Eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der jüngsten deutschen Geschichte erinnert sich: Joachim Gauck - engagierter Systemgegner in der friedlichen Revolution der DDR und herausragender Protagonist im Prozess der Wiedervereinigung als erster Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Ihm ist ein gleichermaßen politisches wie emotional berührendes Buch gelungen, in dem er in klaren Bildern die traumatisierende Erfahrung der Unfreiheit und das beglückende Erlebnis der Freiheit beschreibt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.02.2012Es geht doch nicht ohne Gauck
Die letzten Zeilen der Erinnerungen wurden zur Prophezeiung
Sechs Worte genügen, um den Deutschen kundzutun, wen sie bald als Bundespräsidenten bekommen: "Winter im Sommer - Frühling im Herbst". Sprachliebe und Sprachgewalt zeichnen Joachim Gauck aus. Wo andere etwa getitelt hätten "Nach zwei Diktaturen in der Freiheit angekommen" fließt dem ehemaligen Pastor Lyrik aus der Feder. Einer der denkbar schönsten Buchtitel deutscher Sprache ist dem Mecklenburger gerade gut genug für seine sich nun als voreilig erweisenden "Erinnerungen" - der nach der Zeit im Amt des Bundespräsidenten fällige zweite Band könnte dereinst den Titel tragen "Sonnenaufgang im Abendrot".
Sollte das Staatsoberhaupt Gauck nicht als Seelsorger und geistlicher Vater der Nation wahrgenommen werden, sondern aller Überparteilichkeit zum Trotz als Politiker der üblichen Art, dann wird er zumindest derjenige mit der schönsten Sprache sein. Einst galt ein Bundeskanzler mit geschliffener Rede schon als Silberzunge, welchen Beinamen wird sich Gauck verdienen, wenn seinen Reden nicht nur wie jetzt die Eliten, sondern die Menschen aller Schichten lauschen werden? Salbungsvoll, gar ölig ist seine Sprache jedenfalls nicht. Eine frühe Stelle in den "Erinnerungen" gibt mittelbar einen Hinweis darauf, wann und warum sich Gauck seine charakteristische Wortwahl angewöhnt haben mag. "Ich begann, für meinen Vater zu beten. Unsere Familie war nicht sonderlich religiös, schlicht norddeutsch protestantisch, tägliche Gebete gehörten keineswegs zu unserer Gewohnheit. Aber ich zwang mich, jeden Abend in meinem Kinderzimmer an den Abwesenden zu denken. Nicht, dass ich eine besonders enge Bindung an ihn gehabt hätte, aber leben sollte er doch, und wiederkommen sollte er auch. Meine Mutter war so unglücklich." Eine vielsagende, eine eigentlich alles besagende Stelle. Was macht ein Kind, das um seinen Vater betet, von dem es nur weiß, dass er von den Kommunisten "abgeholt" worden war, aber nicht weiß, ob er überhaupt noch lebt oder schon gleich erschossen worden ist? Es handelt mit Gott, es wirbt mit allen Sprachmitteln für den Vater, es argumentiert, wie sehr ihn die Mutter doch brauche und wie sehr auch schon deswegen es selbst ihn brauche. Da hat sich das Kind in seiner Not um eine Rhetorik bemüht, die sogar den lieben Gott doch überzeugen musste - als der Vater nach Jahren tatsächlich heimkam, welche Schlussfolgerung konnte da der Junge nur ziehen? Es gibt einen barmherzigen Gott - und die ängstlich, angestrengt formulierten Gebete haben ihn beeindruckt.
