Winter - die kürzesten Tage, die längsten Nächte. Eine Jahreszeit, die uns das Überleben lehrt. Vier Leute, Fremde und Familie, verbringen Weihnachten in einem riesigen Haus in Cornwall, und doch stellt sich die Frage, ob jeder genug Platz findet. Denn Arthurs Mutter Sophia sieht Dinge, die nicht sein können. Arthur selbst sieht andere. Und da sind noch Iris, Sophias Schwester, ewige Rebellin, nach dreißig Jahren wieder zurück, und Lux, eine Fremde, die Arthur als seine Freundin ausgibt. Eine besondere Nacht, voll Streit und Lügen, Erinnerungen und Mythen. Eine besondere Zeit - unsere Zeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.11.2020Stille Nacht, heiliger Krach
Ali Smith hat mit ihrem Jahreszeiten-Zyklus ein außergewöhnliches Erzählwerk geschaffen. In "Winter" setzt sie eine Familie zu Weihnachten unter Hochdruck.
Von Sandra Kegel
Sogar unter den dieser Tage geltenden Shutdown-Regeln wäre die weihnachtliche Zusammenkunft im Hause Cleves erlaubt gewesen. Denn hier trifft sich eine Familie plus eins. Von Familienfrieden kann trotzdem keine Rede sein. Mit ihrer Schwester Iris hat Sophia die letzten Jahrzehnte im Streit gelegen, und auch die Beziehung zu ihrem Sohn Arthur ist angespannt. Zu allem Überdruss wurde der soeben von seiner Freundin Charlotte verlassen, weshalb Arthur an der Bushaltestelle kurzerhand eine Fremde aufsammelt, Lux, die ihn gegen Bezahlung zum Anwesen seiner Mutter begleitet und dort als Charlotte firmiert. Nicht nur mit diesem Doppelgängerspiel, das erst in der Mitte der Erzählung aufgelöst wird, erweist sich die schottische Autorin Ali Smith aufs Neue als schwarze Romantikerin. Auch die miesepetrige Sophia, eine ehemalige Geschäftsfrau, wird nicht nur von der anrückenden Familie heimgesucht, sondern auch von Gespenstern wie dem körperlosen Kinderkopf. Nicht ganz zufällig befinden wir uns in Cornwall, jenem englischen Landstrich, dessen Lokalheilige dafür berühmt ist, dass sie, als sie geköpft wurde, ihr Haupt vom Boden aufsammelte und einfach fortlief.
Das Werk von Ali Smith ist seit jeher geprägt von der Verbundenheit zwischen den Lebenden und den Toten, und ihre von Spukgestalten bevölkerten Romane sind immer auch Gespenstergeschichten. "Winter" heißt der in der neuerlichen Übersetzung von Silvia Morawetz erschienene zweite Teil ihrer Jahreszeiten-Tetralogie, der im Original schon 2017 herauskam und passend zur Jahreszeit nun auf Deutsch erscheint. Es ist erstaunlich, dass die 1962 in Inverness geborene Schriftstellerin, die heute in England lebt und vielfach für den Booker Prize nominiert war, hierzulande immer noch als Geheimtipp durchgeht. Vielleicht liegt es daran, dass ihre Literatur oft wie hingetupft wirkt, scheinbar mühelos, impressionistisch. Dabei sind diese Bücher fein austarierte literarische Gegenwartsbetrachtungs-Experimente, die sich den großen Themen ganz unprätentiös nähern.
Diskutiert werden sie über die Innen- und Außenperspektive der Figuren. Gekonnt nutzt Ali Smith dabei das Mittel der erlebten Rede, um den Eindruck von einer Gleichzeitigkeit der Ereignisse zu verstärken und ihre Fiktion mit Quasi-Authentizität zu beglaubigen. Der Blick zurück ist immer auch der Versuch, die vorübergehende Realität am Schlafittchen zu packen. Das zentrale Sujet des ambitionierten Roman-Quartetts ist den Titeln bereits eingeschrieben. Denn so, wie Frühling, Sommer, Herbst und Winter im steten Wechsel das Vergehen der Gegenwart kenntlich machen, so geht es auch in diesem nach den Jahreszeiten benannten Vierteiler um die Beschaffenheit von Zeit. Indem die Erzählung vorwärts und rückwärts geht, mal verlangsamt, dann wieder beschleunigt, bringt sie Vergangenheit und Gegenwart in ein faszinierendes Spannungsverhältnis zueinander. Der hundertjährige Daniel formuliert es im Vorgängerband "Herbst" einmal so: "Zeitreise ist möglich. Wir tun es immerzu. Moment für Moment, Minute für Minute."
