»Judith Hermanns Bücher sind unbeirrbare Erkundungen der menschlichen Verhältnisse.« Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung
Eine Kindheit in unkonventionellen Verhältnissen, das geteilte Berlin, Familienbande und Wahlverwandtschaften, lange, glückliche Sommer am Meer. Judith Hermann spricht über ihr Schreiben und ihr Leben, über das, was Schreiben und Leben zusammenhält und miteinander verbindet. Wahrheit, Erfindung und Geheimnis - Wo beginnt eine Geschichte und wo hört sie auf? Wie verlässlich ist unsere Erinnerung, wie nah sind unsere Träume an der Wirklichkeit.
Wie in ihren Romanen und Erzählungen fängt Judith Hermann ein ganzes Lebensgefühl ein: Mit klarer poetischer Stimme erzählt sie von der empfindsamen Mitte des Lebens, von Freundschaft, Aufbruch und Freiheit.
Eine Kindheit in unkonventionellen Verhältnissen, das geteilte Berlin, Familienbande und Wahlverwandtschaften, lange, glückliche Sommer am Meer. Judith Hermann spricht über ihr Schreiben und ihr Leben, über das, was Schreiben und Leben zusammenhält und miteinander verbindet. Wahrheit, Erfindung und Geheimnis - Wo beginnt eine Geschichte und wo hört sie auf? Wie verlässlich ist unsere Erinnerung, wie nah sind unsere Träume an der Wirklichkeit.
Wie in ihren Romanen und Erzählungen fängt Judith Hermann ein ganzes Lebensgefühl ein: Mit klarer poetischer Stimme erzählt sie von der empfindsamen Mitte des Lebens, von Freundschaft, Aufbruch und Freiheit.
Bestimmte Dinge kunstvoll zu verschweigen und dem Ausgesprochenen damit so etwas wie Tiefendimensionen zu verleihen [...] Ein raffiniertes Stilmittel. Günter Kaindlstorfer Österreichischer Rundfunk, Ö1 (Ex libris) 20230528
Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
Im besten Sinne "ziemlich uncool" findet Rezensent Dirk von Petersdorff Judith Hermanns Frankfurter Poetikvorlesungen, die ihm einen Einblick geben in die schöpferische Kraft, die die Autorin dem Erzählen idealistisch zuschreibt. Dass sie zwischen Erzähldrang und dem nicht Sagbaren einen Kompromiss findet und von ihrer schwierigen Kindheit, einer Psychoanalyse oder einem verstorbenen Freund schreibt und den eigentlichen Kern des Geschehen dabei immer nur umreißen kann, macht für ihn eine große Faszination und Stärke in Hermanns Werk aus. Auch wenn die Vorlesungen private Themen behandeln, sind für Petersdorff dennoch in vielerlei Hinsicht auch allgemeinere Schlussfolgerungen und Gegenwartsdiagnose möglich. Den Auftrag, mit ihren Poetikvorlesungen "Interessantes zur Gegenwartsliteratur" beizutragen, hat sie auf jeden Fall erfüllt, findet er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.03.2023Das Verschweigen des Eigentlichen
Auf der Suche nach den Quellen ihres Sounds: Judith Hermanns Frankfurter Poetikvorlesungen
Seit Beginn ihrer literarischen Laufbahn wird Judith Hermann ein besonderer Sound zugeschrieben. Ihrer Ausdrucksweise haftet trotz zahlreicher Analysen, Besprechungen, Lesungen und Interviews stets etwas Unergründliches an, und es scheint ihr gelungen zu sein, das als stilistisches Wiedererkennungspotential für sich wirksam zu machen. Aus diesem Grund dürfte den Frankfurter Poetikvorlesungen Hermanns - die schon als Veranstaltungen im Mai 2022 gut besucht waren und jetzt unter dem Titel "Wir hätten uns alles gesagt" erschienen sind - größere Aufmerksamkeit zuteilwerden. Sie könnten über Literaturkritik und -wissenschaft hinaus Hermanns große Leserschaft interessieren: auf der Suche danach, was den Sound ihrer gefeierten Autorin ausmacht.
Bereits Hermanns literarisches Debüt "Sommerhaus, später" brachte 1998 die deutsche Literaturszene in Aufruhr, paradoxerweise durch den auffallend ruhigen Erzählton. Noch dazu geschrieben von einer jungen Frau! Man sprach mit einem Fünfzigerjahre-Begriff vom "Fräuleinwunder". Doch trotz allen Zweifels daran, dass auch junge Frauen zu großer Literatur fähig sind, hörte Hermann nicht mit dem Schreiben auf. Nach zwei weiteren Erzählbänden erschien 2014 ihr Romandebüt, "Aller Liebe Anfang", 2016 der Erzählband "Lettipark" und 2021 ihr jüngster Roman "Daheim".
