Auggie, der Tabakladenbesitzer und Hobbyfotograf in dem Film „Smoke“, lichtet jeden Tag um Punkt 8 Uhr seinen Laden in Brooklyn ab. Was statisch klingt, birgt jedoch die ganze Welt in sich. Ein genauer Beobachter schöpft aus dieser scheinbaren Reduziertheit die Fülle des Lebens und den Zauber der Veränderung. Paul Auster, der das Drehbuch zu „Smoke“ schrieb, ist so ein genauer Beobachter. In seinem neuen Buch „Winterjournal“ beobachtet der Beobachter nicht die Welt von einem Punkt aus, sondern sich selbst und die Welt durch sich hindurch. Die Hauptfigur heißt Paul Auster.
Auster, Jahrgang 1947, analysiert und philosophiert über das Schreiben und das Leben, seine Lieben und seine Wohnungen, über die er in „Winterjournal“ Buch führt. Angefangen von der ersten Herberge bei seiner Geburt, dem Beth Israel Hospital in Newark, über die Wohnung seiner Eltern (der Vater bekam den Mietvertrag, nachdem er der Vermieterin einen Fernseher geschenkt hatte) und die erste eigene Wohnung in Manhattan (Ein heruntergekommenes, schlecht konzipiertes Drecksloch […].“) bis zu dem Haus in Brooklyn, „irgendwo in Park Slope“, wo er seit langen Jahren zusammen mit seiner Frau Siri Hustvedt lebt und die gemeinsame Tochter Sophie aufwuchs … Diese Idee, anhand der Heimstätten Teile seines Lebens und der Zeitläufe zu erzählen, entfaltet dank Paul Austers Sprachgewalt wahre Magie.
Genauso wie die offen aufgeschriebenen Erinnerungen an die „phallische Besessenheit“ der Jugend. „Wie jedes andere männliche Lebewesen, das je auf Erden gewandelt ist, wurdest du zum Knecht der wundersamen Veränderung, die sich in deinem Körper vollzogen hatte. An den meisten Tagen konntest du kaum an etwas anderes denken – an manchen Tagen an gar nichts anderes.“ Trotz des flammenden Verlangens erzählt Auster, wie schüchtern und unbeholfen er anfangs war und „in einer Hölle aus Frustration und permanenter sexueller Erregung“ lebte.
Austers „Katalog von Sinnesdaten“ schließt neben den erotischen Erfüllungen oder Versagungen seine mit dem Alter zunehmende Gebrechlichkeit und Vergänglichkeit mit ein; genauso seelische und körperliche Erschütterungen wie zum Beispiel die durch einen schweren Autounfall 2002, den er verursacht hat und bei dem seine Frau Siri aus dem Wrack geschnitten werden musste. Seit diesem Tag setzt er sich nicht mehr hinter das Steuer eines Wagens. Natürlich ist dieses Trauma nicht der Grund, warum Paul Auster zum leidenschaftlichen Fußgänger wurde – das Gehen ist einfach seine Natur. Das Gehen, das Beobachten und das Schreiben: „Um das zu tun, was du tust, musst du gehen. Gehen trägt dir die Worte zu, erlaubt dir den Rhythmus der Worte zu hören, während du sie in deinem Kopf schreibst. Einen Fuß nach vorn, dann den andern nach vorn, der Doppelschlag deines Herzens. Zwei Augen, zwei Ohren, zwei Arme, zwei Beine, zwei Füße." Schreiben beginnt für Paul Auster im Körper, „ist die Musik des Körpers“.
Wie viele Kilometer Paul Auster für dieses Buch durch Brooklyn gelaufen ist, wissen wir nicht – aber der Klang von „Winterjournal“, die Musik der Worte, hat uns in jedem Fall überzeugt.
Auster, Jahrgang 1947, analysiert und philosophiert über das Schreiben und das Leben, seine Lieben und seine Wohnungen, über die er in „Winterjournal“ Buch führt. Angefangen von der ersten Herberge bei seiner Geburt, dem Beth Israel Hospital in Newark, über die Wohnung seiner Eltern (der Vater bekam den Mietvertrag, nachdem er der Vermieterin einen Fernseher geschenkt hatte) und die erste eigene Wohnung in Manhattan (Ein heruntergekommenes, schlecht konzipiertes Drecksloch […].“) bis zu dem Haus in Brooklyn, „irgendwo in Park Slope“, wo er seit langen Jahren zusammen mit seiner Frau Siri Hustvedt lebt und die gemeinsame Tochter Sophie aufwuchs … Diese Idee, anhand der Heimstätten Teile seines Lebens und der Zeitläufe zu erzählen, entfaltet dank Paul Austers Sprachgewalt wahre Magie.
