Die russische Exilorganisation NTS ("Volksbund der Schaffenden") gehört zu den geheimnisvollsten Akteuren in der Ära des Kalten Krieges. Sie wurde 1930 auf dem Balkan gegründet, um den bewaffneten Aufstand gegen die Stalin-Diktatur einzuläuten. 1952 verlegte sie ihren Hauptsitz nach Frankfurt am Main. Ihr 1945 gegründeter Verlag "Possev" ("Die Aussaat") veröffentlichte Literatur, die in der UdSSR verboten war, und schmuggelte sie dorthin. Die Studie ist die erste wissenschaftliche Gesamtdarstellung dieser Exilorganisation von ihrer Gründung bis heute. Sie stützt sich auf eine Fülle von bisher kaum ausgewerteten Quellen - auch der auf beiden Seiten involvierten Geheimdienste. Die Geschichte des NTS lässt sich als Lehrstück über die Ambivalenzen des antitotalitären Widerstands lesen, aber auch als Chronik der jahrzehntelang gescheiterten Liberalisierung Russlands.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Zwei Möglichkeiten gebe es, so Rezensent Viktor Funk, sich Matthias Vetters Buch über den "Volksbund der Vertriebenen" (gebräuchliches Akronym: NTS), eine russische Exilantenorganisation, zu nähern: als akademische Arbeit und als Spannungsliteratur. Denn es gelingt dem Historiker, die Geschichte des offiziell 1930 gegründeten NTS auf mitreißende Art und Weise zu rekonstruieren, versichert der Rezensent. Das Buch zeige auf, dass die von Gegnern der Oktoberrevolution geprägte Organisation von Anfang an viele verschiedene politische Strömungen beherbergt habe. Im Zweiten Weltkrieg schlug sich der NTS aus vorwiegend strategischen Gründen auf die Seite der Nationalsozialisten , nach dem Zweiten Weltkrieg suchte er hingegen die Nähe westlicher Geheimdienste, resümiert Funk. Als die Sowjetunion zunächst keine Anstalten machte, zusammenzubrechen, habe sich die Organisation, immer mehr in interne Grabenkämpfe verstrickt. Besonders interessieren Funk Figuren wie der im NTS aktive Philosoph Iwan Iljin, dessen nationalistisches Gedankengut auch Wladimir Putin geprägt habe. Überhaupt sei Vetters Buch hervorragend dafür geeignet, die Gedankenwelt und politischen Frontstellungen des gegenwärtigen Russland zu erschließen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.05.2023Moleküle für ein nichtsowjetisches Russland
Ein Werk zum in Frankfurt exilierten "Volksbund der Schaffenden" regt zum Nachdenken über Heutiges an.
Matthias Vetter betritt durch ein Tor einen Hinterhof in Frankfurt-Sossenheim. Vor einer Baracke bleibt er stehen und erblickt ein kleines Schild mit kyrillischen Buchstaben. "Possev" und "NTS" steht auf ihm. Was er hier vorfinde, wirke auf den ersten Blick wie eines der vielen russischen Kulturzentren, schreibt der Autor in seiner szenischen Einleitung. Doch tatsächlich sei das Gebäude hier am Frankfurter Stadtrand ein historischer Ort, eine der "Kommandozentralen" in der Ost-West-Auseinandersetzung des Kalten Krieges.
Hinter der Abkürzung NTS verbirgt sich der 1930 gegründete "Volksbund der Schaffenden", Possev heißt sein Verlag. Bis zum Zerfall der Sowjetunion verstand sich der NTS als revolutionäre Organisation von Russen, die das kommunistische System nicht bloß reformieren, sondern stürzen wollten. Obwohl sie die meiste Zeit im Exil lebten, genossen sie vonseiten des sowjetischen Sicherheitsapparats höchste Aufmerksamkeit. 1967 erklärte der damalige KGB-Chef Jurij Andropow, "besonders gefährliche Gegner" seien die CIA und "die russische Emigranten-Organisation NTS".
