Anfang Dezember findet sich eine junge Frau in Le Havre wieder, mittellos, alleinstehend und vom Arbeitsamt als hoffnungsloser Fall abgetan. Sie beschließt, den Namen einer Schriftstellerin aus einem Film von Eric Rohmer anzunehmen, und nennt sich fortan Bérénice. Aus der selbstverschuldeten, überaus prekären Lage versucht sie sich mithilfe dieser neuen Identität und eines unterwegs aufgegabelten Mannes zu retten. Der Schiffsinspektor erliegt zunächst ihrem Charme und Geheimnis, nimmt sie mit nach Marseille und dann nach Paris, versucht aber vergeblich, irgendetwas über sie zu erfahren. Als er schließlich begreift, dass »Mademoiselle« erstens wirklich einen Knall oder das Gedächtnis verloren hat und ihn zweitens nur ausnutzt, will er sie mit allen Mitteln, wieder loswerden ...Die Autorin spielt klug und originell mit Realität und Fiktion - und mit der Erwartungshaltung der Leser. Auch dieser neue, wieder sehr unterhaltsame Roman von Julia Deck ist in unverwechselbarer Weise charmant, verwirrend und witzig.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Mit ihrem zweiten Roman hat Julia Deck sich als Meisterin der Verwirrung bewiesen, findet Rezensent Georg Renöckl. Eine junge, mittellose Frau verführt einen Schiffsbau-Ingenieur mit einer gestohlenen Identität. Jedoch nicht nur ihr Geliebter ist sich bald nicht mehr sicher, wer sie wirklich ist, auch sie selbst verfängt sich in den Rollen, die sie spielt und ihren realen Erinnerungen, lesen wir. Für Renöckl wird eine Interpretation der Ereignisse immer schwieriger, bis sie ihm schließlich unmöglich scheint. Angesichts zunehmend "verschwimmender Gewissheiten" und einer mehr als wechselhaften Romanheldin schwankt der Rezensent zwischen Verzweiflung und Bewunderung für den tadellosen Stil sowie die beeindruckende Intuition der Autorin, was menschliche Abgründe angeht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.05.2016Noch so eine schöne Querulantin
Die leichtfüßige Wiederkehr des Nouveau Roman im Hier und Jetzt: Julia Decks Verstellungskomödie "Winterdreieck"
Mademoiselle einfach nur als Hochstaplerin zu bezeichnen würde zu kurz greifen. Auch dadurch, dass sie ihre Karriere als Beischlafdiebin startet, wäre sie nicht hinreichend gewürdigt. Mademoiselle hat nämlich ein echtes Identitätsproblem, das jedoch nicht in irgendeiner psychischen Disposition begründet liegt, sondern der Tatsache entspringt, dass sie von ihrer prekären Existenz die Nase voll hat.
Wir bewegen uns also, wie schon bei Julia Decks erstem Roman, "Viviane Élizabeth Fauville" (F.A.Z. v. 20. 11. 2013), mitten im Kapitalismus, Stand heute. Das muss deshalb betont werden, weil Julia Deck in beiden Romanen auf höchst kunstvolle Art und Weise die Techniken des noveau roman anwendet und weiterentwickelt, jener Schule des französischen Romans der fünfziger Jahre also, die bei uns eher seufzend als verspielte literarische Mode rezipiert und deren Abebben von einem hörbaren Aufatmen des Buchhandels wie der Kritik begleitet wurde.
Die Romane der 1974 in Paris geborenen Autorin machen jedoch deutlich, wie präzise die ständigen Perspektiv- und Rollenverschiebungen dieser Erzähltechnik gesellschaftliche Wirklichkeit eben nicht eins zu eins "abbilden", sondern bis ins Detail beleuchten können. Man könnte Decks Bücher leicht als gekonnte Paraphrasen auf eine vergangene Episode der Literaturgeschichte abtun, verfügten sie nicht über diesen präzisen bösen Blick auf die gesellschaftlichen - und damit zwischenmenschlichen - Verhältnisse.