Zum fünfundzwanzigjährigen Jubiläum von Hermanns Debüt lädt diese Veröffentlichung nun dazu ein, der Autorin am Schreibtisch über die Schulter zu schauen. Als intime Werkstattführung inszeniert Hermann die Poetikvorlesungen jedenfalls im Vorwort: "Die Arbeit an dieser Vorlesung ist nicht einfach gewesen. Auf dem Weg von ihrem Anfang bis zu einem Ende hin ist unerwartet Privates im Text aufgetaucht, es wird sich zeigen, ob das zu bereuen ist." Tatsächlich sind einige aufgenommene Erinnerungen ausgefallen persönlich für diese Autorin.
In gewohntem erzählerischen Duktus erzählt Hermann Geschichten aus ihrer Kindheit, jungen Erwachsenenzeit und auch jüngsten Vergangenheit während der Pandemie in deren Frühphase 2020. Es geht beispielsweise um die Wohnung, das "Trauerhaus", in dem sie als Kleinkind gelebt hat, zusammen mit ihrer Brotsuppe kochenden russischen Oma, dem manisch-depressiven Vater und der meist abwesenden Mutter, die sich um den Verdienst der Familie kümmerte. Die Wohnung erlebte Hermann dabei als Geheimnis, was zum einen daran lag, dass alles mit rätselhaften Dingen vollgestellt war, zum anderen daran, dass ihr Vater ihr mit großer Ernsthaftigkeit Geistergeschichten erzählte wie die vom "Untermieter, einem Kleinwüchsigen", der im Hängeboden lebte. Die ihr vom Vater gebaute Puppenstube war dann eine Art Urgeschichte für Hermann, sie vermutet, dass "alle meine Geschichten in der Puppenstube angefangen haben". Solche Kindheitserinnerungen sind für ihr Schreiben bedeutsam: "Mein Schreiben ist an diese frühen Jahre gebunden."
Spätere Geschichten aus ihrem Leben handeln etwa davon, wie sie ihren Psychoanalytiker nach abgeschlossener Behandlung zufällig in einer Kneipe wiedertrifft. Mit der Erinnerung an diese Begegnung eröffnet Hermann ganz unvermittelt die Vorlesungen und führt damit beispielhaft aus, wie ihre Geschichten vom eigenen Leben inspiriert sind. Ihr "Schreiben imitiert Leben", allerdings nicht dokumentarisch als exakte Übernahme, vielmehr als Inspiration für ein Motiv, eine Figur oder ein Ereignis. Der Analytiker sei die Vorlage für die Figur des Dr. Gupka in der Erzählung "Träume" aus "Lettipark" gewesen, und als Hermann ihrem Analytiker wiederbegegnete, wollte sie von ihm erfahren, was er von der Erzählung über ihn halte. Sein Fazit bringt Hermanns Autofiktionsverständnis auf den Punkt: "Was für eine unermüdliche Detailarbeit, alles so geschickt zu entfremden, zu entstellen, dass am Ende nichts mehr richtig ist, aber alles wahr."
Die Geschichten zu "Menschen und Situationen, die das Schreiben beeinflusst haben", in den Poetikvorlesungen, seien solche, die Hermann nicht literarisch verarbeiten konnte. Absurderweise sagen gerade diese nicht geschriebenen Geschichten etwas über ihr Schreiben aus; die Poetikvorlesungen bestimmen den Erzählstil ex negativo. Das führt zu Hermanns zentralem poetischen Prinzip: den Leerstellen. Es sind diese mit den Worten der Autorin "Geheimnisse" oder "Gespenster", die Geschichten erzählenswert machen, ihnen die Eindeutigkeit nehmen und eine Interpretation vonseiten der Leser ermöglichen oder sogar erzwingen. Und einige Situationen oder Geschichten aus Hermanns Leben enthalten dieses Potential zur Leerstelle eben nicht: "Sie haben kein Geheimnis. Sie sind eindeutig, eine Wahrheit, an diesen Sätzen gibt es nichts zu rütteln."