Genauso wie die offen aufgeschriebenen Erinnerungen an die „phallische Besessenheit“ der Jugend. „Wie jedes andere männliche Lebewesen, das je auf Erden gewandelt ist, wurdest du zum Knecht der wundersamen Veränderung, die sich in deinem Körper vollzogen hatte. An den meisten Tagen konntest du kaum an etwas anderes denken – an manchen Tagen an gar nichts anderes.“ Trotz des flammenden Verlangens erzählt Auster, wie schüchtern und unbeholfen er anfangs war und „in einer Hölle aus Frustration und permanenter sexueller Erregung“ lebte.
Austers „Katalog von Sinnesdaten“ schließt neben den erotischen Erfüllungen oder Versagungen seine mit dem Alter zunehmende Gebrechlichkeit und Vergänglichkeit mit ein; genauso seelische und körperliche Erschütterungen wie zum Beispiel die durch einen schweren Autounfall 2002, den er verursacht hat und bei dem seine Frau Siri aus dem Wrack geschnitten werden musste. Seit diesem Tag setzt er sich nicht mehr hinter das Steuer eines Wagens. Natürlich ist dieses Trauma nicht der Grund, warum Paul Auster zum leidenschaftlichen Fußgänger wurde – das Gehen ist einfach seine Natur. Das Gehen, das Beobachten und das Schreiben: „Um das zu tun, was du tust, musst du gehen. Gehen trägt dir die Worte zu, erlaubt dir den Rhythmus der Worte zu hören, während du sie in deinem Kopf schreibst. Einen Fuß nach vorn, dann den andern nach vorn, der Doppelschlag deines Herzens. Zwei Augen, zwei Ohren, zwei Arme, zwei Beine, zwei Füße." Schreiben beginnt für Paul Auster im Körper, „ist die Musik des Körpers“.
Wie viele Kilometer Paul Auster für dieses Buch durch Brooklyn gelaufen ist, wissen wir nicht – aber der Klang von „Winterjournal“, die Musik der Worte, hat uns in jedem Fall überzeugt.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Paul Ingendaay bekennt, nach den ersten sechs Romanen Paul Austers keine weiteren Bücher des erfolgreichen Schriftstellers gelesen zu haben. Mit seinem neuen Buch, in dem Auster von den zentralen Momenten, Stationen und Motiven seines Lebens erzählt, hat der Autor den Rezensenten als begeisterten Leser zurückgewonnen. Entwaffnend ehrlich beschreibt Auster für ihn die Empfindungen des Körpers, Liebesbeziehungen, Wohnungen, Erfahrungen von Krankheit und Tod. Dass der Leser dem Autor in "Winterjournal" sehr nahe kommt, ohne das es peinlich wird, hat Ingendaay sichtlich beeindruckt, zumal Auster auf Schriftstellerposen verzichtet und als normaler Mensch sichtbar wird.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.09.2013Gibt es eine Veranlagung zum Glück?
In diesen Sätzen kann man sich zu Hause fühlen: Der amerikanische Romancier Paul Auster betreibt in seinem "Winterjournal" exzessive Beobachtungen der eigenen Anfälligkeit. Dabei offenbart er einen gewissen Hang zur Hypochondrie - und eine entwaffnende Ehrlichkeit.
Einer wird sechzig, dann einundsechzig, zweiundsechzig, dreiundsechzig - und dann hat er Lust, weil er schon mehr als ein Dutzend Romane geschrieben hat, das eigene Leben zum Thema zu nehmen, aber ohne die Verkleidungskünste der Fiktion.
So ungefähr können wir uns den erfolgreichen amerikanischen Schriftsteller Paul Auster, Jahrgang 1947, um das Jahr 2011 vorstellen. Sein Leben, davon hat er oft gesprochen, diente ihm bisher als Inspiration und Ersatzteillager für seine Bücher, doch diesmal soll es etwas anderes werden: eine halb erzählerische, halb essayistische Wanderung durch prägende Momente, zufällige Umstände und Leitmotive seiner Existenz. In dem soeben erschienenen "Winterjournal" zerlegt Auster seine gelebten Jahre, wie es einem fröhlichen französischen Strukturalisten einfallen könnte.
