Jessup Dolly taucht unter, als der Winter kommt. Seiner Familie, die in bitterarmen Verhältnissen im Hinterland von Missouri lebt, fehlt es an allem. Sie haben kaum etwas zu essen und nicht einmal genug Feuerholz, um das Haus warm zu halten. Aufopferungsvoll kümmert sich Jessups sechzehnjährige Tochter Ree um ihre pflegebedürftige Mutter und die beiden jüngeren Brüder. Doch dann passiert das Unvermeidliche. Die Polizei steht vor der Tür und teilt Ree mit, dass ihr Vater, der schon einmal wegen Drogengeschäften im Gefängnis war und nun erneut unter Anklage steht, das Haus für seine Kaution verpfändet hat. Wenn Jessup nicht bei Gericht erscheint, verliert seine Familie alles, was sie hat. Ree bleibt eine Woche Zeit, um ihren Vater zu finden tot oder lebendig.
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Süddeutsche ZeitungVERBRECHEN & AUFKLÄRUNG
Ein Eichhörnchen häuten
Die Kälte ist der erste Eindruck in diesem Buch; der zweite ist der Anblick von Kadavern, die an Bäumen baumeln: Wild, das draußen hängt, damit der erste Hauch von Verwesung den Geschmack verbessert. Ree Dolly, die Heldin dieser Geschichte, erspäht die Nahrung wie ein Tier; und wie ein Tier riecht sie den Schnee, der kommen wird – eine Sechzehnjährige mit guten Instinkten und einem Körper, „der dazu geschaffen war, dem Nötigsten hinterherzuspringen“.
Ein toughes Mädchen. Jennifer Lawrence hat es gespielt, in Debra Graniks vielfach preisgekröntem Film „Winter’s Bone“, der nach der gleichnamigen Vorlage von Daniel Woodrell entstand. Nach dem Erfolg des Films liegt nun endlich eine deutsche Übersetzung des Romans vor. „Winters Knochen“ (aus dem Englischen von Peter Torberg. Liebeskind, München 2011. 224 Seiten, 18,90 Euro) ist ein packender Krimi und Neo-Western, verführerisch schön geschrieben, dabei so wuchtig wie ein Faustschlag.
Zimperlich war schon der Film nicht, seine Romanvorlage ist es noch weniger. Ree kann austeilen – harte, abwehrende Sätze vor allem, wenn ihr oder ihrer Familie jemand zu nahe kommt. Und sie kann einstecken; mehr, als ein sechzehnjähriges Mädchen einstecken sollte. Als Ree erfährt, dass ihr Vater Jessup, der beste Crystal-Meth-Koch der Gegend, verhaftet wurde und ihr Haus für seine Kaution verpfändet hat, weiß sie, dass sie ihn finden muss bis zur Gerichtsverhandlung, tot oder lebendig. Und selbst dann, wenn das einigen Leuten aus der Gegend nicht passt. Sonst landen Ree, ihre jüngeren Brüder Sonny und Harold und ihre in einen geistigen Dämmerzustand geflohene, pflegebedürftige Mutter auf der Straße. „Wie Köter“, sagt Ree. „Wie verdammte Köter.“
Wie man sein Haus verteidigt, das ist natürlich ein Western-Motiv, das Haus die Manifestation der frontier, der Zivilisationsgrenze, die man in diesem Buch immer wieder gut wahrnehmen kann. Angesiedelt ist die Geschichte in den Ozarks, einer abgelegenen Region im Bundesstaat Missouri. Woodrell ist selbst dort aufgewachsen und später wieder hingezogen mit seiner Frau, alle seine Romane spielen dort. Zwar wird in „Winters Knochen“ ein Schulbus erwähnt, der Rees Brüder jeden Morgen abholt. Es gibt einen Ort am anderen Ende der holprigen Straße, die zum Haus der Dollys führt, einem Supermarkt und all das. Wie fern die moderne Welt dennoch ist, spürt der Leser, als diese in Rees Leben plötzlich auftaucht, wie ein Laptop im Pleistozän, in Form von Entspannungs-Kassetten, die der psychisch kranken Mutter verordnet wurden und die nun Ree regelmäßig hört: „Sanftes Meeresrauschen zur Entspannung“, „Morgendämmerung in den Tropen“ oder „Abend in den Bergen“. Als hauchdünner Faden verbinden sie eine Welt der Wellnessbehandlungen und Psychotherapien mit Rees archaischem, bitterarmen Siedlerleben.
Wer amerikanisches Wählerverhalten, die Diskrepanz zwischen Ost- und Westküste und dem „Herzland“ in der Mitte, nie ganz begriffen hat, versteht nach der Lektüre von „Winters Knochen“ mehr. „Das Gesetz“, womit zunächst der örtliche Polizeibeamte gemeint ist, gilt bei den Dollys, Lockrums, Boshells oder Tankerlys im Tal nicht viel. Sie leben nach eigenen Regeln, zu denen auch gehört, dass es Schlimmeres gibt als den Tod: ein blöder letzter Satz etwa oder jemanden an das Gesetz zu verpfeifen. Wer für das Verschwinden von Rees Vater verantwortlich ist, muss in einer solchen Gesellschaft im Dunklen bleiben. Deshalb kann „Winters Knochen“ auch kein Whodunit sein, besteht der Krimiplot schließlich in der Suche nach einer Leiche.