Wie treffsicher Hermanns Leerstellen-Prinzip funktioniert, lässt sich an ihrem letzten Roman "Daheim" erkennen. Bereits in der Rahmenerzählung, in der die Hauptfigur von ihrer Tätigkeit in einer Zigarettenfabrik und dem Angebot, als Assistentin eines Zauberers nach Singapur zu fahren, erzählt, tut sich eine Lücke nach der anderen auf. Warum die Protagonistin handelt, was ihre Motive sind, bleibt offen - angefangen bei ihren Lebens- und Arbeitsumständen hin zu dem Umstand, dass sie bereitwillig eine Probe als Zauberassistentin mitmacht, ihre Sachen für Singapur packt, die Wohnung ausräumt und sich schließlich doch gegen die Reise entscheidet. Hermann überlässt die Ausgestaltung der Antwort ihren Lesern.
Auch in ihren Poetikvorlesungen bleiben einige Leerstellen offen. Hermann verliert beispielsweise kaum ein Wort darüber, dass es meist die kurzen Formen sind, die ihr Schreiben bestimmen. Das "Befreiende, Beglückende" an diesen kürzeren Erzählungen gegenüber dem Roman benennt Hermann zwar, aber führt es kaum aus, verweist nur auf ihre bereits bekannten angloamerikanischen Vorbilder Hemingway, Carver und Updike oder das spezifische "scharf gestellte, frostige Schlagschlicht einer Short Story, die irgendwo beginnt, etwas einfängt, wieder abbricht, bevor es zu Conclusion und Fazit kommen kann". Doch zu mehr als diesen knappen Umschreibungen kommt es nicht. Warum Hermann die kurze Form bevorzugt, verrät sie nicht. Ähnlich verhält es sich mit ihrem Bezug zur Lyrik: Die Autorin erzählt auch von Gedichten, die Menschen beeinflusst haben, so beispielsweise ein Vers aus Gottfried Benns "Rauhreif". Warum Hermann allerdings selbst das narrative Schreiben dem poetischen vorzieht, bleibt vage.
Etwas konkreter wird die Autorin, wenn sie ihren Schreibprozess, insbesondere die Entstehung einer Geschichte, beschreibt, die bei ihr immer über einen Initialsatz führt: "Ich höre diesen Satz, und das Hören ist begleitet von einer nur sekundenlangen, aber eindeutigen und unmittelbar körperlichen Empfindung." Hermann findet also intuitiv zu ihren Erzählstoffen, indem sie ein Motiv aus ihrem Leben aufgreift und es zur Geschichte ausbaut. Der Satz stellt dann im Verborgenen einen Teil ihrer Geschichte dar, denn sie möchte ihn als Kern ihrer Erzählungen "zeigen und zugleich verbergen"; was schließlich dazu führt, dass Hermanns Literatur Wesenszüge eines Rätsels annimmt beziehungsweise eines "geteilten Rätsels" - wenn ihre Leser den Initialsatz gefunden haben.
Ein Motiv, auf das Hermann oft zurückgreift, ist die Parallelisierung vom Schreiben und Träumen. Ihr Schreibimpuls begründe sich durch ihre Traumlosigkeit: "Oder andersherum - vielleicht träume ich nicht, weil ich schreibe." Hier schließt sich der Kreis, denn das träumerische Schreiben Hermanns begründet wiederum ihr Verständnis von autofiktionaler Literatur, die sich einerseits am eigenen Leben orientiert und andererseits Leerstellen offen-, Geheimnisse und Gespenster verborgen lässt.
"Das Verschweigen des Eigentlichen zieht sich durch alle Texte" - daraus folgt der Untertitel der Poetikvorlesungen "Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben". Doch obwohl Verschwiegenheit in diesem Genre eher untypisch ist, sind Hermanns Poetikvorlesungen erzählerisch und stilistisch gelungen und seien jedem empfohlen, der auf der Suche danach ist, was den typischen Hermann-Sound ausmacht. EMILIA KRÖGER
Judith Hermann:
"Wir hätten uns alles gesagt".
Verlag S. Fischer,
Frankfurt am Main 2023. 187 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf der Suche nach den Quellen ihres Sounds: Judith Hermanns Frankfurter Poetikvorlesungen
Seit Beginn ihrer literarischen Laufbahn wird Judith Hermann ein besonderer Sound zugeschrieben. Ihrer Ausdrucksweise haftet trotz zahlreicher Analysen, Besprechungen, Lesungen und Interviews stets etwas Unergründliches an, und es scheint ihr gelungen zu sein, das als stilistisches Wiedererkennungspotential für sich wirksam zu machen. Aus diesem Grund dürfte den Frankfurter Poetikvorlesungen Hermanns - die schon als Veranstaltungen im Mai 2022 gut besucht waren und jetzt unter dem Titel "Wir hätten uns alles gesagt" erschienen sind - größere Aufmerksamkeit zuteilwerden. Sie könnten über Literaturkritik und -wissenschaft hinaus Hermanns große Leserschaft interessieren: auf der Suche danach, was den Sound ihrer gefeierten Autorin ausmacht.