In einer Zeit, in der der russische Präsident Wladimir Putin einen Angriffskrieg auf das Nachbarland Ukraine orchestriert, weckt eine russische Gruppierung, die gegen ein totalitäres Regime in Moskau kämpfte, Phantasien. Umso wichtiger ist es, dass der Autor schon in der Entstehungsgeschichte das ambivalente Verhältnis des NTS zu anderen autoritären und totalitären Entwürfen beleuchtet. Die den Bund leitende Ideologie des Solidarismus sah sich als Alternative zu Kommunismus und Kapitalismus. Ein Vordenker schrieb von einer "autoritären Demokratie neuen Typs". Westlicher Rationalismus war dem NTS suspekt. Ebenso bekannten sich die ersten Grundsätze auf eine "Fortsetzung der traditionellen Politik Russlands, die auf eine möglichst enge politische und kulturelle Einheit der Slawen abzielt".
Entschieden wehrt sich der Autor aber gegen die Unterstellung, der NTS sei ein "faschistischer" Bund gewesen. Zutreffend merkt er an, dass "Faschismus" ein Attribut gewesen sei, den die sowjetische Propaganda allen Feinden anhängte. Die Parallelen zu heutigen Moskauer Verlautbarungen sind unverkennbar. Tatsächlich bleibt aber vor allem für die Zeit des Zweiten Weltkriegs ein Schatten über der Organisation. So zählte ihr während des Krieges verabschiedetes Programm, das sogenannte "Schema", Juden nicht zur "Russländischen Nation". In der Praxis noch schwerwiegender war die Kollaboration einzelner NTS-Mitglieder während deutscher Besatzungsherrschaft. Auch hier gelingt dem Autor die Einordnung, wenn er schreibt, dass hinter dem weitestgehenden Kollaborationsakt, dem Hitler-Stalin-Pakt, die Sowjetmacht selbst stand. Und in den Jahren 1943 und 1944 gingen deutsche Organe hart gegen den NTS vor. Gleichwohl flohen die meisten der russischen Solidaristen vor der heranrückenden Sowjetarmee in den Westen. 1952 schlug der NTS sein Domizil in Frankfurt auf. Statt Aufarbeitung stand nun aber neue Agitation im Vordergrund. Nun hoffte der Bund, dem Sowjetsystem im Bündnis mit dem Westen den Garaus zu machen. Landungen von Fallschirmspringern, Flugblattabwürfe von Ballonen oder Störsender: Die exilierten Regimegegner ließen nichts unversucht, um in der Heimat die "Moleküle" zu aktivieren, die nach der vom NTS propagierten Theorie eine Bewegung bilden sollten, ohne miteinander verbunden zu sein. Früh wurde aber deutlich, dass die westlichen Geheimdienste zwar phasenweise mit den ewigen Revolutionären kooperierten, sie in den Hauptstädten aber auch als Störfaktoren galten.
Der Rückgang geopolitischer Konfrontation wie die Entstalinisierung in der Sowjetunion zwangen den NTS, seine Mittel zu verändern. Der Autor hebt bei aller Entschlossenheit im Ziel des Systemwechsels auch den Pragmatismus des Bundes in seinen Methoden hervor. So versuchte er sich in der Annäherung an die Dissidenten, die für evolutionäre Veränderungen des sozialistischen Systems statt für dessen Sturz eintraten. Dabei kam verstärkt der Possev-Verlag ins Spiel, der sogenanntes "Tamisdat" verbreitete. Damit war der massenhafte Druck von in der Sowjetunion im Selbstverlag erschienenen Werken gemeint. Doch Autoren wie Alexander Solschenizyn gaben dafür teilweise keine Zustimmung. Missgunst gab es, wie diese Episode zeigt, auch unter Gegnern der Sowjetdiktatur.
