Der Ausbruch der Covid-Pandemie setzte im März 2020 einem Aufenthalt Maria Stepanovas im britischen Cambridge ein Ende. Zurück in Russland, verbrachte sie die folgenden Monate in einem Zustand der Erstarrung - die Welt hatte sich vor ihr zurückgezogen, die Zeit war »ertaubt«. Als sie aus diesem Zustand auftauchte, begann sie Ovid zu lesen. Motive fanden zueinander, die lange in ihr gewartet hatten. Wie schon in Der Körper kehrt wieder verwandelt sie historische und aktuelle Kataklysmen in ein ungemein feingliedriges, bewegliches Gebilde aus Rhythmen und Stimmen.
Das Poem, das in einer rauschhaften poetischen Inspiration entstand, spricht vom Winter und vom Krieg, von Verbannung und Exil, von sozialer Isolation und existentieller Verlassenheit. Stepanova findet grandiose Bilder für das Verstummen: wenn etwa Worte, die wir einander zurufen, in der Luft gefrieren und unser Gegenüber nicht mehr erreichen. Das Werk verwebt Liebesbriefe und Reiseberichte, chinesische Verse und dänische Märchen in eine vielstimmige Beschwörung der gefrorenen und langsam auftauenden Zeit.
Das Poem, das in einer rauschhaften poetischen Inspiration entstand, spricht vom Winter und vom Krieg, von Verbannung und Exil, von sozialer Isolation und existentieller Verlassenheit. Stepanova findet grandiose Bilder für das Verstummen: wenn etwa Worte, die wir einander zurufen, in der Luft gefrieren und unser Gegenüber nicht mehr erreichen. Das Werk verwebt Liebesbriefe und Reiseberichte, chinesische Verse und dänische Märchen in eine vielstimmige Beschwörung der gefrorenen und langsam auftauenden Zeit.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Marie Luise Knott bewundert "große Zartheit" und "rauschhafte Inspiration" in diesem Gedichtband der russischen Dichterin Maria Stepanova. Die Gedichte entstanden während des Lockdowns, den Stepanova auf ihrer verschneiten Datscha verbrachte, lesen wir, in einem Moment des Stillstands also. Einen "Hallraum" für die Erfahrung der Isolation fand die Lyrikerin in Ovids Gedichten aus der Verbannung, die sie als Zitat neben Texten von Puschkin und Mandelstam, und vielen anderen kunstvoll in ihre Lyrik einwebt, so die Kritikerin. Im zweiten Teil lässt die Dichterin die Stimmen mythologischer Frauenfiguren wie Penelope und Ariadne hörbar werden. Die Kritikerin hat ihre Freude daran, wie Stepanova Pathetisches in "koboldeskem Spiel" dekonstruiert und lobt darüber hinaus, wie Übersetzerin Olga Radetzkaja Stepanovas Sprache "mit enormer Kraft" ins Deutsche überträgt.
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»Vieles in Winterpoem 20/21 ist von großer Zartheit und im Wechsel mit rauschhafter inspiration.« Marie Luise Knott Frankfuter Allgemeine Zeitung 20230614
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.06.2023Der Gegenwart die Stirn bieten
Auf der Parade der toten Dinge: Maria Stepanova legt den Band "Winterpoem 20/21" vor
Poesie sei ein Ereignis, auch wenn es nichts bewirke, zitierte die russisch-jüdische Dichterin Maria Stepanova jüngst in Leipzig den Dichter W.H. Auden. Denn Poesie, darin sind sich nicht nur die Dichter einig, ist aus anderem Holz gemacht. Und auch wenn sie Kriege nicht beenden kann, so kann sie vielleicht mit den ihr eigenen Mitteln imperiale Sprachgesten zersetzen. Von Zersetzung jedenfalls war auch in Leipzig die Rede, wo Stepanova dieses Jahr mit dem Preis für Europäische Verständigung ausgezeichnet wurde. Der Krieg, der in ihren Gedichten widerhallt, ist nicht der heutige Krieg, aber ihre Sprach-zersetzungen sind ganz von heute und von hoher Kunst.
Maria Stepanova gilt derzeit als eine der wichtigsten Stimmen Russlands. 1972 in Moskau geboren, erlebte sie in ihrer Jugend die Hoffnungen von Glasnost, bevor unter Putin das Zerbröseln der Zukunft begann, das Anwachsen von Hass und Angst, der rasante Anstieg patriotischer Beschwörungen und eine zunehmende Aushöhlung der Sprache im öffentlichen Raum. Als würde, sagte sie einmal, eine jahrzehntelang in den hintersten Winkeln des Bewusstseins vergrabene Vergangenheit plötzlich als Parade der toten Dinge durch die Straßen ziehen.