Bereits Hermanns literarisches Debüt "Sommerhaus, später" brachte 1998 die deutsche Literaturszene in Aufruhr, paradoxerweise durch den auffallend ruhigen Erzählton. Noch dazu geschrieben von einer jungen Frau! Man sprach mit einem Fünfzigerjahre-Begriff vom "Fräuleinwunder". Doch trotz allen Zweifels daran, dass auch junge Frauen zu großer Literatur fähig sind, hörte Hermann nicht mit dem Schreiben auf. Nach zwei weiteren Erzählbänden erschien 2014 ihr Romandebüt, "Aller Liebe Anfang", 2016 der Erzählband "Lettipark" und 2021 ihr jüngster Roman "Daheim".
Zum fünfundzwanzigjährigen Jubiläum von Hermanns Debüt lädt diese Veröffentlichung nun dazu ein, der Autorin am Schreibtisch über die Schulter zu schauen. Als intime Werkstattführung inszeniert Hermann die Poetikvorlesungen jedenfalls im Vorwort: "Die Arbeit an dieser Vorlesung ist nicht einfach gewesen. Auf dem Weg von ihrem Anfang bis zu einem Ende hin ist unerwartet Privates im Text aufgetaucht, es wird sich zeigen, ob das zu bereuen ist." Tatsächlich sind einige aufgenommene Erinnerungen ausgefallen persönlich für diese Autorin.
In gewohntem erzählerischen Duktus erzählt Hermann Geschichten aus ihrer Kindheit, jungen Erwachsenenzeit und auch jüngsten Vergangenheit während der Pandemie in deren Frühphase 2020. Es geht beispielsweise um die Wohnung, das "Trauerhaus", in dem sie als Kleinkind gelebt hat, zusammen mit ihrer Brotsuppe kochenden russischen Oma, dem manisch-depressiven Vater und der meist abwesenden Mutter, die sich um den Verdienst der Familie kümmerte. Die Wohnung erlebte Hermann dabei als Geheimnis, was zum einen daran lag, dass alles mit rätselhaften Dingen vollgestellt war, zum anderen daran, dass ihr Vater ihr mit großer Ernsthaftigkeit Geistergeschichten erzählte wie die vom "Untermieter, einem Kleinwüchsigen", der im Hängeboden lebte. Die ihr vom Vater gebaute Puppenstube war dann eine Art Urgeschichte für Hermann, sie vermutet, dass "alle meine Geschichten in der Puppenstube angefangen haben". Solche Kindheitserinnerungen sind für ihr Schreiben bedeutsam: "Mein Schreiben ist an diese frühen Jahre gebunden."
Spätere Geschichten aus ihrem Leben handeln etwa davon, wie sie ihren Psychoanalytiker nach abgeschlossener Behandlung zufällig in einer Kneipe wiedertrifft. Mit der Erinnerung an diese Begegnung eröffnet Hermann ganz unvermittelt die Vorlesungen und führt damit beispielhaft aus, wie ihre Geschichten vom eigenen Leben inspiriert sind. Ihr "Schreiben imitiert Leben", allerdings nicht dokumentarisch als exakte Übernahme, vielmehr als Inspiration für ein Motiv, eine Figur oder ein Ereignis. Der Analytiker sei die Vorlage für die Figur des Dr. Gupka in der Erzählung "Träume" aus "Lettipark" gewesen, und als Hermann ihrem Analytiker wiederbegegnete, wollte sie von ihm erfahren, was er von der Erzählung über ihn halte. Sein Fazit bringt Hermanns Autofiktionsverständnis auf den Punkt: "Was für eine unermüdliche Detailarbeit, alles so geschickt zu entfremden, zu entstellen, dass am Ende nichts mehr richtig ist, aber alles wahr."
Die Geschichten zu "Menschen und Situationen, die das Schreiben beeinflusst haben", in den Poetikvorlesungen, seien solche, die Hermann nicht literarisch verarbeiten konnte. Absurderweise sagen gerade diese nicht geschriebenen Geschichten etwas über ihr Schreiben aus; die Poetikvorlesungen bestimmen den Erzählstil ex negativo. Das führt zu Hermanns zentralem poetischen Prinzip: den Leerstellen. Es sind diese mit den Worten der Autorin "Geheimnisse" oder "Gespenster", die Geschichten erzählenswert machen, ihnen die Eindeutigkeit nehmen und eine Interpretation vonseiten der Leser ermöglichen oder sogar erzwingen. Und einige Situationen oder Geschichten aus Hermanns Leben enthalten dieses Potential zur Leerstelle eben nicht: "Sie haben kein Geheimnis. Sie sind eindeutig, eine Wahrheit, an diesen Sätzen gibt es nichts zu rütteln."