Aus dem um den Vater Betenden wurde der "Theologiestudent aus der Provinz", dann der Pfarrer "einer der größten mecklenburgischen Landgemeinden, einem Verbund von vierzehn kleinen Dörfern rund um den Ort Lüssow", schließlich in Rostock-Evershagen. Ist es falsch vermutet, dass das Gebet um den Vater die Frontstellung auf ewig gegen jene begründete, die das Familienoberhaupt "abgeholt" hatten, also die kommunistischen Machthaber? Aus Gaucks Sicht war die Kirche im Sozialismus eine Kirche im Überlebenskampf, nicht jedoch eine Kirche, die nach den Bedrohungen durch den Nationalsozialismus einen neuen Verbündeten gefunden hatte. "Viele in meinem Umfeld hielten es wie ich. Wenn, dann wollten wir die Formel allein als Ortsbestimmung verstehen: Wir sind Kirche in der DDR, einem unreformierbaren sozialistischen Staat."
Gauck, Jahrgang 1940, war 1989 gerade alt, besser jung genug, um sich erfolgreich von dieser verachteten DDR zu emanzipieren. Doch diese Emanzipation gelang nur ihm als Person, der Pfarrer ging dabei verloren, mit dem Feindbild war auch die Berufung dahin, in die Bundesrepublik trat der Politiker, vor allem aber der Individualist Gauck ein. Seine Frau "wurde Zeugin, wie beim Festakt im Berliner Schauspielhaus plötzlich ein Beamter des Innenministeriums auf mich zueilte und mir unbedingt etwas in die Hand drücken wollte. Das passte mir nicht. Ich wollte keine Mappe mit mir herumschleppen, wenn Kurt Masur die 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven spielt. Aber der Mann ließ nicht locker. Im Unterschied zu mir wusste er, dass ich die Urkunde noch vor Mitternacht in der Hand haben musste. Dieser Rechtsakt war wichtig, sonst wären die Stasi-Akten im ganzen Land herrenlos geworden." Um Mitternacht dann standen Gauck und seine Frau "auf den Stufen des Reichstags, nur wenige Schritte hinter Helmut Kohl und Richard von Weizsäcker". Das Phänomen Gauck war geboren und hatte den ihm angemessenen Platz in der neuen Bundesrepublik eingenommen.
Die Erinnerungen sind im Jahre 2009 erschienen. Gauck war samt der seinen Namen tragenden Behörde zum konstitutiven Element des wiedervereinigten Deutschland geworden. Er wurde der Herr der Akten genannt und war in Wahrheit der Herr über Schicksale. Und trotzdem hatte er zu spüren bekommen, dass es auch ohne ihn (weiter-)geht. "Er selbst war auf Abstand gebracht worden, ehe er den Abstand gesucht hatte."
Es ist an Ironie nicht zu überbieten, dass dieser bittere Satz, aus dem der Anspruch auf den Primat der eigenen Person gegenüber dem Staat spricht, nun gerade von den vereinten politischen Kräften desselben Staates Lügen gestraft wird nach dem Motto: Es geht doch nicht ohne Gauck. Denn die Rückschau in den letzten Zeilen des Erinnerungsbuches erweist sich unversehens als eine Prophezeiung, die in diesen Tagen Wirklichkeit werden wird: Wieder einmal "ist der Präsident der Bundesrepublik gewählt worden. Es ist Sonne über Berlin. Es ist Sonne in mir. Ich setze mich auf die Mauer vor dem Reichstag, hinter mir weht die schwarzrotgoldene Fahne. ,Komm', sage ich zu meiner Begleiterin, ,nimm den Fotoapparat und fotografiere mich.' Die Frau ist intelligent und aus dem Westen, sie sagt: ,Aber doch nicht hier, vor dieser Fahne!' ,Doch', sage ich, ,genau hier!'"
GEORG PAUL HEFTY
Joachim Gauck: Winter im Sommer - Frühling im Herbst. Erinnerungen. In Zusammenarbeit mit Helga Hirsch. Siedler Verlag, München 2009, 348 Seiten, 22,95 Euro
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Die letzten Zeilen der Erinnerungen wurden zur Prophezeiung
Sechs Worte genügen, um den Deutschen kundzutun, wen sie bald als Bundespräsidenten bekommen: "Winter im Sommer - Frühling im Herbst". Sprachliebe und Sprachgewalt zeichnen Joachim Gauck aus. Wo andere etwa getitelt hätten "Nach zwei Diktaturen in der Freiheit angekommen" fließt dem ehemaligen Pastor Lyrik aus der Feder. Einer der denkbar schönsten Buchtitel deutscher Sprache ist dem Mecklenburger gerade gut genug für seine sich nun als voreilig erweisenden "Erinnerungen" - der nach der Zeit im Amt des Bundespräsidenten fällige zweite Band könnte dereinst den Titel tragen "Sonnenaufgang im Abendrot".