Der Auftaktband, bei uns im Januar erschienen, im Original bereits 2016, erzählte von der Brexit-Entscheidung und wie dieser Einschnitt die Briten auf eine emotionale Achterbahnfahrt schickte, die bekanntlich noch immer kein Ende gefunden hat. Nicht nur deshalb hat der Roman auch vier Jahre später nichts von seinem Reiz verloren, der die politische Gegenwart mit einer Groteske über das britische Verwaltungssystem und einer Liebesgeschichte zwischen einem sehr alten und einem ganz jungen Mädchen verknüpft. Schon da wird, wie jetzt aufs Neue in "Winter", über die Begegnung der Generationen das Ankommen in und das Abschiednehmen von dieser Welt reflektiert.
Die Austauschstudentin Lux, die einmal erwähnt, ihre kroatischstämmigen Eltern hätten sie nach der Fenstermarke Velux benannt, bringt als unbelastete Außenstehende tatsächlich so etwas wie Aufhellung in die familiären Verstrickungen. Während Sophia ihrem Namen mit törichtem Verhalten keine Ehre macht, ist ihr Sohn Arthur zwar nicht mit Camelot in Verbindung zu bringen, dafür gemäß seinem Rufnamen Art mit Kunst. Tatsächlich verdient er sein Geld damit, Urheberrechtsverletzungen aufzuspüren, während sein nature writing allerdings von fragwürdiger Qualität bleibt, nicht zuletzt, weil er mehr Zeit bei Twitter als beim Gezwitscher der Vögel verbringt.
Wegen Shakespeare kam die Lichtgestalt Lux einst nach England und gibt mit der Wiedergabe von dessen spätem Drama "Cimbeline", in dem die Menschen zwar in derselben Zeit, jedoch in verschiedenen Welten leben, eine Lesart auch dieser Erzählung vor. Ihr als der Fremden in diesem Geviert kommt die Aufgabe zu, auszusprechen, was die anderen verschweigen. Doch auch jenseits von Shakespeare ist "Winter" gespickt mit Anspielungen auf Kunst und Literatur. Schon der erste Satz ist eine Reverenz an Dickens, während dessen "Weihnachtsgeschichte" allerdings anhebt mit den berühmten Worten "Marley was dead, to begin with" - Marley, der Geschäftspartner und einzige Freund des bösen Scrooge -, wird bei Ali Smith daraus: "Gott war tot: das gleich vorweg." Was hier tot ist und was nicht, Modernismus und Postmodernismus, Instagram, Facebook und Google oder der Wohlfahrtstaat, das wird ein ums andere Mal ausverhandelt, befeuert von der Vorstellung, oder vielmehr der Hoffnung, dass in der Kunst eine Chance auf Rückkehr liegt. Sophia als die Wiedergängerin von Dickens' Scrooge wird dabei zum Versuchsobjekt für Erlösung.
So erzählt Ali Smith in "Winter" von Unordnung und frühem Leid, von Flüchtlingen, die Familienbande überwinden müssen oder ganze Meere, es geht um Elvis als Tropfkerze in Männergestalt und die Folgen medialer Überforderung, fatale Bankgeschäfte und vergessene Künstlerinnen wie Barbara Hepworth. Wenig ist geklärt am Ende, es gibt Gelächter, Traurigkeit, viel Protest und ein England in schlechter Verfassung. "Frühling" und "Sommer", die beiden abschließenden Bände der Tetralogie, die dort bereits erschienen sind, werden hier dringend erwartet.
Ali Smith: "Winter". Roman.
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz.
Luchterhand Literaturverlag, München 2020. 320 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ali Smith hat mit ihrem Jahreszeiten-Zyklus ein außergewöhnliches Erzählwerk geschaffen. In "Winter" setzt sie eine Familie zu Weihnachten unter Hochdruck.
