eines ähnlichen Zynismus schuldig gemacht wie die Wahlhelfer des George W. Bush, welche in ihre neuen Spots ganz lässig die Bilder der gestürzten Türme einbauen - und dabei nicht wahrhaben wollen, daß sie damit die Katastrophe zum extrabilligen Spezialeffekt herabwürdigen.
Es sah ja damals, vor zweieinhalb Jahren, unmittelbar nach dem Sturz der Zwillingstürme so aus, als ob das Attentat und seine Folgen für lange Zeit ein ästhetisches Tabu bleiben würden. "Der Schock ist, daß das passiert, wovon man geträumt hat", sagte damals Slavoj Zizek, die Filmbilder von der Zerstörung New Yorks, welche dem realen Attentat vorausgingen, hatte jeder gesehen - es war zum Kurzschluß zwischen unseren Destruktionsphantasien und der Tat der Terroristen gekommen: Das Terrain von Ground Zero war kontaminiert. Hier wuchsen keine Fiktionen mehr.
Beigbeder versucht es trotzdem - und er macht es sich zugleich einfach und unendlich schwer. Er erfindet einen Mann, Immobilienmakler aus Texas, dreiundvierzig Jahre alt, der mit seinen beiden Söhnen im "Windows on the World" beim Frühstücken ist, als die Boeing, zwanzig Stockwerke unter ihnen, in den Nordturm rast. Und er gruppiert um seine Helden eine Gruppe von Leuten, die er wohl für eine repräsentative Auswahl hält, Wall-Street-Typen, Büromenschen, Personal, eine Schwarze, einen Homosexuellen: nicht besonders gut erfunden, aber um so interessanter als Dokumentation dafür, wie man sich von Frankreich aus die Amerikaner vorstellt.
Parallel dazu, quasi wie im Film, erzählt Beigbeder von jener Figur, die er "Beigbeder" nennt, diesem mäßig sympathischen Mann, welcher den Bestseller "99 Francs" geschrieben und damit viel Geld verdient hat und auch sonst seinem Autor zum Verwechseln ähnlich sieht. Jeden Morgen begibt sich dieser Mann ins Restaurant "Ciel de Paris", hoch oben in der Tour Montparnasse, welche, zu seinem größten Bedauern, nur halb so hoch ist, wie es die New Yorker Zwillingstürme waren, und da sitzt er dann und nimmt ein Frühstück und schreibt alles auf, was sein Kopf so denkt oder zu denken versucht. Was naturgemäß von überbordender und - wie man als deutscher Leser versucht ist zu sagen - von typisch französischer Geschwätzigkeit ist. Und genau das ist das Interessante an diesem Buch. Ein populäres Bonmot unter Filmexperten besagt, daß jeder Spielfilm vor allem als Dokumentation seiner eigenen Inszenierung zu betrachten sei. Beigbeders sogenannter Roman ist die Dokumentation der Unmöglichkeit, diesen Roman zu schreiben.
Das zeigt sich schon darin, daß jene Kapitel, die im Turm spielen, sehr viel kürzer geworden sind. Hier wäre Geschwätz ein Angriff auf die Würde jener, die da oben tatsächlich litten und gestorben sind, hier würden Wörter das in Dekor verwandeln, was doch der unsagbare Schmerz der langsam verschmorenden Menschen war. Für den Schmerz, schreibt Elaine Scarry, gebe es, anders als für die Angst, keinen Bezugspunkt und kein Zeichen außerhalb des eigenen Körpers, der Schmerz widerstehe jeder Kommunikation - und weil, was da oben im 107. Stockwerk geschah, wohl im wesentlichen aus Schmerzen bestand, wird Beigbeders Erzählung immer dünner und knapper, wenn die Temperatur im Turm steigt und die ersten, weil sie es nicht ertragen, aus den Fenstern springen.
Um 8.46 Uhr schlägt die Boeing ein, um 10.28 Uhr stürzt der Turm, und am Anfang, so stellt Beigbeder sich das vor, ist noch Hoffnung, daß das Bauwerk halten werde und die Menschen übers Dach und mit Hubschraubern gerettet würden. Seinen Söhnen, die das Flugzeug kommen sahen und die Erschütterung gespürt haben, erzählt der Vater, daß das hier bloß ein Spiel sei, eine Art Geisterbahn mit spektakulären Effekten, und natürlich glauben ihm die Kinder, weil sie das, was sie sehen, aus dem Kino und dem Themenpark zu kennen glauben. Später, als es heiß geworden ist und keiner mehr an ein Spiel glaubt, redet der jüngere Sohn sich ein, daß sein Vater ein Supervater sei, ein Held, der wie Superman gleich seine übermenschlichen Kräfte mobilisieren und seine Söhne retten werde. In diesen Passagen meint man als Leser, das Rückkopplungspfeifen zu hören und das Durchknallen all jener Sicherungen, welche die Kreisläufe der Wirklichkeit vor dem Einbruch der Fiktionen trennen sollen. Auch zweieinhalb Jahre nach dem Attentat bestätigt sich noch der Befund, daß damals, in der Glut der brennenden Türme, beides untrennbar miteinander verschmolzen ist.
Und in Paris sitzt Beigbeder und stenographiert den Strom seiner Gedanken - und je weiter man liest, desto klarer kommt hinter all den Redundanzen und den kleinen Geschwätzigkeiten das große Bild zum Vorschein, und es ist nicht das Bild von Amerika, nach dem sich Beigbeders Blicke sehnen. Vielmehr ist es das Bild des Bildes, das die Franzosen (und vielleicht die meisten Europäer) sich von Amerika machen wollen - die Einsicht in die Unmöglichkeit, angesichts der Evidenz der Katastrophe dazu auch noch eine Meinung oder Haltung zu entwickeln. Beigbeder hat, bis er dahin kommt, genügend Meinungen ausprobiert, er hat Haltungen angezogen, so wie man im Kleiderladen ein Jackett anzieht, und er hat sie alle wieder zurückgehängt. Und nur so läßt sich auch sein unangenehmer Auschwitz-Vergleich verstehen: Er hat ihn ausprobiert und verworfen, und weil sein Text nicht Essay, sondern Protokoll ist, hat er ihn nicht aus dem Manuskript gestrichen.
Warum hat Beigbeder dieses Buch geschrieben? Vermutlich, weil er vor dreieinhalb Jahren "99 Francs" geschrieben hat. Denn darin hatte er so vehement die Umkehr gefordert und herbeigesehnt, daß ihm wohl gar nichts anderes übrigblieb, als den 11. September persönlich zu nehmen. Von Beigbeder aus betrachtet, muß man wohl "99 Francs" genauso zu den Inspirationsquellen des Attentats zählen, wie das bei Filmen wie "Independence Day" offensichtlich ist.
Kein Wunder, daß Beigbeder so erschrocken ist, daß er vor allem vom 11. September in seinem eigenen Kopf erzählt. Und sehr konsequent von ihm, daß er schließlich nach New York fliegt und selber überprüfen will, was sich dort geändert hat. Er findet Bars und Discos, Drogen, Sex und unfaßbare Gier. Von Umkehr keine Spur, nichts hat sich geändert. Fragt sich nur, ob das eine gute oder eine schlechte Nachricht ist.
CLAUDIUS SEIDL
Frédéric Beigbeder: "Windows on the World". Ullstein 2004. 352 Seiten. 22 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main