Gorbatschows Perestrojka betrachteten die Solidaristen nicht mit Begeisterung, aber als einen möglichen "Übergang zu einem posttotalitären Leben". Illusionen über abermaligen Widerstand gegen eine Diktatur unterbindet der Autor schließlich dadurch, in dem er darlegt, wie sich NTS-Vertreter zumindest in der Anfangsphase der Herrschaft Wladimir Putins positiv über dessen Politik äußerten. Mittlerweile dürfte aber irrelevant sein, was der Bund, dessen Abkürzung auf Russisch auch für "Wir bringen den Tyrannen den Tod" steht, über die neue Moskauer Tyrannei denkt. On- und offline ist kaum noch Aktivität feststellbar. Der Autor dieser so faktenreichen wie ansprechend erzählten Darstellung ist aber dennoch davon überzeugt, dass die Erinnerung an die antistalinistische Tradition einen Beitrag für eine tiefgreifende Aufarbeitung russischer Irrwege bieten kann. Zum Nachdenken über Gegenwärtiges regt sie auf alle Fälle an. NIKLAS ZIMMERMANN
Matthias Vetter: "Wir bringen den Tyrannen den Tod." Die russische Exilorganisation NTS im Kampf mit der Sowjetunion.
Metropol Verlag, Berlin 2022. 328 S., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Werk zum in Frankfurt exilierten "Volksbund der Schaffenden" regt zum Nachdenken über Heutiges an.
Matthias Vetter betritt durch ein Tor einen Hinterhof in Frankfurt-Sossenheim. Vor einer Baracke bleibt er stehen und erblickt ein kleines Schild mit kyrillischen Buchstaben. "Possev" und "NTS" steht auf ihm. Was er hier vorfinde, wirke auf den ersten Blick wie eines der vielen russischen Kulturzentren, schreibt der Autor in seiner szenischen Einleitung. Doch tatsächlich sei das Gebäude hier am Frankfurter Stadtrand ein historischer Ort, eine der "Kommandozentralen" in der Ost-West-Auseinandersetzung des Kalten Krieges.
Hinter der Abkürzung NTS verbirgt sich der 1930 gegründete "Volksbund der Schaffenden", Possev heißt sein Verlag. Bis zum Zerfall der Sowjetunion verstand sich der NTS als revolutionäre Organisation von Russen, die das kommunistische System nicht bloß reformieren, sondern stürzen wollten. Obwohl sie die meiste Zeit im Exil lebten, genossen sie vonseiten des sowjetischen Sicherheitsapparats höchste Aufmerksamkeit. 1967 erklärte der damalige KGB-Chef Jurij Andropow, "besonders gefährliche Gegner" seien die CIA und "die russische Emigranten-Organisation NTS".
In einer Zeit, in der der russische Präsident Wladimir Putin einen Angriffskrieg auf das Nachbarland Ukraine orchestriert, weckt eine russische Gruppierung, die gegen ein totalitäres Regime in Moskau kämpfte, Phantasien. Umso wichtiger ist es, dass der Autor schon in der Entstehungsgeschichte das ambivalente Verhältnis des NTS zu anderen autoritären und totalitären Entwürfen beleuchtet. Die den Bund leitende Ideologie des Solidarismus sah sich als Alternative zu Kommunismus und Kapitalismus. Ein Vordenker schrieb von einer "autoritären Demokratie neuen Typs". Westlicher Rationalismus war dem NTS suspekt. Ebenso bekannten sich die ersten Grundsätze auf eine "Fortsetzung der traditionellen Politik Russlands, die auf eine möglichst enge politische und kulturelle Einheit der Slawen abzielt".