Zunächst reist er um seinen eigenen Körper, erzählt, was ihm in mehr als einem halben Jahrhundert so alles widerfahren ist. Frühkindliche Empfindungen von Kälte und Wärme, "ein Katalog von Sinnesdaten". Die Narben, die er sich beim Spielen zugezogen hat. Dann, was ihm Freude und Euphorie bereitet: "In erster Linie sexuelle Lust", schreibt Auster, "aber auch die Lust am Essen und Trinken, der Genuss, nackt in einem warmen Bad zu liegen, sich das juckende Fell zu kratzen, zu niesen und zu furzen, eine weitere Stunde im Bett zu verbringen, an einem lauen Nachmittag im Spätfrühling oder Frühsommer dein Gesicht in die Sonne zu halten und die Wärme auf deiner Haut zu spüren."
Die Du-Anrede, in der das ganze "Winterjournal" geschrieben ist, knirscht hörbar, weil es die Mehrdeutigkeit des englischen "you", das sowohl "du" wie auch "man" heißen kann, im Deutschen nun einmal nicht gibt. Davon abgesehen, braucht Auster keine fünf Absätze, um den Leser dicht an seine Seite zu holen. Alles ist nah, fast kumpelhaft, ohne Erhabenheit und Abstraktion. Der erste richtige Kuss. Die Unfähigkeit, sich im Raum zu orientieren und Wege im Kopf zu behalten. Die Angst vor dem Schmerz. Beständig ist vor allem der frühe Entschluss, die Welt schreibend zu erleben und sich der amerikanischen Obsession durch das Materielle zu verweigern. Auster macht daraus keine Maxime, er tut es einfach. Im "Winterjournal" soll es nicht um Schriftstellerposen gehen, sondern um einen normalen Menschen, und das Einnehmende an diesem Buch ist, dass dieses Unterfangen tatsächlich gelingt. In dem Maß, in dem Paul Auster die eigene Prominenz verkleinert und beiseitelässt, wächst das Buch: Es findet alle Originalität im Gewöhnlichen.
Das Thema der sexuellen Lust wird später vertieft, furchtlos, unprüde, bis zu der Erwähnung, der junge Auster habe sich in seinen Pariser Jahren, als er keine Freundin hatte, auch Trost bei Prostituierten verschafft, immer auf der Suche nach dem Gesicht einer Frau, "deren Augen noch nicht erloschen waren". Doch der Fünfundzwanzigjährige ist kein romantischer Dummkopf, sondern ein Mann zwischen Erregung und Einsamkeit, den der Autor verständlich macht. Männer sind so, sagt die beeindruckende Schilderung der nächtlichen Gassen in seinem billigen Viertel, und manche Frauen verdienen damit ihr Geld.
Dies hätte ein hedonistisches Buch werden können, wenn der ruhelose Auster dafür gemacht wäre, aber das ist er nicht. Ein Hauch von Hypochondrie liegt über den Seiten, ein exzessives Beobachten der eigenen Anfälligkeit, dessen Ehrlichkeit entwaffnend ist. Dazu gehören auch die Schilderungen der vereinsamten Mutter (Auster erfährt erst im Alter von fünfundfünfzig Jahren, dass sie seinem Vater untreu war), der Augenblicke von Sprachlosigkeit, Verlust und Tod. Das Gegengewicht dazu bildet Austers lässiger Humor, ein fast staunendes Konstatieren von Pech und Widrigkeiten. Der schwere Autounfall, den der Schriftsteller in späteren Jahren aus Unachtsamkeit provoziert, bringt ihn dazu, sich nie wieder hinters Steuer zu setzen. Gefährlich an seinem Leben sind jetzt vor allem die Zigarillos, von denen er nicht lassen kann.
Das Herzstück des Buches, zumindest für diesen Leser, ist der Teil, in dem Auster auf fünfzig Seiten alle Wohnungen und Häuser durchgeht, in denen er jemals gewohnt hat - "einundzwanzig ständige Wohnsitze von der Geburt bis zur Gegenwart, auch wenn ständig kaum das richtige Wort zu sein scheint, wenn du bedenkst, wie oft du im Lauf deines Lebens umgezogen bist".