Von Sandra Kegel
Sogar unter den dieser Tage geltenden Shutdown-Regeln wäre die weihnachtliche Zusammenkunft im Hause Cleves erlaubt gewesen. Denn hier trifft sich eine Familie plus eins. Von Familienfrieden kann trotzdem keine Rede sein. Mit ihrer Schwester Iris hat Sophia die letzten Jahrzehnte im Streit gelegen, und auch die Beziehung zu ihrem Sohn Arthur ist angespannt. Zu allem Überdruss wurde der soeben von seiner Freundin Charlotte verlassen, weshalb Arthur an der Bushaltestelle kurzerhand eine Fremde aufsammelt, Lux, die ihn gegen Bezahlung zum Anwesen seiner Mutter begleitet und dort als Charlotte firmiert. Nicht nur mit diesem Doppelgängerspiel, das erst in der Mitte der Erzählung aufgelöst wird, erweist sich die schottische Autorin Ali Smith aufs Neue als schwarze Romantikerin. Auch die miesepetrige Sophia, eine ehemalige Geschäftsfrau, wird nicht nur von der anrückenden Familie heimgesucht, sondern auch von Gespenstern wie dem körperlosen Kinderkopf. Nicht ganz zufällig befinden wir uns in Cornwall, jenem englischen Landstrich, dessen Lokalheilige dafür berühmt ist, dass sie, als sie geköpft wurde, ihr Haupt vom Boden aufsammelte und einfach fortlief.
Das Werk von Ali Smith ist seit jeher geprägt von der Verbundenheit zwischen den Lebenden und den Toten, und ihre von Spukgestalten bevölkerten Romane sind immer auch Gespenstergeschichten. "Winter" heißt der in der neuerlichen Übersetzung von Silvia Morawetz erschienene zweite Teil ihrer Jahreszeiten-Tetralogie, der im Original schon 2017 herauskam und passend zur Jahreszeit nun auf Deutsch erscheint. Es ist erstaunlich, dass die 1962 in Inverness geborene Schriftstellerin, die heute in England lebt und vielfach für den Booker Prize nominiert war, hierzulande immer noch als Geheimtipp durchgeht. Vielleicht liegt es daran, dass ihre Literatur oft wie hingetupft wirkt, scheinbar mühelos, impressionistisch. Dabei sind diese Bücher fein austarierte literarische Gegenwartsbetrachtungs-Experimente, die sich den großen Themen ganz unprätentiös nähern.
Diskutiert werden sie über die Innen- und Außenperspektive der Figuren. Gekonnt nutzt Ali Smith dabei das Mittel der erlebten Rede, um den Eindruck von einer Gleichzeitigkeit der Ereignisse zu verstärken und ihre Fiktion mit Quasi-Authentizität zu beglaubigen. Der Blick zurück ist immer auch der Versuch, die vorübergehende Realität am Schlafittchen zu packen. Das zentrale Sujet des ambitionierten Roman-Quartetts ist den Titeln bereits eingeschrieben. Denn so, wie Frühling, Sommer, Herbst und Winter im steten Wechsel das Vergehen der Gegenwart kenntlich machen, so geht es auch in diesem nach den Jahreszeiten benannten Vierteiler um die Beschaffenheit von Zeit. Indem die Erzählung vorwärts und rückwärts geht, mal verlangsamt, dann wieder beschleunigt, bringt sie Vergangenheit und Gegenwart in ein faszinierendes Spannungsverhältnis zueinander. Der hundertjährige Daniel formuliert es im Vorgängerband "Herbst" einmal so: "Zeitreise ist möglich. Wir tun es immerzu. Moment für Moment, Minute für Minute."
Der Auftaktband, bei uns im Januar erschienen, im Original bereits 2016, erzählte von der Brexit-Entscheidung und wie dieser Einschnitt die Briten auf eine emotionale Achterbahnfahrt schickte, die bekanntlich noch immer kein Ende gefunden hat. Nicht nur deshalb hat der Roman auch vier Jahre später nichts von seinem Reiz verloren, der die politische Gegenwart mit einer Groteske über das britische Verwaltungssystem und einer Liebesgeschichte zwischen einem sehr alten und einem ganz jungen Mädchen verknüpft. Schon da wird, wie jetzt aufs Neue in "Winter", über die Begegnung der Generationen das Ankommen in und das Abschiednehmen von dieser Welt reflektiert.
