Wie der koloniale Blick unsere Sicht der Welt prägt
Die deutschen Kolonien - dieses Kapitel unserer Geschichte ist beunruhigend aktuell. Bartholomäus Grill erforscht die Spuren deutscher Fremdherrschaft in Afrika, China und der Südsee und zeigt, wie sehr uns unser rassistisches Erbe immer noch anhaftet. Denn die Klischees wirken fort, das der »hilflosen Entwicklungsländer« wie das der »bedrohlichen Afrikaner«, gerade in Zeiten verstärkter Migration. Ein brandaktuelles Debattenbuch, das Augen öffnet.
Die deutschen Kolonien - dieses Kapitel unserer Geschichte ist beunruhigend aktuell. Bartholomäus Grill erforscht die Spuren deutscher Fremdherrschaft in Afrika, China und der Südsee und zeigt, wie sehr uns unser rassistisches Erbe immer noch anhaftet. Denn die Klischees wirken fort, das der »hilflosen Entwicklungsländer« wie das der »bedrohlichen Afrikaner«, gerade in Zeiten verstärkter Migration. Ein brandaktuelles Debattenbuch, das Augen öffnet.
»So kann man nur hoffen, dass sein Buch (...) im breiten Publikum die Leserschaft findet, die es verdient.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, Andreas Kilb
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.04.2019Überforderte Militärs stehen nicht gleich für einen Völkermord
Weißwürste in Togo, Soldatenrenten in Tansania: Bartholomäus Grill reist auf den Spuren der deutschen Kolonialgeschichte durch Afrika
Der Kolonialismus ist das große neue Thema in der Kultur. Wer auf der Welle des Zeitgeists reiten will, muss lautstark die historischen Verbrechen der Europäer in Übersee anprangern und gleich im nächsten Satz die konsequente Rückgabe aller erbeuteten oder "asymmetrisch" erworbenen - also möglichst aller - Objekte in den ethnologischen Museen an ihre Herkunftsländer fordern. Dabei wissen die wenigsten, die so daherreden, wie es in den ehemaligen Kolonien heute tatsächlich aussieht oder zu Kolonialzeiten ausgesehen hat. Bartholomäus Grill weiß es genau. Der langjährige Afrika-Korrespondent der "Zeit" und jetzige Berichterstatter des "Spiegels" lebt seit 1993 in Südafrika und hat den schwarzen Kontinent in alle Richtungen bereist. Schon deshalb lohnt es sich, sein Buch über die deutsche Kolonialgeschichte in Afrika (mit zwei angehängt wirkenden Kapiteln über Tsingtao und Neuguinea) zu lesen.
Denn bei Grill ist alles Anschauung. Wenn er über die Askari schreibt, die einheimischen Söldner der deutschen Schutztruppe im heutigen Tansania, dann fasst er kein Buchwissen zusammen, sondern erzählt von seinem Besuch bei einem fast hundertjährigen Greis, der noch 1995 das Treuegeld des Auswärtigen Amts für afrikanische Kriegsveteranen empfängt, weil er achtzig Jahre vorher unter Paul von Lettow-Vorbeck in der Schlacht bei Tanga gegen die Briten gekämpft hat. In Lomé in Togo isst Grill Weißwürste bei einem Metzger, der sein Handwerk in Rosenheim gelernt hat, in Moshi am Kilimandscharo sucht er mit den Dorfbewohnern nach den Überresten eines von den Deutschen hingerichteten Wachagga-Anführers, und in Windhoek befragt er Kuaima Ruruako, den umstrittenen Chief der Herero. Wenn Grill schreibt, dass ein Berg in Togo früher "Pickelhaube" hieß und das neue namibische Nationalmuseum ein mit Heldenkitsch gefüllter Klotz ist, kann man sich darauf verlassen, dass es stimmt.
Das gilt auch für das Eingangskapitel, in dem der Autor seine biographische Verbindung zum Thema offenlegt. Als Kind las er die Groschenheftchen der "Kolonial-Bibliothek" und die Erinnerungsbücher von Lettow-Vorbeck, Ludwig Foehse und anderen, die sein Großvater in einer Kiste auf seinem Speicher hinterlassen hatte. Die Sehnsucht nach Afrika ließ Grill nicht wieder los, auch wenn seine Gewährsleute bald andere Namen trugen, Frantz Fanon, Edward Said, J.M. Coetzee, Aimé Césaire. Mit seinem Buch will er nun "die Mär vom deutschen Kolonialidyll" widerlegen. Dabei sei ihm bewusst, so Grill, dass er auch nach drei Jahrzehnten in Afrika "das rassistische Erbe nicht einfach abschütteln" könne.