Das Umziehen und Sicheinrichten, die Probleme mit Lärm, Heizungen oder Nachbarn bilden die Klammer für die entscheidenden Veränderungen im Leben. Indem er vom Wohnen spricht, kann er von seiner Scheidung erzählen, seinem jüdischen Selbstverständnis (das so schwach entwickelt ist, dass Auster im Ausland vermutlich nicht einmal als jüdischer Schriftsteller wahrgenommen wird) und schließlich auch von der Frau seines Lebens, mit der er seit mehr als dreißig Jahren verheiratet ist: Siri Hustvedt, ebenfalls Schriftstellerin und ebenfalls erfolgreich.
"Eure politischen Ansichten waren identisch", schreibt er mit der typischen Mischung aus Demut und Dankbarkeit, wenn er von Siri spricht, "die Bücher, an denen euch etwas lag, waren größtenteils identisch, und ihr hattet ähnliche Erwartungen an das, was das Leben euch geben sollte: Liebe, Arbeit und Kinder - Geld und Besitz erst weit unten auf der Liste." Natürlich hilft es, wenn sich die eigene Vita im mehrfachen Sinn dem Muster romantischer Erfüllung fügt: das richtige Mädchen erobert, zum berühmten Schriftsteller geworden, eine bildschöne und begabte Tochter gezeugt. Aber es muss so etwas wie Veranlagung geben, eine Fähigkeit, das Glück zu suchen und keine Kompromisse an der falschen Stelle zu machen. "Winterjournal" verschweigt allenfalls den Werdegang von Daniel, dem Kind aus erster Ehe. Nach Internetquellen soll Paul Austers 1977 geborener Sohn wegen eines Diebstahldelikts zu einer fünfjährigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt worden sein. Doch über ihn erfährt man vom Vater nichts.
Eine persönliche Anmerkung. Nach den ersten sechs Auster-Romanen habe ich Mitte der neunziger Jahre aufgehört, Paul Auster zu lesen. Schuld war der verplauderte Roman "Mr. Vertigo". Manchmal trifft man als Leser solche Entscheidungen und nimmt in Kauf, dass sie ungerecht sein könnten. Ich dachte, es sei genug. Doch dieses siebte Auster-Buch der autobiographischen Etüden hat wieder Spaß gemacht. Ich weiß nicht, ob es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist, dass ich mich gleich wieder in seinen Sätzen zu Hause fühlte, die der tapfere Werner Schmitz schon seit mehr als zwei Jahrzehnten, Buch auf Buch, mit Können und Inspiration übersetzt.
Irgendwann tauchte in meiner Erinnerung auch wieder der Mann von Mitte vierzig auf, der Paul Auster bei seinem mutmaßlich ersten Frankfurter Buchmessenbesuch war - groß, dunkelhaarig, von blendendem Aussehen, mit Jeans und schwarzer Lederjacke, ein höflicher, neugieriger Gesprächspartner, der Camel rauchte und mit einigem Amüsement zur Kenntnis nahm, dass Oliver Sacks von dem Café aus, in dem wir saßen, in den Garten floh, um dort bei ziemlicher Kälte, aber annehmbarer Atemluft Hof zu halten. Paul Auster blieb lieber drinnen und rauchte seine Zigaretten. Wer den damaligen Schriftsteller getroffen hat und sich fragen mag, wie es ihm in der Zwischenzeit ergangen ist, bekommt mit dem "Winterjournal" die Antwort. Sie lautet: Paul Auster hat sein Leben genutzt.
PAUL INGENDAAY
Paul Auster: "Winterjournal".
Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reinbek 2013. 254 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In diesen Sätzen kann man sich zu Hause fühlen: Der amerikanische Romancier Paul Auster betreibt in seinem "Winterjournal" exzessive Beobachtungen der eigenen Anfälligkeit. Dabei offenbart er einen gewissen Hang zur Hypochondrie - und eine entwaffnende Ehrlichkeit.
Einer wird sechzig, dann einundsechzig, zweiundsechzig, dreiundsechzig - und dann hat er Lust, weil er schon mehr als ein Dutzend Romane geschrieben hat, das eigene Leben zum Thema zu nehmen, aber ohne die Verkleidungskünste der Fiktion.