Die Austauschstudentin Lux, die einmal erwähnt, ihre kroatischstämmigen Eltern hätten sie nach der Fenstermarke Velux benannt, bringt als unbelastete Außenstehende tatsächlich so etwas wie Aufhellung in die familiären Verstrickungen. Während Sophia ihrem Namen mit törichtem Verhalten keine Ehre macht, ist ihr Sohn Arthur zwar nicht mit Camelot in Verbindung zu bringen, dafür gemäß seinem Rufnamen Art mit Kunst. Tatsächlich verdient er sein Geld damit, Urheberrechtsverletzungen aufzuspüren, während sein nature writing allerdings von fragwürdiger Qualität bleibt, nicht zuletzt, weil er mehr Zeit bei Twitter als beim Gezwitscher der Vögel verbringt.
Wegen Shakespeare kam die Lichtgestalt Lux einst nach England und gibt mit der Wiedergabe von dessen spätem Drama "Cimbeline", in dem die Menschen zwar in derselben Zeit, jedoch in verschiedenen Welten leben, eine Lesart auch dieser Erzählung vor. Ihr als der Fremden in diesem Geviert kommt die Aufgabe zu, auszusprechen, was die anderen verschweigen. Doch auch jenseits von Shakespeare ist "Winter" gespickt mit Anspielungen auf Kunst und Literatur. Schon der erste Satz ist eine Reverenz an Dickens, während dessen "Weihnachtsgeschichte" allerdings anhebt mit den berühmten Worten "Marley was dead, to begin with" - Marley, der Geschäftspartner und einzige Freund des bösen Scrooge -, wird bei Ali Smith daraus: "Gott war tot: das gleich vorweg." Was hier tot ist und was nicht, Modernismus und Postmodernismus, Instagram, Facebook und Google oder der Wohlfahrtstaat, das wird ein ums andere Mal ausverhandelt, befeuert von der Vorstellung, oder vielmehr der Hoffnung, dass in der Kunst eine Chance auf Rückkehr liegt. Sophia als die Wiedergängerin von Dickens' Scrooge wird dabei zum Versuchsobjekt für Erlösung.
So erzählt Ali Smith in "Winter" von Unordnung und frühem Leid, von Flüchtlingen, die Familienbande überwinden müssen oder ganze Meere, es geht um Elvis als Tropfkerze in Männergestalt und die Folgen medialer Überforderung, fatale Bankgeschäfte und vergessene Künstlerinnen wie Barbara Hepworth. Wenig ist geklärt am Ende, es gibt Gelächter, Traurigkeit, viel Protest und ein England in schlechter Verfassung. "Frühling" und "Sommer", die beiden abschließenden Bände der Tetralogie, die dort bereits erschienen sind, werden hier dringend erwartet.
Ali Smith: "Winter". Roman.
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz.
Luchterhand Literaturverlag, München 2020. 320 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensentin Brigitte Neumann wird nicht froh mit Ali Smiths Wintergeschichte. Angelehnt an Dickens "A Christmas Carol" erzählt Smith laut Neumann von der Läuterung einer unterkühlten Frau durch Liebe und von ihrem Friedensschluss mit der Familie. Leider benutzt die Autorin ihre Figuren laut Neumann als Träger politischer Botschaften zur Flüchtlingskrise, zur Frauenfeindlichkeit oder zum Brand in den Grenfell-Towers. Handlung und Leser leiden unter dieser Collage, findet die Rezensentin. Um so bedauerlicher, da die Dialoge der Theaterautorin Smith gewohnt "saftig" sind, meint Neumann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.01.2021Kein Herz aus Holz
Ali Smith erzählt in ihren Zeit-Romanen sprunghaft vom Heute. Die zweite Folge heißt „Winter“
Man kann jetzt einen Halbzeitbericht geben zur Reihe der vier Jahreszeiten-Romane von Ali Smith, die 2017 mit „Herbst“ startete (deutsch 2019, siehe SZ vom 06.01.20) und von der eben auf Deutsch der zweite Band, „Winter“, erschien, in der dynamischen Übersetzung von Silvia Morawetz. Die Bände sind im Ein-Jahres-Rhythmus geschrieben, der letzte, „Summer“, ist dieses Jahr in England erschienen. Ein Projekt, in dem es Ali Smith um Aktualität geht, keine Angelegenheit von zeitloser Besinnlichkeit. Ihrem Verlag Hamish Hamilton gegenüber hat sie darauf bestanden, dass jeder Band möglichst schnell, nachdem er fertig geschrieben war, erscheinen würde – in dem Begriff novel, sagt sie, steckt das Wort „neu“. Ein Romanwerk wie eine Zeitung, ganz und gar poetisch.
