"Seit einiger Zeit scheint Europa vergessen zu haben, dass es aus Epen und Utopien hervorgegangen ist." Der französische Autor weiß da Abhilfe. In einem langen Poem hält er den Ländern Europas den Spiegel vor - in ungewöhnlicher Form präsentiert Gaudé eine Verteidigungsrede der besonderen Art: "die europäische Erzählung, eine Geschichte aus Begeisterung, Wut und Freude ..."
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.11.2021Der Kontinent
am Abgrund
Laurent Gaudé versucht sich
an einem Versepos über die EU
Europa, ein Gedicht? Warum denn nicht? Die vielen Nationalstaaten, die das Mosaik des Kontinents bilden, berufen sich ja bis heute auf identitätsstiftende Literatur: Die Italiener auf Dante, die Deutschen auf Goethe, die Portugiesen auf Camões und der Finne Elias Lönnrot erfand im 19. Jahrhundert sogar kurzerhand ein Nationalepos, denn ohne ging es einfach nicht. In diese Tradition möchte sich der französische Schriftsteller Laurent Gaudé mit seinem Gedicht „Wir, Europa“ stellen. Nicht nur in der Geste, sondern ganz explizit möchte er als Europäer „unser gemeinsames Epos“ erzählen.
Wobei Europa für ihn in erster Linie bedeutet: die Europäische Union, nicht die geografische Weltregion von Istanbul bis Reykjavík. Da könnte man schon einwenden, dass Europa ja auch maßgeblich von Ländern wie der Schweiz, Norwegen und Großbritannien geprägt wird, die kein Teil der EU (mehr) sind. Aber es geht Gaudé eben um eine Art verspätetes, literarisches Gründungsmanifest.
Er beginnt mit dem Aufschwung des Nationalismus im 19. Jahrhundert und der Industriellen Revolution, schließlich ging die EU ja aus der Montanunion hervor. „Daraus wurden wir geboren / Kinder der Industrialisierung / und der Herrschaft der Maschinen.“ Starke Bilder werden aufgerufen, die aber, da es historisch noch mehr als ein halbes Jahrhundert dauert bis zur Gründung der EU, einen sehr weiten Rahmen spannen: Soll es doch nicht nur um die Völkergemeinschaft gehen?
Tatsächlich erzählt das Gedicht zum größten Teil gar nicht von der EU, sondern vom Ersten Weltkrieg, vom Zweiten Weltkrieg und den Diktaturen der Nachkriegszeit. Europa als fortwährende Katastrophe? Warum das denn? Klar spielten die Kriege und der Totalitarismus eine wichtige Rolle für Europa und eigentlich ist es ein starker Gedanke, den Gaudé später auch ausformuliert: Europa als der Kontinent, der den Abgrund kennt. Aber die EU beruft sich doch nicht nur auf Katastrophen und die Industrialisierung, auch wenn das Zyniker vielleicht so sehen mögen.
Zu dieser inhaltlich einseitigen Sicht kommen einige handwerkliche Probleme. Gaudés meist simple Verse lesen sich oft wie Phrasen aus dem Geschichtsbuch und viele Bildern sind schief geraten: „In der einen Hand Elektrizität, in der anderen der Absinth.“ Die Rolle des Absinths für Europa lässt sich aber kaum ins Gleichgewicht mit der Einführung des Stroms bringen. Und Frauen kommen grundsätzlich nur beim Putzen und ähnlichem vor oder zeigen, wie Josephine Baker, ihren Busen. Gaudés Epos scheitert an solchen Klischees, den vielen Ungenauigkeiten und seinem unklar umrissenen Thema. Aber vielleicht ist auch die ganze Idee eines Nationalepos etwas aus der Zeit gefallen.
NICOLAS FREUND
Laurent Gaudé:
Wir, Europa.
Fest der Völker.
Aus dem Französischen von Margret Millischer.
Edition Fototapeta,
Berlin 2021.