So ungefähr können wir uns den erfolgreichen amerikanischen Schriftsteller Paul Auster, Jahrgang 1947, um das Jahr 2011 vorstellen. Sein Leben, davon hat er oft gesprochen, diente ihm bisher als Inspiration und Ersatzteillager für seine Bücher, doch diesmal soll es etwas anderes werden: eine halb erzählerische, halb essayistische Wanderung durch prägende Momente, zufällige Umstände und Leitmotive seiner Existenz. In dem soeben erschienenen "Winterjournal" zerlegt Auster seine gelebten Jahre, wie es einem fröhlichen französischen Strukturalisten einfallen könnte.
Zunächst reist er um seinen eigenen Körper, erzählt, was ihm in mehr als einem halben Jahrhundert so alles widerfahren ist. Frühkindliche Empfindungen von Kälte und Wärme, "ein Katalog von Sinnesdaten". Die Narben, die er sich beim Spielen zugezogen hat. Dann, was ihm Freude und Euphorie bereitet: "In erster Linie sexuelle Lust", schreibt Auster, "aber auch die Lust am Essen und Trinken, der Genuss, nackt in einem warmen Bad zu liegen, sich das juckende Fell zu kratzen, zu niesen und zu furzen, eine weitere Stunde im Bett zu verbringen, an einem lauen Nachmittag im Spätfrühling oder Frühsommer dein Gesicht in die Sonne zu halten und die Wärme auf deiner Haut zu spüren."
Die Du-Anrede, in der das ganze "Winterjournal" geschrieben ist, knirscht hörbar, weil es die Mehrdeutigkeit des englischen "you", das sowohl "du" wie auch "man" heißen kann, im Deutschen nun einmal nicht gibt. Davon abgesehen, braucht Auster keine fünf Absätze, um den Leser dicht an seine Seite zu holen. Alles ist nah, fast kumpelhaft, ohne Erhabenheit und Abstraktion. Der erste richtige Kuss. Die Unfähigkeit, sich im Raum zu orientieren und Wege im Kopf zu behalten. Die Angst vor dem Schmerz. Beständig ist vor allem der frühe Entschluss, die Welt schreibend zu erleben und sich der amerikanischen Obsession durch das Materielle zu verweigern. Auster macht daraus keine Maxime, er tut es einfach. Im "Winterjournal" soll es nicht um Schriftstellerposen gehen, sondern um einen normalen Menschen, und das Einnehmende an diesem Buch ist, dass dieses Unterfangen tatsächlich gelingt. In dem Maß, in dem Paul Auster die eigene Prominenz verkleinert und beiseitelässt, wächst das Buch: Es findet alle Originalität im Gewöhnlichen.
Das Thema der sexuellen Lust wird später vertieft, furchtlos, unprüde, bis zu der Erwähnung, der junge Auster habe sich in seinen Pariser Jahren, als er keine Freundin hatte, auch Trost bei Prostituierten verschafft, immer auf der Suche nach dem Gesicht einer Frau, "deren Augen noch nicht erloschen waren". Doch der Fünfundzwanzigjährige ist kein romantischer Dummkopf, sondern ein Mann zwischen Erregung und Einsamkeit, den der Autor verständlich macht. Männer sind so, sagt die beeindruckende Schilderung der nächtlichen Gassen in seinem billigen Viertel, und manche Frauen verdienen damit ihr Geld.
Dies hätte ein hedonistisches Buch werden können, wenn der ruhelose Auster dafür gemacht wäre, aber das ist er nicht. Ein Hauch von Hypochondrie liegt über den Seiten, ein exzessives Beobachten der eigenen Anfälligkeit, dessen Ehrlichkeit entwaffnend ist. Dazu gehören auch die Schilderungen der vereinsamten Mutter (Auster erfährt erst im Alter von fünfundfünfzig Jahren, dass sie seinem Vater untreu war), der Augenblicke von Sprachlosigkeit, Verlust und Tod. Das Gegengewicht dazu bildet Austers lässiger Humor, ein fast staunendes Konstatieren von Pech und Widrigkeiten. Der schwere Autounfall, den der Schriftsteller in späteren Jahren aus Unachtsamkeit provoziert, bringt ihn dazu, sich nie wieder hinters Steuer zu setzen. Gefährlich an seinem Leben sind jetzt vor allem die Zigarillos, von denen er nicht lassen kann.