Vier Zeit-Romane, Romane der Zeit, die Großbritannien gerade durchlebt. Die in all den pittoresken, grotesken, surrealen Ereignissen und Reminiszenzen, von denen sie überquellen, natürlich vom Brexit bestimmt sind und vom britischen Selbstverständnis, von Verunsicherung, Führungslosigkeit, Misere. Einmal ist, in einer der zahlreichen Diskussionen des Buchs, von einem Königreich die Rede, „das in Chaos, Lügen, Machtgeschacher und Uneinigkeit versinkt, samt etlichen Vergiftungen und Selbstvergiftungen ... In dem jeder vorgibt, jemand anderes oder etwas anderes zu sein“. Es ist das Reich in Shakespeares „Cymbeline“, aber sicher nicht nur. Ali Smith, geboren in Schottland, in Cambridge lebend, liebt die weitschweifende Fantasy von Shakespeares Märchenstücken.
Es geht in „Winter“ um die Wintersonnenwende und diverse Weihnachten in verschiedenen Jahren, und immer auch um das Nachspiel, das sie haben in den Monaten darauf. Die Glocke der Dorfkirche schlägt mehrmals hintereinander Mitternacht. An einem der Weihnachten begegnet eine der Hauptfiguren, Sophia Cleves, dem Mann, der später der Vater ihres Sohnes werden wird, sie musste raus an die Luft aus den Haschschwaden im Haus, in dem ihre Schwester Iris eine Kommune versammelt hat, der Mann ist traurig, weil in den Nachrichten gerade gemeldet wurde, dass Chaplin gestorben ist. Der Weihnachten hasste.
Viele Jahre später. Sophia hat ihren Sohn Arthur auf ihren Landsitz in Cornwall geladen, das ehemalige Kommunehaus der Schwester, das sie gekauft hatte, sie ist erfolgreiche Geschäftsfrau, Mode und Deko-Objekte. Nun, im Alter, ist sie merkwürdig abwesend, manche meinen: dement. Sie sieht einen Kopf um sich her schweben, wie die luftige Weltkugel in Chaplins „The Great Dictator“. Er lässt sich, eine Art Haustier, nicht aussperren und verliert bald seine Haare und dann sein Gesicht. Der Kühlschrank ist armselig leer. Sophias Demenz kommt ihrem Sohn zupass. Er hat Probleme mit seiner Freundin Charlotte, die seinen Twitter-Kanal kapert, auf dem er seine Naturbeobachtungen kundtut, und nun unsinnige und provokante Meldungen unter seinen Followern verbreitet. Arthur arbeitet für die Riesenfirma SA4A, er spürt Copyright-Verletzungen auf. Er will den Winter richtig hart, will ein gefrorener Halm sein, der bricht, kein Grashalm, der sich biegt.
Um nicht allein beim Weihnachtsfest aufzutauchen, heuert Arthur das Mädchen Lux an, das sich als seine Freundin ausgibt, drei Tage weihnachtliches Wechselspiel der Identitäten mitmacht. Ihre Piercings nimmt sie dafür ab. Tausend Pfund zahlt Arthur ihr.
„Art in Nature“ heißt Arthurs Blog, darin etwa die Beobachtung, es sei ein Kanadawaldsänger in Cornwall gesichtet worden. Das ist natürlich ein Gag Charlottes, die solche Naturreflexionen unpolitisch und reaktionär findet, aber er setzt an Weihnachten, wie einst die Hirten, eine Busladung Hobby-Ornithologen in Bewegung. Auch Iris, Sophias Schwester, taucht im Haus auf, das schwarze Schaf der Familie. Eine Radikale, eine verdammte Plage, sie hat den Vater immer zur Weißglut gebracht, es gibt über sie eine Polizeiakte. Über sie kommen böse all die Skandale der vergangenen Jahrzehnte in den Roman, die Industriegift-Unfälle, Pestizide auf den Feldern, die Flüchtlingskrise, die atomare Aufrüstung, die Einsamkeit des Weltraum-Hundes Laika, der Brand des Grenfell Tower in London, Trump. Das Friedenscamp am Air-Force-Stützpunkt Greenham Common in den Achtzigern, wo amerikanische Cruise Missiles stationiert werden sollten, wogegen Frauen protestierten, sich am Zaun anketteten und nicht vertreiben ließen von Wetter, Polizei und Politik.