Tatsächlich paradieren durch ihre Verse Wesen einer anderen Art, denn Stepanova unterminiert alles Pathos mit Humor und Sarkasmus, mit lyrisch Liedhaftem und mit koboldeskem Spiel. So auch in ihrem jüngsten, soeben erschienenen Band "Winterpoem 20/21". Zu Beginn des Lockdowns, im März 2020, sah sich die weltreisende Dichterin angesichts der Pandemie zur Isolation auf ihrer moskaunahen Datsche gezwungen. Ein Zustand der Erstarrung. Die Zeit war "ertaubt". Rundherum Schnee, Kälte, Stille. Ovids Verse aus der Verbannung, jene literarischen Topoi der Verlassenheit und des Stillstands der Zeit, boten ihr ein existenzielles Echo der eigenen Erfahrungen. Motive und Rhythmen fanden einander.
Doch wo Ovid einst Leid und Unrecht beklagte, nimmt Stepanova dessen Bilder - und nicht nur seine - als Folie, um der eigenen Isolation einen Hallraum zu verschaffen. Auch der Sehnsucht nach dem früheren sorgloseren Leben, die wir alle kennen: "Könnte ich denken, dächte ich zum Beispiel an unseren / Lorbeer im Garten, im Regen, das Licht in den Fenstern. / (...) / Oder ich stellte mir vor, voller Angst, wie ich dich umarme / Und meine Hand deinen Rücken nicht wiedererkennt, / Tastend über ein Schulterblatt fährt, dann stockt -"
Vieles in "Winterpoem 20/21" ist von großer Zartheit und im Wechsel mit rauschhafter Inspiration. Und weil Gedichte in den Augen Stepanovas nichts anderes tun, als miteinander zu sprechen, hat sie zahlreiche Quellen, Rhythmen und Klänge in ihr Poem hineingewoben: neben Puschkin und Mandelstam vor allem Liebesbriefe und Reiseberichte, chinesische Dichtkunst und dänische Märchen. Sie alle beschwören die gefrorene Zeit. Wie in einem bösen Märchen, dem man am liebsten nur schnell wieder entronnen wäre, liegt die Welt dieses Winterpoems im Bann eines bösen Fluchs.
Die Arbeit am Gedächtnis durchzieht das Werk dieser Dichterin. In einem Land wie Russland, in dem - so die Propaganda - die Vergangenheit die Zukunft beherrscht und definiert, ja, sich ihr nachgerade aufzwingt, ist die Frage, welche Gewalt die Vergangenheit über uns hat, zentral. Stepanovas Kunst geht weiter. Sie fragt danach, welche Kraft wir der Vergangenheit geben wollen und wie man die Betrachtung der Vergangenheit den imperialen Klauen entreißen und re-pluralisieren kann. Eine politische und eine poetische Frage zugleich, die Stepanova auch ästhetisch in den Blick nimmt. Vielleicht ist es gerade die alle Logik aufbrechende Kraft der Poesie, die neue Zugänge zur Vergangenheit und somit zur Zukunft legen kann. Eine Auflösung des lyrischen Ichs, welche die Stimmen der Einzelnen nicht aufgibt.
Während im ersten Teil von "Winterpoem 20/21" Ovids Texte aus der Verbannung das Ausgangsmotiv bilden, kommen im zweiten Teil Frauenstimmen zu Wort - Briefe einsamer und verlassener Frauen aus der griechischen und römischen Mythologie, darunter Penelope, Dido und Ariadne, die schon in Ovids Heroiden zu Wort kamen. Ein kriegerisches Vokabular durchtränkt bei Stepanova viele der weiblichen Äußerungen: "Bei mir ist alles in bester Schlachtordnung", notiert etwa eine, die hier A. genannt wird. Und später im Buch schreibt Dido an Aeneas: "Wer warst du schon, ein Flüchtling warst du, der nicht mehr weiß, wie er heißt." Stepanova lässt die Frauengestalten der Geschichte gegen die ihnen von männlicher Geschichtsschreibung zugewiesenen Rollen rebellieren und besorgt ihnen ein alltägliches unheroisches Selbstbewusstsein.