Sollte das Staatsoberhaupt Gauck nicht als Seelsorger und geistlicher Vater der Nation wahrgenommen werden, sondern aller Überparteilichkeit zum Trotz als Politiker der üblichen Art, dann wird er zumindest derjenige mit der schönsten Sprache sein. Einst galt ein Bundeskanzler mit geschliffener Rede schon als Silberzunge, welchen Beinamen wird sich Gauck verdienen, wenn seinen Reden nicht nur wie jetzt die Eliten, sondern die Menschen aller Schichten lauschen werden? Salbungsvoll, gar ölig ist seine Sprache jedenfalls nicht. Eine frühe Stelle in den "Erinnerungen" gibt mittelbar einen Hinweis darauf, wann und warum sich Gauck seine charakteristische Wortwahl angewöhnt haben mag. "Ich begann, für meinen Vater zu beten. Unsere Familie war nicht sonderlich religiös, schlicht norddeutsch protestantisch, tägliche Gebete gehörten keineswegs zu unserer Gewohnheit. Aber ich zwang mich, jeden Abend in meinem Kinderzimmer an den Abwesenden zu denken. Nicht, dass ich eine besonders enge Bindung an ihn gehabt hätte, aber leben sollte er doch, und wiederkommen sollte er auch. Meine Mutter war so unglücklich." Eine vielsagende, eine eigentlich alles besagende Stelle. Was macht ein Kind, das um seinen Vater betet, von dem es nur weiß, dass er von den Kommunisten "abgeholt" worden war, aber nicht weiß, ob er überhaupt noch lebt oder schon gleich erschossen worden ist? Es handelt mit Gott, es wirbt mit allen Sprachmitteln für den Vater, es argumentiert, wie sehr ihn die Mutter doch brauche und wie sehr auch schon deswegen es selbst ihn brauche. Da hat sich das Kind in seiner Not um eine Rhetorik bemüht, die sogar den lieben Gott doch überzeugen musste - als der Vater nach Jahren tatsächlich heimkam, welche Schlussfolgerung konnte da der Junge nur ziehen? Es gibt einen barmherzigen Gott - und die ängstlich, angestrengt formulierten Gebete haben ihn beeindruckt.
Aus dem um den Vater Betenden wurde der "Theologiestudent aus der Provinz", dann der Pfarrer "einer der größten mecklenburgischen Landgemeinden, einem Verbund von vierzehn kleinen Dörfern rund um den Ort Lüssow", schließlich in Rostock-Evershagen. Ist es falsch vermutet, dass das Gebet um den Vater die Frontstellung auf ewig gegen jene begründete, die das Familienoberhaupt "abgeholt" hatten, also die kommunistischen Machthaber? Aus Gaucks Sicht war die Kirche im Sozialismus eine Kirche im Überlebenskampf, nicht jedoch eine Kirche, die nach den Bedrohungen durch den Nationalsozialismus einen neuen Verbündeten gefunden hatte. "Viele in meinem Umfeld hielten es wie ich. Wenn, dann wollten wir die Formel allein als Ortsbestimmung verstehen: Wir sind Kirche in der DDR, einem unreformierbaren sozialistischen Staat."