Wie treffsicher Hermanns Leerstellen-Prinzip funktioniert, lässt sich an ihrem letzten Roman "Daheim" erkennen. Bereits in der Rahmenerzählung, in der die Hauptfigur von ihrer Tätigkeit in einer Zigarettenfabrik und dem Angebot, als Assistentin eines Zauberers nach Singapur zu fahren, erzählt, tut sich eine Lücke nach der anderen auf. Warum die Protagonistin handelt, was ihre Motive sind, bleibt offen - angefangen bei ihren Lebens- und Arbeitsumständen hin zu dem Umstand, dass sie bereitwillig eine Probe als Zauberassistentin mitmacht, ihre Sachen für Singapur packt, die Wohnung ausräumt und sich schließlich doch gegen die Reise entscheidet. Hermann überlässt die Ausgestaltung der Antwort ihren Lesern.
Auch in ihren Poetikvorlesungen bleiben einige Leerstellen offen. Hermann verliert beispielsweise kaum ein Wort darüber, dass es meist die kurzen Formen sind, die ihr Schreiben bestimmen. Das "Befreiende, Beglückende" an diesen kürzeren Erzählungen gegenüber dem Roman benennt Hermann zwar, aber führt es kaum aus, verweist nur auf ihre bereits bekannten angloamerikanischen Vorbilder Hemingway, Carver und Updike oder das spezifische "scharf gestellte, frostige Schlagschlicht einer Short Story, die irgendwo beginnt, etwas einfängt, wieder abbricht, bevor es zu Conclusion und Fazit kommen kann". Doch zu mehr als diesen knappen Umschreibungen kommt es nicht. Warum Hermann die kurze Form bevorzugt, verrät sie nicht. Ähnlich verhält es sich mit ihrem Bezug zur Lyrik: Die Autorin erzählt auch von Gedichten, die Menschen beeinflusst haben, so beispielsweise ein Vers aus Gottfried Benns "Rauhreif". Warum Hermann allerdings selbst das narrative Schreiben dem poetischen vorzieht, bleibt vage.
Etwas konkreter wird die Autorin, wenn sie ihren Schreibprozess, insbesondere die Entstehung einer Geschichte, beschreibt, die bei ihr immer über einen Initialsatz führt: "Ich höre diesen Satz, und das Hören ist begleitet von einer nur sekundenlangen, aber eindeutigen und unmittelbar körperlichen Empfindung." Hermann findet also intuitiv zu ihren Erzählstoffen, indem sie ein Motiv aus ihrem Leben aufgreift und es zur Geschichte ausbaut. Der Satz stellt dann im Verborgenen einen Teil ihrer Geschichte dar, denn sie möchte ihn als Kern ihrer Erzählungen "zeigen und zugleich verbergen"; was schließlich dazu führt, dass Hermanns Literatur Wesenszüge eines Rätsels annimmt beziehungsweise eines "geteilten Rätsels" - wenn ihre Leser den Initialsatz gefunden haben.
Ein Motiv, auf das Hermann oft zurückgreift, ist die Parallelisierung vom Schreiben und Träumen. Ihr Schreibimpuls begründe sich durch ihre Traumlosigkeit: "Oder andersherum - vielleicht träume ich nicht, weil ich schreibe." Hier schließt sich der Kreis, denn das träumerische Schreiben Hermanns begründet wiederum ihr Verständnis von autofiktionaler Literatur, die sich einerseits am eigenen Leben orientiert und andererseits Leerstellen offen-, Geheimnisse und Gespenster verborgen lässt.
"Das Verschweigen des Eigentlichen zieht sich durch alle Texte" - daraus folgt der Untertitel der Poetikvorlesungen "Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben". Doch obwohl Verschwiegenheit in diesem Genre eher untypisch ist, sind Hermanns Poetikvorlesungen erzählerisch und stilistisch gelungen und seien jedem empfohlen, der auf der Suche danach ist, was den typischen Hermann-Sound ausmacht. EMILIA KRÖGER
Judith Hermann:
"Wir hätten uns alles gesagt".
Verlag S. Fischer,
Frankfurt am Main 2023. 187 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hermanns intimstes Buch - und ihr bestes. Christine Steffen NZZ am Sonntag 20241124
»Echt klingt ihr empfindsames Wahrnehmen jener Wirklichkeit, die durch einen Filter von Herz, Hirn und großem Talent zu Literatur wird.«