Es kennzeichnet große Werke der Literatur seit je, dass es den Autorinnen oder Autoren gelingt, aus der Vorstellung von Vergangenheit und Zukunft herauszuspringen und so auch das Diktat der Gegenwart zu schwächen. Eine solche Art "zeitlose Zeit" erschafft Stepanova nicht zuletzt dadurch, dass sie mit der ihr eigenen poetischen Unbedingtheit allen Welten und Zeiten Raum bietet. Olga Radetzkaja, die schon Stepanovas Roman "Nach dem Gedächtnis" übertragen hat, holt dies mit enormer Kraft ins Deutsche.
Die jeder Gewalt misstrauende, alle Herrschaft zersetzende Fabulierkunst des Lügenbarons Münchhausen bildet nicht von ungefähr ein Leitmotiv in "Winterpoem 20/21". Durch "aristophanischen Witz" und eine "gaukelnde Einbildungskraft", welche Karl Immermann einst auch dem Baron attestierte, befreit sich der Zeitgeist von den eigenen Fesseln. Der Augenblick ist nicht länger nur ein Atom der Zeit, sondern - eben auch - ein Moment der Ewigkeit. "Lebte einst ein Hase mit seiner Fuchsfrau / Am blauen Meeresstrand / In einem alten Erdbau / Bis sich was Besseres fand:" beginnt eines der Klangfragmente märchenhaft. Ja: auf dass sich bessere Zeiten finden. MARIE LUISE KNOTT
Maria Stepanova: "Winterpoem 20/21".
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 120 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf der Parade der toten Dinge: Maria Stepanova legt den Band "Winterpoem 20/21" vor
Poesie sei ein Ereignis, auch wenn es nichts bewirke, zitierte die russisch-jüdische Dichterin Maria Stepanova jüngst in Leipzig den Dichter W.H. Auden. Denn Poesie, darin sind sich nicht nur die Dichter einig, ist aus anderem Holz gemacht. Und auch wenn sie Kriege nicht beenden kann, so kann sie vielleicht mit den ihr eigenen Mitteln imperiale Sprachgesten zersetzen. Von Zersetzung jedenfalls war auch in Leipzig die Rede, wo Stepanova dieses Jahr mit dem Preis für Europäische Verständigung ausgezeichnet wurde. Der Krieg, der in ihren Gedichten widerhallt, ist nicht der heutige Krieg, aber ihre Sprach-zersetzungen sind ganz von heute und von hoher Kunst.
Maria Stepanova gilt derzeit als eine der wichtigsten Stimmen Russlands. 1972 in Moskau geboren, erlebte sie in ihrer Jugend die Hoffnungen von Glasnost, bevor unter Putin das Zerbröseln der Zukunft begann, das Anwachsen von Hass und Angst, der rasante Anstieg patriotischer Beschwörungen und eine zunehmende Aushöhlung der Sprache im öffentlichen Raum. Als würde, sagte sie einmal, eine jahrzehntelang in den hintersten Winkeln des Bewusstseins vergrabene Vergangenheit plötzlich als Parade der toten Dinge durch die Straßen ziehen.
Tatsächlich paradieren durch ihre Verse Wesen einer anderen Art, denn Stepanova unterminiert alles Pathos mit Humor und Sarkasmus, mit lyrisch Liedhaftem und mit koboldeskem Spiel. So auch in ihrem jüngsten, soeben erschienenen Band "Winterpoem 20/21". Zu Beginn des Lockdowns, im März 2020, sah sich die weltreisende Dichterin angesichts der Pandemie zur Isolation auf ihrer moskaunahen Datsche gezwungen. Ein Zustand der Erstarrung. Die Zeit war "ertaubt". Rundherum Schnee, Kälte, Stille. Ovids Verse aus der Verbannung, jene literarischen Topoi der Verlassenheit und des Stillstands der Zeit, boten ihr ein existenzielles Echo der eigenen Erfahrungen. Motive und Rhythmen fanden einander.
