Der Leser erfährt in "Winnetou I", wie der Ich-Erzähler zum berühmten Westmann Old Shatterhand wird und die Freundschaft des edlen Apatschen Winnetou erringt. Das tragische Schicksal Nscho-tschis verleiht dieser Geschichte jenen Hauch von Schwermut, der über dem verzweifelten Todesringen der roten Rasse liegt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.10.2011„ ... wenn ich mich nicht irre!“
Aus Karl Mays reißendem Märchen „Winnetou I“ wurde ein sorgfältig produziertes Hörspiel – ohne Irrwitz und anarchische Phantasie
Es gab einmal eine Zeit, da sah Winnetou so römisch-edel und bronzefarben aus, wie ihn sein Autor Karl May beschrieben hat, glitt so sinnlich zweideutig von seinem stolzen Mustang Iltschi, dass der grimme Arno Schmidt einen Abgrund an Homoerotik entdeckt zu haben glaubte. Die Leser der „reißenden Märchen“, wie Ernst Bloch Mays Erzählkonvolute unnachahmlich charakterisiert hat, sahen den Häuptling der Mescalero-Apachen jedenfalls leibhaftig vor sich, wenn sie nachts im Taschenlampenlicht unter der Bettdecke mit ihm ausritten, als sei er ihr persönlicher Freund.
Die Abenteuer in den „dark and bloddy grounds“ des Wilden Westens, wie ihn sich Karl May vorstellte und wie es ihn nie gegeben hat, wurden allerdings schon früh aus ihrer imaginären Prosagestalt herausgelöst und in Freiluftveranstaltungen dramatisiert. Plötzlich gab es Schauspieler, die Old Shatterhand und Winnetou spielten, in Kostümen reitend, prügelnd und schießend. Es war die erste Entfernung von der unbegrenzten Vorstellungsmacht, zu der die Texte verlocken können. Spätestens aber mit dem Auftreten des ehemaligen französischen Vietnamkriegers Pierre Brice im Film erfuhr Winnetou eine so einprägsame Verleiblichung, dass tatsächlich dieser Kino-Apache das bis dahin lebendige und jederzeit intensivierbare Prosahirngespinst Winnetou überdeckt hat. Es ging übrigens Pierre Brice kaum anders, er stellte Winnetou so lange dar, bis Winnetou ihn ganz erobert und geprägt hatte.
Wenn jetzt der Hörverlag zum 100. Todestags Karl Mays im kommenden März 2012 „Winnetou 1“ als vielfigurig angelegtes Hörspiel, Regie Hans Helge Ott, in einer Neubearbeitung von Regine Ahrem herausbringt, die zuerst 2010 bei den Musikfestspielen Potsdam über die Bühne ging, dann könnte man erst mal ganz zufrieden sein: Mit der aus den Filmen bekannten Musik von Martin Böttcher und Bernd Keul, mit renommierten Sprechern wie Wolfgang Völz, Konstantin Graudus, Reiner Schöne und anderen, sowie einer im Großen und Ganzen unaufdringlichen Inszenierung und sorgfältigen Präsentation kann man sich durchaus heimisch fühlen in diesem Abenteuerhörraum. Da trägt der Sam Hawkins von Wolfgang Völz nicht allzu dick auf, macht aus der Dauerredewendung „. . . wenn ich mich nicht irre!“ keine Ulknummer, sondern wirkt gegenüber dem Greenhorn Karl glaubhaft in seiner väterlichen Bestimmtheit. Ähnliches lässt sich über die anderen sagen.
Aber das Kernproblem bleibt: Die akustische Konkretisierung der Phantasiegestalten „verbürgerlicht“ sie noch weiter: Die realen Sprecher bedeuten den Zusammenstoß von unendlicher Imagination mit einer ernüchternden und einengenden Hörspielwirklichkeit von 2010. Plötzlich fiebert man beim Kampf mit dem Grizzlybären nicht mehr mit, so sicher klingt der Ich-Erzähler. Oder: Bei jenem Handgemenge am Lagerfeuer, in dem Old Shatterhand seinen späteren Blutsbruder Winnetou niederschlägt, um ihn alsobald wieder zu befreien, wird das Kampfgetümmel als Mix von Musik und Boxgeräuschen unter die Erzählerstimme gelegt. Liest man die Stelle im Text ohne jede Zutat, tut sich ein ganz anderes, viel dramatischeres Geschehen auf. Die Vertonung führt also zur Verkleinerung und Reduzierung des Besonderen ins Gewohnte. Selbst ein guter Vorleser kann überraschend mehr an Atmosphäre, Gefahr, Spannung und deren Lösung im Kampf suggerieren als hier die Hörspielverdeutlichung. Vielleicht sind die eingesetzten Mittel doch allzu vertraut, bieten die Sprecher gutes Handwerk aber keinen Irrwitz, wagt sich der Regisseur bei aller Qualität der Produktion nicht über das Erwartbare hinaus.
Es wäre den Versuch wert, einmal tatsächlich ein „reißendes Märchen“ daraus zu machen jenseits aller Heimeligkeit und Karl-May-Klischees, also mit einer völlig anderen Musik, einer Dramaturgie, die das Anarchische, Phantastische, Surreale des hemmungslosen Tagträumers May herausholen müsste und sich nicht fälschlich am Western oder den Karl-May-Filmen der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts orientieren sollte. HARALD EGGEBRECHT
Karl May
Winnetou
Hörspiel. Gesprochen von Reiner Schöne, Konstantin Graudus, Wolfgang Völz u.a. Der Hörverlag, München 2011, 2 CD, 99 Minuten, 19,99 Euro.