Ali Smith erzählt sprunghaft und direkt, manche Beobachtungen wirken banal, manche sehr weit hergeholt, auch Kalauer tauchen unbekümmert auf. Manche Figuren wechseln in andere Bände der Reihe, so werden Sophia, Iris und Art in „Summer“ wieder auftauchen. Dickens, Shakespeare, William Blake sind dabei, oder die britische Bildhauerin Barbara Hepworth, inzwischen so gut wie vergessen im primär von Männern determinierten Kanon, die Skulpturen in Landschaften platziert, wuchtig wie die von Henry Moore, kompakte Körper mit ausgeschnittenen Löchern. Es wäre gut, selber durchlöchert zu sein, sagt Sophia, dann würde vielleicht alles, was man nicht ausdrücken kann, einfach herausfließen. Und dann ist Weihnachten natürlich Spielfilmzeit im TV, „Der Zauberer von Oz“, die BBC zeigt Filme mit Elvis. Mit dem hatte es ein Jugenderlebnis gegeben, unvergesslich in seiner Innigkeit, im Februar 1981, Valentinstag. Sophia ist vierzehn, und Iris geht mit ihr ins Kino, sie schauen im Odeon den Film „Café Europa“ an, der im Original „G.I. Blues“ heißt. Iris, die Atomwaffengegnerin, und Elvis als Soldat in Deutschland. Echt?
Das Eindrucksvollste und Schönste, was Sophia jemals sah, ist eine Szene des Films in einem Stadtpark: Elvis muss, weil das Grammofon spinnt, in einer Vorstellung des Kasperletheaters aushelfen, er verschwindet hinter der Bühne und taucht groß neben der blonden Puppen-Gretel auf, singt für sie „Muss i denn zum Städtele hinaus“, ganz kokett und zärtlich, und macht alle in sich verliebt, sein Mädchen im Publikum, die Kinder dort, Sophia im Kino. Die Szene und das Lied – Elvis singt es deutsch und englisch – durchziehen das ganze Buch, Iris und Sophia singen es, deutsch und englisch, nachts in den Betten, aber der Vater darf es nicht hören. Er habe doch kein Herz aus Holz, beteuert Elvis, und das könnte das Motto aller Figuren sein.
Die Objekte und Bilder von sich aus zum Klingen bringen will Ali Smith, das ginge ganz einfach, indem man zwei Dinge aneinanderbringt, die dann ein drittes ergeben. Die Handlung von „Cymbeline“ wird so geballt rekapituliert, dass man erst mal nichts kapiert. „Winter“ ist ein wundervoll naives Werk, aber natürlich ist alles Naive bei Ali Smith ein kunstvolles Konstrukt. Man sollte viele der Passagen des Romans laut lesen, sie schwingen lassen in ihrem Rhythmus. „,Treat me right, treat me good‘, singt Elvis, ‚treat me like you really should, cause I’m not made of wood and I don’t have a wooden heart‘.“ Das liest man am besten mit der Muss-i-denn-Melodie im Kopf, die Elvis im Kasperltheater singt.
FRITZ GÖTTLER
Ali Smith: Winter. Roman. Aus dem Englischen von Silvia Morawetz. Luchterhand Verlag, München 2020. 318 Seiten, 22 Euro.
Durch die Schwester
kommen böse die
Skandale ins Haus
Wie ein Ohrwurm durchzieht dieses Lied das ganze Buch: Elvis singt „Muss i denn zum Städtele hinaus“ im Film „G.I. Blues“ (1960).