Entschieden wehrt sich der Autor aber gegen die Unterstellung, der NTS sei ein "faschistischer" Bund gewesen. Zutreffend merkt er an, dass "Faschismus" ein Attribut gewesen sei, den die sowjetische Propaganda allen Feinden anhängte. Die Parallelen zu heutigen Moskauer Verlautbarungen sind unverkennbar. Tatsächlich bleibt aber vor allem für die Zeit des Zweiten Weltkriegs ein Schatten über der Organisation. So zählte ihr während des Krieges verabschiedetes Programm, das sogenannte "Schema", Juden nicht zur "Russländischen Nation". In der Praxis noch schwerwiegender war die Kollaboration einzelner NTS-Mitglieder während deutscher Besatzungsherrschaft. Auch hier gelingt dem Autor die Einordnung, wenn er schreibt, dass hinter dem weitestgehenden Kollaborationsakt, dem Hitler-Stalin-Pakt, die Sowjetmacht selbst stand. Und in den Jahren 1943 und 1944 gingen deutsche Organe hart gegen den NTS vor. Gleichwohl flohen die meisten der russischen Solidaristen vor der heranrückenden Sowjetarmee in den Westen. 1952 schlug der NTS sein Domizil in Frankfurt auf. Statt Aufarbeitung stand nun aber neue Agitation im Vordergrund. Nun hoffte der Bund, dem Sowjetsystem im Bündnis mit dem Westen den Garaus zu machen. Landungen von Fallschirmspringern, Flugblattabwürfe von Ballonen oder Störsender: Die exilierten Regimegegner ließen nichts unversucht, um in der Heimat die "Moleküle" zu aktivieren, die nach der vom NTS propagierten Theorie eine Bewegung bilden sollten, ohne miteinander verbunden zu sein. Früh wurde aber deutlich, dass die westlichen Geheimdienste zwar phasenweise mit den ewigen Revolutionären kooperierten, sie in den Hauptstädten aber auch als Störfaktoren galten.
Der Rückgang geopolitischer Konfrontation wie die Entstalinisierung in der Sowjetunion zwangen den NTS, seine Mittel zu verändern. Der Autor hebt bei aller Entschlossenheit im Ziel des Systemwechsels auch den Pragmatismus des Bundes in seinen Methoden hervor. So versuchte er sich in der Annäherung an die Dissidenten, die für evolutionäre Veränderungen des sozialistischen Systems statt für dessen Sturz eintraten. Dabei kam verstärkt der Possev-Verlag ins Spiel, der sogenanntes "Tamisdat" verbreitete. Damit war der massenhafte Druck von in der Sowjetunion im Selbstverlag erschienenen Werken gemeint. Doch Autoren wie Alexander Solschenizyn gaben dafür teilweise keine Zustimmung. Missgunst gab es, wie diese Episode zeigt, auch unter Gegnern der Sowjetdiktatur.
Gorbatschows Perestrojka betrachteten die Solidaristen nicht mit Begeisterung, aber als einen möglichen "Übergang zu einem posttotalitären Leben". Illusionen über abermaligen Widerstand gegen eine Diktatur unterbindet der Autor schließlich dadurch, in dem er darlegt, wie sich NTS-Vertreter zumindest in der Anfangsphase der Herrschaft Wladimir Putins positiv über dessen Politik äußerten. Mittlerweile dürfte aber irrelevant sein, was der Bund, dessen Abkürzung auf Russisch auch für "Wir bringen den Tyrannen den Tod" steht, über die neue Moskauer Tyrannei denkt. On- und offline ist kaum noch Aktivität feststellbar. Der Autor dieser so faktenreichen wie ansprechend erzählten Darstellung ist aber dennoch davon überzeugt, dass die Erinnerung an die antistalinistische Tradition einen Beitrag für eine tiefgreifende Aufarbeitung russischer Irrwege bieten kann. Zum Nachdenken über Gegenwärtiges regt sie auf alle Fälle an. NIKLAS ZIMMERMANN
Matthias Vetter: "Wir bringen den Tyrannen den Tod." Die russische Exilorganisation NTS im Kampf mit der Sowjetunion.
Metropol Verlag, Berlin 2022. 328 S., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main