Gauck, Jahrgang 1940, war 1989 gerade alt, besser jung genug, um sich erfolgreich von dieser verachteten DDR zu emanzipieren. Doch diese Emanzipation gelang nur ihm als Person, der Pfarrer ging dabei verloren, mit dem Feindbild war auch die Berufung dahin, in die Bundesrepublik trat der Politiker, vor allem aber der Individualist Gauck ein. Seine Frau "wurde Zeugin, wie beim Festakt im Berliner Schauspielhaus plötzlich ein Beamter des Innenministeriums auf mich zueilte und mir unbedingt etwas in die Hand drücken wollte. Das passte mir nicht. Ich wollte keine Mappe mit mir herumschleppen, wenn Kurt Masur die 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven spielt. Aber der Mann ließ nicht locker. Im Unterschied zu mir wusste er, dass ich die Urkunde noch vor Mitternacht in der Hand haben musste. Dieser Rechtsakt war wichtig, sonst wären die Stasi-Akten im ganzen Land herrenlos geworden." Um Mitternacht dann standen Gauck und seine Frau "auf den Stufen des Reichstags, nur wenige Schritte hinter Helmut Kohl und Richard von Weizsäcker". Das Phänomen Gauck war geboren und hatte den ihm angemessenen Platz in der neuen Bundesrepublik eingenommen.
Die Erinnerungen sind im Jahre 2009 erschienen. Gauck war samt der seinen Namen tragenden Behörde zum konstitutiven Element des wiedervereinigten Deutschland geworden. Er wurde der Herr der Akten genannt und war in Wahrheit der Herr über Schicksale. Und trotzdem hatte er zu spüren bekommen, dass es auch ohne ihn (weiter-)geht. "Er selbst war auf Abstand gebracht worden, ehe er den Abstand gesucht hatte."
Es ist an Ironie nicht zu überbieten, dass dieser bittere Satz, aus dem der Anspruch auf den Primat der eigenen Person gegenüber dem Staat spricht, nun gerade von den vereinten politischen Kräften desselben Staates Lügen gestraft wird nach dem Motto: Es geht doch nicht ohne Gauck. Denn die Rückschau in den letzten Zeilen des Erinnerungsbuches erweist sich unversehens als eine Prophezeiung, die in diesen Tagen Wirklichkeit werden wird: Wieder einmal "ist der Präsident der Bundesrepublik gewählt worden. Es ist Sonne über Berlin. Es ist Sonne in mir. Ich setze mich auf die Mauer vor dem Reichstag, hinter mir weht die schwarzrotgoldene Fahne. ,Komm', sage ich zu meiner Begleiterin, ,nimm den Fotoapparat und fotografiere mich.' Die Frau ist intelligent und aus dem Westen, sie sagt: ,Aber doch nicht hier, vor dieser Fahne!' ,Doch', sage ich, ,genau hier!'"
GEORG PAUL HEFTY
Joachim Gauck: Winter im Sommer - Frühling im Herbst. Erinnerungen. In Zusammenarbeit mit Helga Hirsch. Siedler Verlag, München 2009, 348 Seiten, 22,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Als Freiheitslehre und Berichte vom Erlernen des aufrechten Gangs hat mit großem Eindruck Alexander Cammann diese Lebenserinnerungen gelesen. Angefangen mit dem Bericht der Gulag-Haft von Joachim Gaucks Vater bis hin zu den sehr privaten Aspekten seines politischen Engagements skizziert Cammann wesentliche Linien dieser Biografie. Auch dass Gauck sich nicht zum Dissidenten stilisiert, sondern stattdessen psychologisch präzise die "zwangsläufigen Mechanismen eines oppositionell-regimefernen Alltags" schildert, rechnet Cammann Gauck hoch an. Doch eine sehr sprunghafte Erzählweise, die Vieles nicht recht auszuformen weiß, verhindert aus Sicht des Kritikers, dass dies Buch in den Kanon der großen deutschen Erinnerungsliteratur aufgenommen werden kann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Nicht nur gut geschrieben, sondern auch von eindringlicher Reflexionskraft.« Neue Zürcher Zeitung, 03.06.10
"Gauck zuzuhören ist, wie immer, ein Erlebnis."