Foto: Mauritius
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Ali Smith erzählt in ihren Zeit-Romanen sprunghaft vom Heute. Die zweite Folge heißt „Winter“
Man kann jetzt einen Halbzeitbericht geben zur Reihe der vier Jahreszeiten-Romane von Ali Smith, die 2017 mit „Herbst“ startete (deutsch 2019, siehe SZ vom 06.01.20) und von der eben auf Deutsch der zweite Band, „Winter“, erschien, in der dynamischen Übersetzung von Silvia Morawetz. Die Bände sind im Ein-Jahres-Rhythmus geschrieben, der letzte, „Summer“, ist dieses Jahr in England erschienen. Ein Projekt, in dem es Ali Smith um Aktualität geht, keine Angelegenheit von zeitloser Besinnlichkeit. Ihrem Verlag Hamish Hamilton gegenüber hat sie darauf bestanden, dass jeder Band möglichst schnell, nachdem er fertig geschrieben war, erscheinen würde – in dem Begriff novel, sagt sie, steckt das Wort „neu“. Ein Romanwerk wie eine Zeitung, ganz und gar poetisch.
Vier Zeit-Romane, Romane der Zeit, die Großbritannien gerade durchlebt. Die in all den pittoresken, grotesken, surrealen Ereignissen und Reminiszenzen, von denen sie überquellen, natürlich vom Brexit bestimmt sind und vom britischen Selbstverständnis, von Verunsicherung, Führungslosigkeit, Misere. Einmal ist, in einer der zahlreichen Diskussionen des Buchs, von einem Königreich die Rede, „das in Chaos, Lügen, Machtgeschacher und Uneinigkeit versinkt, samt etlichen Vergiftungen und Selbstvergiftungen ... In dem jeder vorgibt, jemand anderes oder etwas anderes zu sein“. Es ist das Reich in Shakespeares „Cymbeline“, aber sicher nicht nur. Ali Smith, geboren in Schottland, in Cambridge lebend, liebt die weitschweifende Fantasy von Shakespeares Märchenstücken.
Es geht in „Winter“ um die Wintersonnenwende und diverse Weihnachten in verschiedenen Jahren, und immer auch um das Nachspiel, das sie haben in den Monaten darauf. Die Glocke der Dorfkirche schlägt mehrmals hintereinander Mitternacht. An einem der Weihnachten begegnet eine der Hauptfiguren, Sophia Cleves, dem Mann, der später der Vater ihres Sohnes werden wird, sie musste raus an die Luft aus den Haschschwaden im Haus, in dem ihre Schwester Iris eine Kommune versammelt hat, der Mann ist traurig, weil in den Nachrichten gerade gemeldet wurde, dass Chaplin gestorben ist. Der Weihnachten hasste.
Viele Jahre später. Sophia hat ihren Sohn Arthur auf ihren Landsitz in Cornwall geladen, das ehemalige Kommunehaus der Schwester, das sie gekauft hatte, sie ist erfolgreiche Geschäftsfrau, Mode und Deko-Objekte. Nun, im Alter, ist sie merkwürdig abwesend, manche meinen: dement. Sie sieht einen Kopf um sich her schweben, wie die luftige Weltkugel in Chaplins „The Great Dictator“. Er lässt sich, eine Art Haustier, nicht aussperren und verliert bald seine Haare und dann sein Gesicht. Der Kühlschrank ist armselig leer. Sophias Demenz kommt ihrem Sohn zupass. Er hat Probleme mit seiner Freundin Charlotte, die seinen Twitter-Kanal kapert, auf dem er seine Naturbeobachtungen kundtut, und nun unsinnige und provokante Meldungen unter seinen Followern verbreitet. Arthur arbeitet für die Riesenfirma SA4A, er spürt Copyright-Verletzungen auf. Er will den Winter richtig hart, will ein gefrorener Halm sein, der bricht, kein Grashalm, der sich biegt.
Um nicht allein beim Weihnachtsfest aufzutauchen, heuert Arthur das Mädchen Lux an, das sich als seine Freundin ausgibt, drei Tage weihnachtliches Wechselspiel der Identitäten mitmacht. Ihre Piercings nimmt sie dafür ab. Tausend Pfund zahlt Arthur ihr.