Während der erste Roman noch in deutlich höheren sozialen Etagen angesiedelt ist und die feinen Unterschiede vor allem mittels der permanenten Bewegung durch verschiedene Pariser Arrondissements herausgearbeitet werden (das Metro-Netz spielt dabei als Zeichensystem eine herausragende Rolle), bewegt sich Mademoiselle anfangs in der Welt der Zeitarbeitsfirmen und prekären Beschäftigungen, bis sie keine Lust mehr hat und dies auch deutlich demonstriert: Sie attackiert ihren Abteilungsleiter im Kaufhaus mit einem auf höchste Stufe gestellten Küchengerät. Danach "erfindet sie sich neu", wie es heute allenthalben heißt - und das ist ja auch allemal vielversprechender als der gegenteilige Ansatz, der zumeist in der Tautologie "Ich möchte ich selbst sein" gerinnt.
Mademoiselle, deren "wahren Namen" (gibt es den?) wir nie erfahren, nennt sich fortan Bérénice Beaurivage, in Anlehnung an eine Figur aus Eric Rohmers Film "Der Baum, der Bürgermeister und die Mediathek", deren Darstellerin Arielle Dombasle sie nach eigener Ansicht ziemlich ähnelt. Sie erleichtert eine Barbekanntschaft in Le Havre nach erfolgtem Beischlaf um dreihundert Euro und macht sich mit diesem Startkapital auf den Weg aus der prekären Welt. Ein Ortswechsel ist angesagt, es geht weiter nach St.-Nazaire. Dem Meer und den Häfen bleibt der Roman treu, mit Ausnahme eines kurzen Intermezzos in Paris. Als dritte Seite des Dreiecks wird später noch Marseille hinzukommen.
Allein schafft Mademoiselle es allerdings nicht, dazu sind dreihundert Euro dann doch zu wenig. Nachdem sie sich durch den Kauf eines Heftes und eines Stifts zu einer Romanautorin gemacht hat, angelt sie sich in St.-Nazaire einen Schiffsinspektor, eine gutverdienende Autoritätsperson also. Es wäre nicht ganz angemessen zu sagen, dass hier nun eine amour fou beginnt, denn dazu fehlt es auf Mademoiselles Seite an Leidenschaft.
Dennoch möchte sie ihren Inspektor, der ja schließlich für ein angenehmes, nicht mehr prekäres Leben sorgt, keinesfalls verlieren. Also beginnt - wie immer, wenn es um die soziale Rolle eines Individuums geht - eine teilweise atemraubende Verstellungskomödie, die durchzuhalten für Mademoiselle immer schwieriger wird, denn der Inspektor schöpft natürlich mehr und mehr Verdacht, dass da etwas nicht ganz stimmt mit Bérénice Beaurivage. Warum schreibt sie nie mit dem Computer, sondern immer mit der Hand, und warum darf man nie in ihr Heft sehen? Warum hat eine erfolgreiche Romanschriftstellerin zum Beispiel nicht gelernt, feinere Gerichte richtig zu essen, und kennt Tintenfisch nur in Form gummiartiger Ringe, nicht aber als ganzes Tier?
Die feinen Unterschiede fallen dem Inspektor nicht nur bei dieser Gelegenheit auf. Was ist dran an den Verdachtsmomenten, die Blandine Lenoir äußert, eine Journalistin, Bekannte des Inspektors (deren Name ebenfalls dem erwähnten Rohmer-Film entstammt) und natürlich Rivalin von Bérénice? Und wie echt ist, darf man sich am Ende des Romans fragen, diese Journalistin ihrerseits?
Am Schluss schließt sich der Kreis - pardon, das Dreieck. Wir sind zurück in Le Havre. Eine junge Frau, vielleicht ist es Mademoiselle, vielleicht jemand anders, bis dahin die tüchtigste im Betrieb, legt sich mit einem Abteilungsleiter an und ist für ihre Zeitarbeitsfirma ebenso wenig vermittelbar geworden wie für die staatliche Arbeitsvermittlung. Aus der Mediathek hat sie sich diesen Film von Eric Rohmer ausgeliehen, und die Darstellerin der Blandine Lenoir hat "eine erstaunliche Ähnlichkeit mit ihr . . . Ob es sich lohnen würde, ihn anzunehmen. Ja, sie würde gern in jeder Hinsicht die Person werden, die in dem Film von Eric Rohmer von der Schauspielerin Clémentine Amouroux dargestellt wird. Blandine Lenoir. Der Name würde perfekt zu mir passen."