Mit einer ganz und gar illusionslosen, unsentimentalen Sympathie porträtiert Woodrell das ländliche Amerika, mit all seiner sozialen Härte – aber auch mit einer Figur im Zentrum, die unvergesslich bleibt. Ree sieht sich selbst in der Tradition der amerikanischen Pioniere, und an die Siedlerfrauen des Westerns erinnern ihr Pragmatismus und eine ganz erstaunliche Menschlichkeit. „Winters Knochen“ ist eine Geschichte vom Überleben, im wörtlichen und im übertragenen Sinn, die frontier ist ja immer auch eine innere Zivilisationsgrenze. Ein paar nützliche Tipps für die Wildnis gibt es außerdem, etwa wie man ein Eichhörnchen häutet. MARTINA KNOBEN
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Ein Eichhörnchen häuten
Die Kälte ist der erste Eindruck in diesem Buch; der zweite ist der Anblick von Kadavern, die an Bäumen baumeln: Wild, das draußen hängt, damit der erste Hauch von Verwesung den Geschmack verbessert. Ree Dolly, die Heldin dieser Geschichte, erspäht die Nahrung wie ein Tier; und wie ein Tier riecht sie den Schnee, der kommen wird – eine Sechzehnjährige mit guten Instinkten und einem Körper, „der dazu geschaffen war, dem Nötigsten hinterherzuspringen“.
Ein toughes Mädchen. Jennifer Lawrence hat es gespielt, in Debra Graniks vielfach preisgekröntem Film „Winter’s Bone“, der nach der gleichnamigen Vorlage von Daniel Woodrell entstand. Nach dem Erfolg des Films liegt nun endlich eine deutsche Übersetzung des Romans vor. „Winters Knochen“ (aus dem Englischen von Peter Torberg. Liebeskind, München 2011. 224 Seiten, 18,90 Euro) ist ein packender Krimi und Neo-Western, verführerisch schön geschrieben, dabei so wuchtig wie ein Faustschlag.
Zimperlich war schon der Film nicht, seine Romanvorlage ist es noch weniger. Ree kann austeilen – harte, abwehrende Sätze vor allem, wenn ihr oder ihrer Familie jemand zu nahe kommt. Und sie kann einstecken; mehr, als ein sechzehnjähriges Mädchen einstecken sollte. Als Ree erfährt, dass ihr Vater Jessup, der beste Crystal-Meth-Koch der Gegend, verhaftet wurde und ihr Haus für seine Kaution verpfändet hat, weiß sie, dass sie ihn finden muss bis zur Gerichtsverhandlung, tot oder lebendig. Und selbst dann, wenn das einigen Leuten aus der Gegend nicht passt. Sonst landen Ree, ihre jüngeren Brüder Sonny und Harold und ihre in einen geistigen Dämmerzustand geflohene, pflegebedürftige Mutter auf der Straße. „Wie Köter“, sagt Ree. „Wie verdammte Köter.“
Wie man sein Haus verteidigt, das ist natürlich ein Western-Motiv, das Haus die Manifestation der frontier, der Zivilisationsgrenze, die man in diesem Buch immer wieder gut wahrnehmen kann. Angesiedelt ist die Geschichte in den Ozarks, einer abgelegenen Region im Bundesstaat Missouri. Woodrell ist selbst dort aufgewachsen und später wieder hingezogen mit seiner Frau, alle seine Romane spielen dort. Zwar wird in „Winters Knochen“ ein Schulbus erwähnt, der Rees Brüder jeden Morgen abholt. Es gibt einen Ort am anderen Ende der holprigen Straße, die zum Haus der Dollys führt, einem Supermarkt und all das. Wie fern die moderne Welt dennoch ist, spürt der Leser, als diese in Rees Leben plötzlich auftaucht, wie ein Laptop im Pleistozän, in Form von Entspannungs-Kassetten, die der psychisch kranken Mutter verordnet wurden und die nun Ree regelmäßig hört: „Sanftes Meeresrauschen zur Entspannung“, „Morgendämmerung in den Tropen“ oder „Abend in den Bergen“. Als hauchdünner Faden verbinden sie eine Welt der Wellnessbehandlungen und Psychotherapien mit Rees archaischem, bitterarmen Siedlerleben.
Wer amerikanisches Wählerverhalten, die Diskrepanz zwischen Ost- und Westküste und dem „Herzland“ in der Mitte, nie ganz begriffen hat, versteht nach der Lektüre von „Winters Knochen“ mehr. „Das Gesetz“, womit zunächst der örtliche Polizeibeamte gemeint ist, gilt bei den Dollys, Lockrums, Boshells oder Tankerlys im Tal nicht viel. Sie leben nach eigenen Regeln, zu denen auch gehört, dass es Schlimmeres gibt als den Tod: ein blöder letzter Satz etwa oder jemanden an das Gesetz zu verpfeifen. Wer für das Verschwinden von Rees Vater verantwortlich ist, muss in einer solchen Gesellschaft im Dunklen bleiben. Deshalb kann „Winters Knochen“ auch kein Whodunit sein, besteht der Krimiplot schließlich in der Suche nach einer Leiche.
Mit einer ganz und gar illusionslosen, unsentimentalen Sympathie porträtiert Woodrell das ländliche Amerika, mit all seiner sozialen Härte – aber auch mit einer Figur im Zentrum, die unvergesslich bleibt. Ree sieht sich selbst in der Tradition der amerikanischen Pioniere, und an die Siedlerfrauen des Westerns erinnern ihr Pragmatismus und eine ganz erstaunliche Menschlichkeit. „Winters Knochen“ ist eine Geschichte vom Überleben, im wörtlichen und im übertragenen Sinn, die frontier ist ja immer auch eine innere Zivilisationsgrenze. Ein paar nützliche Tipps für die Wildnis gibt es außerdem, etwa wie man ein Eichhörnchen häutet. MARTINA KNOBEN
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