„Art in Nature“ heißt Arthurs Blog, darin etwa die Beobachtung, es sei ein Kanadawaldsänger in Cornwall gesichtet worden. Das ist natürlich ein Gag Charlottes, die solche Naturreflexionen unpolitisch und reaktionär findet, aber er setzt an Weihnachten, wie einst die Hirten, eine Busladung Hobby-Ornithologen in Bewegung. Auch Iris, Sophias Schwester, taucht im Haus auf, das schwarze Schaf der Familie. Eine Radikale, eine verdammte Plage, sie hat den Vater immer zur Weißglut gebracht, es gibt über sie eine Polizeiakte. Über sie kommen böse all die Skandale der vergangenen Jahrzehnte in den Roman, die Industriegift-Unfälle, Pestizide auf den Feldern, die Flüchtlingskrise, die atomare Aufrüstung, die Einsamkeit des Weltraum-Hundes Laika, der Brand des Grenfell Tower in London, Trump. Das Friedenscamp am Air-Force-Stützpunkt Greenham Common in den Achtzigern, wo amerikanische Cruise Missiles stationiert werden sollten, wogegen Frauen protestierten, sich am Zaun anketteten und nicht vertreiben ließen von Wetter, Polizei und Politik.
Ali Smith erzählt sprunghaft und direkt, manche Beobachtungen wirken banal, manche sehr weit hergeholt, auch Kalauer tauchen unbekümmert auf. Manche Figuren wechseln in andere Bände der Reihe, so werden Sophia, Iris und Art in „Summer“ wieder auftauchen. Dickens, Shakespeare, William Blake sind dabei, oder die britische Bildhauerin Barbara Hepworth, inzwischen so gut wie vergessen im primär von Männern determinierten Kanon, die Skulpturen in Landschaften platziert, wuchtig wie die von Henry Moore, kompakte Körper mit ausgeschnittenen Löchern. Es wäre gut, selber durchlöchert zu sein, sagt Sophia, dann würde vielleicht alles, was man nicht ausdrücken kann, einfach herausfließen. Und dann ist Weihnachten natürlich Spielfilmzeit im TV, „Der Zauberer von Oz“, die BBC zeigt Filme mit Elvis. Mit dem hatte es ein Jugenderlebnis gegeben, unvergesslich in seiner Innigkeit, im Februar 1981, Valentinstag. Sophia ist vierzehn, und Iris geht mit ihr ins Kino, sie schauen im Odeon den Film „Café Europa“ an, der im Original „G.I. Blues“ heißt. Iris, die Atomwaffengegnerin, und Elvis als Soldat in Deutschland. Echt?
Das Eindrucksvollste und Schönste, was Sophia jemals sah, ist eine Szene des Films in einem Stadtpark: Elvis muss, weil das Grammofon spinnt, in einer Vorstellung des Kasperletheaters aushelfen, er verschwindet hinter der Bühne und taucht groß neben der blonden Puppen-Gretel auf, singt für sie „Muss i denn zum Städtele hinaus“, ganz kokett und zärtlich, und macht alle in sich verliebt, sein Mädchen im Publikum, die Kinder dort, Sophia im Kino. Die Szene und das Lied – Elvis singt es deutsch und englisch – durchziehen das ganze Buch, Iris und Sophia singen es, deutsch und englisch, nachts in den Betten, aber der Vater darf es nicht hören. Er habe doch kein Herz aus Holz, beteuert Elvis, und das könnte das Motto aller Figuren sein.
Die Objekte und Bilder von sich aus zum Klingen bringen will Ali Smith, das ginge ganz einfach, indem man zwei Dinge aneinanderbringt, die dann ein drittes ergeben. Die Handlung von „Cymbeline“ wird so geballt rekapituliert, dass man erst mal nichts kapiert. „Winter“ ist ein wundervoll naives Werk, aber natürlich ist alles Naive bei Ali Smith ein kunstvolles Konstrukt. Man sollte viele der Passagen des Romans laut lesen, sie schwingen lassen in ihrem Rhythmus. „,Treat me right, treat me good‘, singt Elvis, ‚treat me like you really should, cause I’m not made of wood and I don’t have a wooden heart‘.“ Das liest man am besten mit der Muss-i-denn-Melodie im Kopf, die Elvis im Kasperltheater singt.
FRITZ GÖTTLER
Ali Smith: Winter. Roman. Aus dem Englischen von Silvia Morawetz. Luchterhand Verlag, München 2020. 318 Seiten, 22 Euro.
Durch die Schwester
kommen böse die
Skandale ins Haus
Wie ein Ohrwurm durchzieht dieses Lied das ganze Buch: Elvis singt „Muss i denn zum Städtele hinaus“ im Film „G.I. Blues“ (1960).
Foto: Mauritius
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»Im Großen wie im Detail zündet Smith ein literarisches Feuerwerk ab.« Judith von Sternburg / Frankfurter Rundschau