Trotz des mehrfachen Perspektiv- und Subjektwechsels: Dieser Roman ist keine Schwerarbeit und auf jeden Fall lesefreundlicher als etwa Robbe-Grillets "Augenzeuge", an dessen maritime Atmosphäre er gleichwohl hier und da anknüpft. Scheinbar en passant und ganz mühelos, mit geschickter Nutzung des Reservoirs aus dem Reich der Zeichen, legt Julia Deck die Struktur französischer Provinzstädte, die Struktur menschlicher Beziehungen und den Stand des heutigen entwickelten Kapitalismus bloß. Dass ihr Roman aber erfreulicherweise nirgends zum anklagenden Pamphlet missrät, ist der Souveränität ihrer erzählerischen Mittel geschuldet.
JOCHEN SCHIMMANG
Julia Deck: "Winterdreieck". Roman.
Aus dem Französischen von Antje Peter. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2016. 138 S., geb., 17.90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die leichtfüßige Wiederkehr des Nouveau Roman im Hier und Jetzt: Julia Decks Verstellungskomödie "Winterdreieck"
Mademoiselle einfach nur als Hochstaplerin zu bezeichnen würde zu kurz greifen. Auch dadurch, dass sie ihre Karriere als Beischlafdiebin startet, wäre sie nicht hinreichend gewürdigt. Mademoiselle hat nämlich ein echtes Identitätsproblem, das jedoch nicht in irgendeiner psychischen Disposition begründet liegt, sondern der Tatsache entspringt, dass sie von ihrer prekären Existenz die Nase voll hat.
Wir bewegen uns also, wie schon bei Julia Decks erstem Roman, "Viviane Élizabeth Fauville" (F.A.Z. v. 20. 11. 2013), mitten im Kapitalismus, Stand heute. Das muss deshalb betont werden, weil Julia Deck in beiden Romanen auf höchst kunstvolle Art und Weise die Techniken des noveau roman anwendet und weiterentwickelt, jener Schule des französischen Romans der fünfziger Jahre also, die bei uns eher seufzend als verspielte literarische Mode rezipiert und deren Abebben von einem hörbaren Aufatmen des Buchhandels wie der Kritik begleitet wurde.
Die Romane der 1974 in Paris geborenen Autorin machen jedoch deutlich, wie präzise die ständigen Perspektiv- und Rollenverschiebungen dieser Erzähltechnik gesellschaftliche Wirklichkeit eben nicht eins zu eins "abbilden", sondern bis ins Detail beleuchten können. Man könnte Decks Bücher leicht als gekonnte Paraphrasen auf eine vergangene Episode der Literaturgeschichte abtun, verfügten sie nicht über diesen präzisen bösen Blick auf die gesellschaftlichen - und damit zwischenmenschlichen - Verhältnisse.
Während der erste Roman noch in deutlich höheren sozialen Etagen angesiedelt ist und die feinen Unterschiede vor allem mittels der permanenten Bewegung durch verschiedene Pariser Arrondissements herausgearbeitet werden (das Metro-Netz spielt dabei als Zeichensystem eine herausragende Rolle), bewegt sich Mademoiselle anfangs in der Welt der Zeitarbeitsfirmen und prekären Beschäftigungen, bis sie keine Lust mehr hat und dies auch deutlich demonstriert: Sie attackiert ihren Abteilungsleiter im Kaufhaus mit einem auf höchste Stufe gestellten Küchengerät. Danach "erfindet sie sich neu", wie es heute allenthalben heißt - und das ist ja auch allemal vielversprechender als der gegenteilige Ansatz, der zumeist in der Tautologie "Ich möchte ich selbst sein" gerinnt.