Plötzlich fiebert man beim
Kampf mit dem Grizzlybären
nicht mehr mit
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Aus Karl Mays reißendem Märchen „Winnetou I“ wurde ein sorgfältig produziertes Hörspiel – ohne Irrwitz und anarchische Phantasie
Es gab einmal eine Zeit, da sah Winnetou so römisch-edel und bronzefarben aus, wie ihn sein Autor Karl May beschrieben hat, glitt so sinnlich zweideutig von seinem stolzen Mustang Iltschi, dass der grimme Arno Schmidt einen Abgrund an Homoerotik entdeckt zu haben glaubte. Die Leser der „reißenden Märchen“, wie Ernst Bloch Mays Erzählkonvolute unnachahmlich charakterisiert hat, sahen den Häuptling der Mescalero-Apachen jedenfalls leibhaftig vor sich, wenn sie nachts im Taschenlampenlicht unter der Bettdecke mit ihm ausritten, als sei er ihr persönlicher Freund.
Die Abenteuer in den „dark and bloddy grounds“ des Wilden Westens, wie ihn sich Karl May vorstellte und wie es ihn nie gegeben hat, wurden allerdings schon früh aus ihrer imaginären Prosagestalt herausgelöst und in Freiluftveranstaltungen dramatisiert. Plötzlich gab es Schauspieler, die Old Shatterhand und Winnetou spielten, in Kostümen reitend, prügelnd und schießend. Es war die erste Entfernung von der unbegrenzten Vorstellungsmacht, zu der die Texte verlocken können. Spätestens aber mit dem Auftreten des ehemaligen französischen Vietnamkriegers Pierre Brice im Film erfuhr Winnetou eine so einprägsame Verleiblichung, dass tatsächlich dieser Kino-Apache das bis dahin lebendige und jederzeit intensivierbare Prosahirngespinst Winnetou überdeckt hat. Es ging übrigens Pierre Brice kaum anders, er stellte Winnetou so lange dar, bis Winnetou ihn ganz erobert und geprägt hatte.
Wenn jetzt der Hörverlag zum 100. Todestags Karl Mays im kommenden März 2012 „Winnetou 1“ als vielfigurig angelegtes Hörspiel, Regie Hans Helge Ott, in einer Neubearbeitung von Regine Ahrem herausbringt, die zuerst 2010 bei den Musikfestspielen Potsdam über die Bühne ging, dann könnte man erst mal ganz zufrieden sein: Mit der aus den Filmen bekannten Musik von Martin Böttcher und Bernd Keul, mit renommierten Sprechern wie Wolfgang Völz, Konstantin Graudus, Reiner Schöne und anderen, sowie einer im Großen und Ganzen unaufdringlichen Inszenierung und sorgfältigen Präsentation kann man sich durchaus heimisch fühlen in diesem Abenteuerhörraum. Da trägt der Sam Hawkins von Wolfgang Völz nicht allzu dick auf, macht aus der Dauerredewendung „. . . wenn ich mich nicht irre!“ keine Ulknummer, sondern wirkt gegenüber dem Greenhorn Karl glaubhaft in seiner väterlichen Bestimmtheit. Ähnliches lässt sich über die anderen sagen.
Aber das Kernproblem bleibt: Die akustische Konkretisierung der Phantasiegestalten „verbürgerlicht“ sie noch weiter: Die realen Sprecher bedeuten den Zusammenstoß von unendlicher Imagination mit einer ernüchternden und einengenden Hörspielwirklichkeit von 2010. Plötzlich fiebert man beim Kampf mit dem Grizzlybären nicht mehr mit, so sicher klingt der Ich-Erzähler. Oder: Bei jenem Handgemenge am Lagerfeuer, in dem Old Shatterhand seinen späteren Blutsbruder Winnetou niederschlägt, um ihn alsobald wieder zu befreien, wird das Kampfgetümmel als Mix von Musik und Boxgeräuschen unter die Erzählerstimme gelegt. Liest man die Stelle im Text ohne jede Zutat, tut sich ein ganz anderes, viel dramatischeres Geschehen auf. Die Vertonung führt also zur Verkleinerung und Reduzierung des Besonderen ins Gewohnte. Selbst ein guter Vorleser kann überraschend mehr an Atmosphäre, Gefahr, Spannung und deren Lösung im Kampf suggerieren als hier die Hörspielverdeutlichung. Vielleicht sind die eingesetzten Mittel doch allzu vertraut, bieten die Sprecher gutes Handwerk aber keinen Irrwitz, wagt sich der Regisseur bei aller Qualität der Produktion nicht über das Erwartbare hinaus.
Es wäre den Versuch wert, einmal tatsächlich ein „reißendes Märchen“ daraus zu machen jenseits aller Heimeligkeit und Karl-May-Klischees, also mit einer völlig anderen Musik, einer Dramaturgie, die das Anarchische, Phantastische, Surreale des hemmungslosen Tagträumers May herausholen müsste und sich nicht fälschlich am Western oder den Karl-May-Filmen der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts orientieren sollte. HARALD EGGEBRECHT
Karl May
Winnetou
Hörspiel. Gesprochen von Reiner Schöne, Konstantin Graudus, Wolfgang Völz u.a. Der Hörverlag, München 2011, 2 CD, 99 Minuten, 19,99 Euro.
Plötzlich fiebert man beim
Kampf mit dem Grizzlybären
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