Hinter der bezaubernden Kantabilität von Rilkes "Sonetten an Orpheus" verbergen sich poetische Raffinesse und poetologische Originalität. Dies macht die vorliegende Arbeit deutlich. In einer detaillierten Textanalyse werden die vielumstrittenen Fragen nach der Einheit des Zyklus, nach der Sonettform oder dem morphologischen 'Keimzellenprinzip', nach Rilkes Beitrag zur modernen Subjekt-Diskussion, zum Werk-Begriff, zum Abstraktionsverfahren, zum Temporalitätsverständnis oder zur Umdeutung der Orpheusfigur geklärt. Aufgrund der Ergebnisse erfahren zahlreiche Topoi der Rilke-Interpretation eine entschiedene Revision. Gleichzeitig wird die brisante literarhistorische Schwellenposition des schmalen Zyklus offenbar.
The consummate musicality of the verse in Rilke's "Sonnets to Orpheus" stems from a blend of sophisticated craftmanship and poetological originality, as this study sets out to demonstrate. A detailed analysis of the text forms the basis for a discussion of a variety of topics that have traditionally divided literary critics: the unity of the cycle, the use of the sonnet form, the morphological Keimzellenprinzip (nucleus principle), Rilke's contribution to the discussion on the role of the subject in modern literature, his concept of the literary work, his 'abstractionist' approach, his view of temporality, and his reinterpretation of the figure of Orpheus. The findings cast a radically new light on a number of frequently rehearsed topoi in Rilke interpretation. At the same time they reveal the crucial role played by the cycle in the history of poetry on the threshold of modernism.
Rilkes "Sonette an Orpheus" haben jahrzehntelang in erster Linie durch ihre Kantabilität, ihren Klangreichtum, ihre musikalische Leichtigkeit bezaubert. Doch die Kantabilität eines Werks schließt keineswegs poetische Raffinesse, poetologische Originalität und theoretisches Kalkül aus. Dies macht die vorliegende Arbeit in einer umsichtigen und detaillierten Textanalyse deutlich. Rilkes eigener Anspruch setzt dabei den Maßstab. Wenige Monate vor der Entstehung der "Sonette an Orpheus" schreibt er, jeder Dichter müsse sich dazu "erzogen haben, die Feder als das zu gebrauchen, was sie vor allem ist: als ein redliches, genau beherrschtes und verantwortetes Werkzeug". Der Erkenntnisgehalt der Form ist somit ernst zu nehmen. Erst von den klanglichen, rhythmischen, lexikalischen und bildlichen Sprachvaleurs aus lassen sich die vielumstrittenen Fragen nach der Einheit des Zyklus, nach Rilkes manipulativem Umgang mit der Sonettform oder nach dem morphologischen 'Keimzellenprinzip' seiner poetischen Verfahrensweise präzise beantworten. Und ebenso kann erst von hier aus Rilkes Beitrag zur modernen Subjekt-Diskussion, zu einem progressiven Werk-Begriff, zum Grenzgang zwischen Abstraktion und Mimesis, zu einer neuen Temporalitätsauffassung oder zur Umdeutung der Orpheusfigur jenseits von Spekulationen gewürdigt werden. Auf Grund der Ergebnisse erfahren zahlreiche festgeschriebene Topoi der Rilke-Interpretation eine entschiedene Revision. Gleichzeitig wird die brisante literarhistorische Schwellenposition des schmalen Zyklus offenbar: Er tradiert nicht nur die Kategorien der symbolistischen 'klassischen' Moderne, sondern enthält auch eine Bewegung, die diese Kategorien aufbricht in Hinblick auf eine Dimension des Sagens, die erst die Lyrik nach dem Zweiten Weltkrieg einlösen wird.
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The consummate musicality of the verse in Rilke's "Sonnets to Orpheus" stems from a blend of sophisticated craftmanship and poetological originality, as this study sets out to demonstrate. A detailed analysis of the text forms the basis for a discussion of a variety of topics that have traditionally divided literary critics: the unity of the cycle, the use of the sonnet form, the morphological Keimzellenprinzip (nucleus principle), Rilke's contribution to the discussion on the role of the subject in modern literature, his concept of the literary work, his 'abstractionist' approach, his view of temporality, and his reinterpretation of the figure of Orpheus. The findings cast a radically new light on a number of frequently rehearsed topoi in Rilke interpretation. At the same time they reveal the crucial role played by the cycle in the history of poetry on the threshold of modernism.
Rilkes "Sonette an Orpheus" haben jahrzehntelang in erster Linie durch ihre Kantabilität, ihren Klangreichtum, ihre musikalische Leichtigkeit bezaubert. Doch die Kantabilität eines Werks schließt keineswegs poetische Raffinesse, poetologische Originalität und theoretisches Kalkül aus. Dies macht die vorliegende Arbeit in einer umsichtigen und detaillierten Textanalyse deutlich. Rilkes eigener Anspruch setzt dabei den Maßstab. Wenige Monate vor der Entstehung der "Sonette an Orpheus" schreibt er, jeder Dichter müsse sich dazu "erzogen haben, die Feder als das zu gebrauchen, was sie vor allem ist: als ein redliches, genau beherrschtes und verantwortetes Werkzeug". Der Erkenntnisgehalt der Form ist somit ernst zu nehmen. Erst von den klanglichen, rhythmischen, lexikalischen und bildlichen Sprachvaleurs aus lassen sich die vielumstrittenen Fragen nach der Einheit des Zyklus, nach Rilkes manipulativem Umgang mit der Sonettform oder nach dem morphologischen 'Keimzellenprinzip' seiner poetischen Verfahrensweise präzise beantworten. Und ebenso kann erst von hier aus Rilkes Beitrag zur modernen Subjekt-Diskussion, zu einem progressiven Werk-Begriff, zum Grenzgang zwischen Abstraktion und Mimesis, zu einer neuen Temporalitätsauffassung oder zur Umdeutung der Orpheusfigur jenseits von Spekulationen gewürdigt werden. Auf Grund der Ergebnisse erfahren zahlreiche festgeschriebene Topoi der Rilke-Interpretation eine entschiedene Revision. Gleichzeitig wird die brisante literarhistorische Schwellenposition des schmalen Zyklus offenbar: Er tradiert nicht nur die Kategorien der symbolistischen 'klassischen' Moderne, sondern enthält auch eine Bewegung, die diese Kategorien aufbricht in Hinblick auf eine Dimension des Sagens, die erst die Lyrik nach dem Zweiten Weltkrieg einlösen wird.
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