Mademoiselle, deren "wahren Namen" (gibt es den?) wir nie erfahren, nennt sich fortan Bérénice Beaurivage, in Anlehnung an eine Figur aus Eric Rohmers Film "Der Baum, der Bürgermeister und die Mediathek", deren Darstellerin Arielle Dombasle sie nach eigener Ansicht ziemlich ähnelt. Sie erleichtert eine Barbekanntschaft in Le Havre nach erfolgtem Beischlaf um dreihundert Euro und macht sich mit diesem Startkapital auf den Weg aus der prekären Welt. Ein Ortswechsel ist angesagt, es geht weiter nach St.-Nazaire. Dem Meer und den Häfen bleibt der Roman treu, mit Ausnahme eines kurzen Intermezzos in Paris. Als dritte Seite des Dreiecks wird später noch Marseille hinzukommen.
Allein schafft Mademoiselle es allerdings nicht, dazu sind dreihundert Euro dann doch zu wenig. Nachdem sie sich durch den Kauf eines Heftes und eines Stifts zu einer Romanautorin gemacht hat, angelt sie sich in St.-Nazaire einen Schiffsinspektor, eine gutverdienende Autoritätsperson also. Es wäre nicht ganz angemessen zu sagen, dass hier nun eine amour fou beginnt, denn dazu fehlt es auf Mademoiselles Seite an Leidenschaft.
Dennoch möchte sie ihren Inspektor, der ja schließlich für ein angenehmes, nicht mehr prekäres Leben sorgt, keinesfalls verlieren. Also beginnt - wie immer, wenn es um die soziale Rolle eines Individuums geht - eine teilweise atemraubende Verstellungskomödie, die durchzuhalten für Mademoiselle immer schwieriger wird, denn der Inspektor schöpft natürlich mehr und mehr Verdacht, dass da etwas nicht ganz stimmt mit Bérénice Beaurivage. Warum schreibt sie nie mit dem Computer, sondern immer mit der Hand, und warum darf man nie in ihr Heft sehen? Warum hat eine erfolgreiche Romanschriftstellerin zum Beispiel nicht gelernt, feinere Gerichte richtig zu essen, und kennt Tintenfisch nur in Form gummiartiger Ringe, nicht aber als ganzes Tier?
Die feinen Unterschiede fallen dem Inspektor nicht nur bei dieser Gelegenheit auf. Was ist dran an den Verdachtsmomenten, die Blandine Lenoir äußert, eine Journalistin, Bekannte des Inspektors (deren Name ebenfalls dem erwähnten Rohmer-Film entstammt) und natürlich Rivalin von Bérénice? Und wie echt ist, darf man sich am Ende des Romans fragen, diese Journalistin ihrerseits?
Am Schluss schließt sich der Kreis - pardon, das Dreieck. Wir sind zurück in Le Havre. Eine junge Frau, vielleicht ist es Mademoiselle, vielleicht jemand anders, bis dahin die tüchtigste im Betrieb, legt sich mit einem Abteilungsleiter an und ist für ihre Zeitarbeitsfirma ebenso wenig vermittelbar geworden wie für die staatliche Arbeitsvermittlung. Aus der Mediathek hat sie sich diesen Film von Eric Rohmer ausgeliehen, und die Darstellerin der Blandine Lenoir hat "eine erstaunliche Ähnlichkeit mit ihr . . . Ob es sich lohnen würde, ihn anzunehmen. Ja, sie würde gern in jeder Hinsicht die Person werden, die in dem Film von Eric Rohmer von der Schauspielerin Clémentine Amouroux dargestellt wird. Blandine Lenoir. Der Name würde perfekt zu mir passen."
Trotz des mehrfachen Perspektiv- und Subjektwechsels: Dieser Roman ist keine Schwerarbeit und auf jeden Fall lesefreundlicher als etwa Robbe-Grillets "Augenzeuge", an dessen maritime Atmosphäre er gleichwohl hier und da anknüpft. Scheinbar en passant und ganz mühelos, mit geschickter Nutzung des Reservoirs aus dem Reich der Zeichen, legt Julia Deck die Struktur französischer Provinzstädte, die Struktur menschlicher Beziehungen und den Stand des heutigen entwickelten Kapitalismus bloß. Dass ihr Roman aber erfreulicherweise nirgends zum anklagenden Pamphlet missrät, ist der Souveränität ihrer erzählerischen Mittel geschuldet.
JOCHEN SCHIMMANG
Julia Deck: "Winterdreieck". Roman.
Aus dem Französischen von Antje Peter. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2016. 138 S., geb., 17.90 [Euro].
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