Das Herzstück des Buches, zumindest für diesen Leser, ist der Teil, in dem Auster auf fünfzig Seiten alle Wohnungen und Häuser durchgeht, in denen er jemals gewohnt hat - "einundzwanzig ständige Wohnsitze von der Geburt bis zur Gegenwart, auch wenn ständig kaum das richtige Wort zu sein scheint, wenn du bedenkst, wie oft du im Lauf deines Lebens umgezogen bist".
Das Umziehen und Sicheinrichten, die Probleme mit Lärm, Heizungen oder Nachbarn bilden die Klammer für die entscheidenden Veränderungen im Leben. Indem er vom Wohnen spricht, kann er von seiner Scheidung erzählen, seinem jüdischen Selbstverständnis (das so schwach entwickelt ist, dass Auster im Ausland vermutlich nicht einmal als jüdischer Schriftsteller wahrgenommen wird) und schließlich auch von der Frau seines Lebens, mit der er seit mehr als dreißig Jahren verheiratet ist: Siri Hustvedt, ebenfalls Schriftstellerin und ebenfalls erfolgreich.
"Eure politischen Ansichten waren identisch", schreibt er mit der typischen Mischung aus Demut und Dankbarkeit, wenn er von Siri spricht, "die Bücher, an denen euch etwas lag, waren größtenteils identisch, und ihr hattet ähnliche Erwartungen an das, was das Leben euch geben sollte: Liebe, Arbeit und Kinder - Geld und Besitz erst weit unten auf der Liste." Natürlich hilft es, wenn sich die eigene Vita im mehrfachen Sinn dem Muster romantischer Erfüllung fügt: das richtige Mädchen erobert, zum berühmten Schriftsteller geworden, eine bildschöne und begabte Tochter gezeugt. Aber es muss so etwas wie Veranlagung geben, eine Fähigkeit, das Glück zu suchen und keine Kompromisse an der falschen Stelle zu machen. "Winterjournal" verschweigt allenfalls den Werdegang von Daniel, dem Kind aus erster Ehe. Nach Internetquellen soll Paul Austers 1977 geborener Sohn wegen eines Diebstahldelikts zu einer fünfjährigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt worden sein. Doch über ihn erfährt man vom Vater nichts.
Eine persönliche Anmerkung. Nach den ersten sechs Auster-Romanen habe ich Mitte der neunziger Jahre aufgehört, Paul Auster zu lesen. Schuld war der verplauderte Roman "Mr. Vertigo". Manchmal trifft man als Leser solche Entscheidungen und nimmt in Kauf, dass sie ungerecht sein könnten. Ich dachte, es sei genug. Doch dieses siebte Auster-Buch der autobiographischen Etüden hat wieder Spaß gemacht. Ich weiß nicht, ob es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist, dass ich mich gleich wieder in seinen Sätzen zu Hause fühlte, die der tapfere Werner Schmitz schon seit mehr als zwei Jahrzehnten, Buch auf Buch, mit Können und Inspiration übersetzt.
Irgendwann tauchte in meiner Erinnerung auch wieder der Mann von Mitte vierzig auf, der Paul Auster bei seinem mutmaßlich ersten Frankfurter Buchmessenbesuch war - groß, dunkelhaarig, von blendendem Aussehen, mit Jeans und schwarzer Lederjacke, ein höflicher, neugieriger Gesprächspartner, der Camel rauchte und mit einigem Amüsement zur Kenntnis nahm, dass Oliver Sacks von dem Café aus, in dem wir saßen, in den Garten floh, um dort bei ziemlicher Kälte, aber annehmbarer Atemluft Hof zu halten. Paul Auster blieb lieber drinnen und rauchte seine Zigaretten. Wer den damaligen Schriftsteller getroffen hat und sich fragen mag, wie es ihm in der Zwischenzeit ergangen ist, bekommt mit dem "Winterjournal" die Antwort. Sie lautet: Paul Auster hat sein Leben genutzt.
PAUL INGENDAAY
Paul Auster: "Winterjournal".
Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reinbek 2013. 254 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Paul Auster ist einfach genial. Haruki Murakami