144 Seiten, 15 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
am Abgrund
Laurent Gaudé versucht sich
an einem Versepos über die EU
Europa, ein Gedicht? Warum denn nicht? Die vielen Nationalstaaten, die das Mosaik des Kontinents bilden, berufen sich ja bis heute auf identitätsstiftende Literatur: Die Italiener auf Dante, die Deutschen auf Goethe, die Portugiesen auf Camões und der Finne Elias Lönnrot erfand im 19. Jahrhundert sogar kurzerhand ein Nationalepos, denn ohne ging es einfach nicht. In diese Tradition möchte sich der französische Schriftsteller Laurent Gaudé mit seinem Gedicht „Wir, Europa“ stellen. Nicht nur in der Geste, sondern ganz explizit möchte er als Europäer „unser gemeinsames Epos“ erzählen.
Wobei Europa für ihn in erster Linie bedeutet: die Europäische Union, nicht die geografische Weltregion von Istanbul bis Reykjavík. Da könnte man schon einwenden, dass Europa ja auch maßgeblich von Ländern wie der Schweiz, Norwegen und Großbritannien geprägt wird, die kein Teil der EU (mehr) sind. Aber es geht Gaudé eben um eine Art verspätetes, literarisches Gründungsmanifest.
Er beginnt mit dem Aufschwung des Nationalismus im 19. Jahrhundert und der Industriellen Revolution, schließlich ging die EU ja aus der Montanunion hervor. „Daraus wurden wir geboren / Kinder der Industrialisierung / und der Herrschaft der Maschinen.“ Starke Bilder werden aufgerufen, die aber, da es historisch noch mehr als ein halbes Jahrhundert dauert bis zur Gründung der EU, einen sehr weiten Rahmen spannen: Soll es doch nicht nur um die Völkergemeinschaft gehen?
Tatsächlich erzählt das Gedicht zum größten Teil gar nicht von der EU, sondern vom Ersten Weltkrieg, vom Zweiten Weltkrieg und den Diktaturen der Nachkriegszeit. Europa als fortwährende Katastrophe? Warum das denn? Klar spielten die Kriege und der Totalitarismus eine wichtige Rolle für Europa und eigentlich ist es ein starker Gedanke, den Gaudé später auch ausformuliert: Europa als der Kontinent, der den Abgrund kennt. Aber die EU beruft sich doch nicht nur auf Katastrophen und die Industrialisierung, auch wenn das Zyniker vielleicht so sehen mögen.
Zu dieser inhaltlich einseitigen Sicht kommen einige handwerkliche Probleme. Gaudés meist simple Verse lesen sich oft wie Phrasen aus dem Geschichtsbuch und viele Bildern sind schief geraten: „In der einen Hand Elektrizität, in der anderen der Absinth.“ Die Rolle des Absinths für Europa lässt sich aber kaum ins Gleichgewicht mit der Einführung des Stroms bringen. Und Frauen kommen grundsätzlich nur beim Putzen und ähnlichem vor oder zeigen, wie Josephine Baker, ihren Busen. Gaudés Epos scheitert an solchen Klischees, den vielen Ungenauigkeiten und seinem unklar umrissenen Thema. Aber vielleicht ist auch die ganze Idee eines Nationalepos etwas aus der Zeit gefallen.
NICOLAS FREUND
Laurent Gaudé:
Wir, Europa.
Fest der Völker.
Aus dem Französischen von Margret Millischer.
Edition Fototapeta,
Berlin 2021.
144 Seiten, 15 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Nicolas Freund hält Laurent Gaudes Idee eines Nationalepos der EU für überholt. Hinzu kommt für Freund, dass der Autor seine Verse über die Entwicklung der EU aus der Montanunion, über die vielen Kriege und Krisen erstens etwas einseitig katastrophisch anlegt und zweitens auch handwerklich nicht überzeugt. Schiefe Bilder, phrasenhafte Verse, Klischees und Ungenauigkeiten ziehen sich durch dieses unzeitgemäße Gedicht, kritisiert der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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