Doch wo Ovid einst Leid und Unrecht beklagte, nimmt Stepanova dessen Bilder - und nicht nur seine - als Folie, um der eigenen Isolation einen Hallraum zu verschaffen. Auch der Sehnsucht nach dem früheren sorgloseren Leben, die wir alle kennen: "Könnte ich denken, dächte ich zum Beispiel an unseren / Lorbeer im Garten, im Regen, das Licht in den Fenstern. / (...) / Oder ich stellte mir vor, voller Angst, wie ich dich umarme / Und meine Hand deinen Rücken nicht wiedererkennt, / Tastend über ein Schulterblatt fährt, dann stockt -"
Vieles in "Winterpoem 20/21" ist von großer Zartheit und im Wechsel mit rauschhafter Inspiration. Und weil Gedichte in den Augen Stepanovas nichts anderes tun, als miteinander zu sprechen, hat sie zahlreiche Quellen, Rhythmen und Klänge in ihr Poem hineingewoben: neben Puschkin und Mandelstam vor allem Liebesbriefe und Reiseberichte, chinesische Dichtkunst und dänische Märchen. Sie alle beschwören die gefrorene Zeit. Wie in einem bösen Märchen, dem man am liebsten nur schnell wieder entronnen wäre, liegt die Welt dieses Winterpoems im Bann eines bösen Fluchs.
Die Arbeit am Gedächtnis durchzieht das Werk dieser Dichterin. In einem Land wie Russland, in dem - so die Propaganda - die Vergangenheit die Zukunft beherrscht und definiert, ja, sich ihr nachgerade aufzwingt, ist die Frage, welche Gewalt die Vergangenheit über uns hat, zentral. Stepanovas Kunst geht weiter. Sie fragt danach, welche Kraft wir der Vergangenheit geben wollen und wie man die Betrachtung der Vergangenheit den imperialen Klauen entreißen und re-pluralisieren kann. Eine politische und eine poetische Frage zugleich, die Stepanova auch ästhetisch in den Blick nimmt. Vielleicht ist es gerade die alle Logik aufbrechende Kraft der Poesie, die neue Zugänge zur Vergangenheit und somit zur Zukunft legen kann. Eine Auflösung des lyrischen Ichs, welche die Stimmen der Einzelnen nicht aufgibt.
Während im ersten Teil von "Winterpoem 20/21" Ovids Texte aus der Verbannung das Ausgangsmotiv bilden, kommen im zweiten Teil Frauenstimmen zu Wort - Briefe einsamer und verlassener Frauen aus der griechischen und römischen Mythologie, darunter Penelope, Dido und Ariadne, die schon in Ovids Heroiden zu Wort kamen. Ein kriegerisches Vokabular durchtränkt bei Stepanova viele der weiblichen Äußerungen: "Bei mir ist alles in bester Schlachtordnung", notiert etwa eine, die hier A. genannt wird. Und später im Buch schreibt Dido an Aeneas: "Wer warst du schon, ein Flüchtling warst du, der nicht mehr weiß, wie er heißt." Stepanova lässt die Frauengestalten der Geschichte gegen die ihnen von männlicher Geschichtsschreibung zugewiesenen Rollen rebellieren und besorgt ihnen ein alltägliches unheroisches Selbstbewusstsein.
Es kennzeichnet große Werke der Literatur seit je, dass es den Autorinnen oder Autoren gelingt, aus der Vorstellung von Vergangenheit und Zukunft herauszuspringen und so auch das Diktat der Gegenwart zu schwächen. Eine solche Art "zeitlose Zeit" erschafft Stepanova nicht zuletzt dadurch, dass sie mit der ihr eigenen poetischen Unbedingtheit allen Welten und Zeiten Raum bietet. Olga Radetzkaja, die schon Stepanovas Roman "Nach dem Gedächtnis" übertragen hat, holt dies mit enormer Kraft ins Deutsche.
Die jeder Gewalt misstrauende, alle Herrschaft zersetzende Fabulierkunst des Lügenbarons Münchhausen bildet nicht von ungefähr ein Leitmotiv in "Winterpoem 20/21". Durch "aristophanischen Witz" und eine "gaukelnde Einbildungskraft", welche Karl Immermann einst auch dem Baron attestierte, befreit sich der Zeitgeist von den eigenen Fesseln. Der Augenblick ist nicht länger nur ein Atom der Zeit, sondern - eben auch - ein Moment der Ewigkeit. "Lebte einst ein Hase mit seiner Fuchsfrau / Am blauen Meeresstrand / In einem alten Erdbau / Bis sich was Besseres fand:" beginnt eines der Klangfragmente märchenhaft. Ja: auf dass sich bessere Zeiten finden. MARIE LUISE KNOTT
Maria Stepanova: "Winterpoem 20/21".
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 120 S., geb., 22,- Euro.
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