Die Lektüre bestätigt das nicht. Im Gegenteil: Überall da, wo Grill besonders antirassistisch und postkolonial erscheinen will, wird sein Ton schrill, seine Prosa predigerhaft. "Der Nazi-Schauspieler Hans Albers" spielt da den Sadisten Carl Peters im Film, die Reformpolitik der deutschen Statthalter in Kamerun hängt sich "ein humanitäres Mäntelchen" um, und beim Wechsel von der Sklaverei mit Peitsche und Folter zur Ausbeutung durch Arbeit "folgte der Pest die Cholera". Umso einprägsamer sind die Schilderungen dessen, was Grill selbst gesehen hat: die riesige Landungsbrücke von Lomé in Togo, die seit hundert Jahren vor sich hin rostet; der Polizist an der Straße nach Douala, der erklärt, er heiße Adolf, "wie Adolf Hitler"; oder die opulente Palastvilla des einstigen deutschen Gouverneurs Jesko von Puttkamer, die heute als Landsitz von Paul Biya dient, dem seit 1982 mit diktatorischen Mitteln regierenden Präsidenten von Kamerun. Es sind starke Bilder, und sie sind stark, weil sie zweideutig sind, so zweideutig wie das Verhältnis der ehemaligen Kolonien zu ihren früheren Kolonialmächten insgesamt.
Im Kapitel über Namibia nimmt das Buch eine überraschende Wendung. Grill trifft neben dem bereits erwähnten Herero-Chief Kuaima Ruruako auch David Kambazembi, einen Führer des Nama-Volkes, besucht die Schlachtfelder des Kolonialkriegs von 1904 bis 1908, redet mit Angehörigen der deutschen Siedlerminderheit - und gerät dabei unverhofft mit dem Hamburger Afrikahistoriker Jürgen Zimmerer in eine öffentliche Grundsatzdebatte, in der jener "einen Punktsieg" (Grill) davonträgt. Das Streitgespräch, das vor drei Jahren im "Spiegel" erschienen ist, kann man im Internet nachlesen.
Worum geht es? Grill hat es gewagt, die Anwendbarkeit des Völkermord-Begriffs auf die Feldzüge der deutschen Kolonialmacht gegen die aufständischen Herero und Nama in Zweifel zu ziehen. Er hat die Gegend durchfahren, in der die schwache deutsche Schutztruppe nach der Schlacht am Waterberg angeblich alle Angehörigen des Hererovolkes an der Rückkehr aus der Omaheke-Wüste hinderte und so dem Tod durch Verdursten preisgab, und er hat Unterlagen gesichtet, die das Chaos in der damaligen Militärführung offenlegen - etwa die unveröffentlichten Tagebücher jenes Generals Trotha, dessen Vernichtungsbefehl vom Oktober 1904 ("ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf") für Grill ein Dokument der Hilflosigkeit ist.
Vor allem aber steht Grill bei seinen Recherchen ein anderer Völkermord vor Augen, über den er selbst als Journalist berichtet hat: den akribisch geplanten, staatlich gelenkten Genozid an den Tutsi in Ruanda im Sommer 1994. Mit diesem Gemetzel will er die deutschen Verbrechen in Namibia nicht in einen Topf werfen. Das Vorgehen der Kolonialtruppen wurde von den Sozialdemokraten im Reichstag regelmäßig angeprangert und sogar zum Anlass für Neuwahlen (die "Hottentottenwahl" von 1907), Trotha selbst wenige Wochen nach der Proklamation seines Befehls von seinem Posten abgelöst. Die Zustände in den deutschen Lagern, etwa auf der berüchtigten Haifischinsel, wo die Hälfte der Gefangenen an Hunger und Krankheiten starb, waren katastrophal, aber kein geplanter Massenmord. Doch solche Differenzierungen will Jürgen Zimmerer nicht gelten lassen. "Es kommt auf den Vernichtungswillen an." Mit anderen Worten: Der deutsche Historiker klammert sich an die Buchstaben der Originaldokumente, während der Journalist nach der Logik des Geschehens fragt. So redet man aneinander vorbei.
Und so wird auch dieses eminent lesenswerte Buch vermutlich gerade diejenigen nicht erreichen, denen es am dringendsten zu empfehlen wäre: die Wortführer der aktuellen Debatte über die Rückgabe afrikanischer und anderer kolonialer Kulturgüter aus deutschen Museen an ihre Herkunftsländer. Bei Grill kann man lernen, dass mit Restitutionen (die er befürwortet) allein nicht das Geringste gewonnen ist, dass Federkronen und Masken kein Ersatz für Demokratie und wirtschaftliche Eigenständigkeit in Kamerun, Togo, Tansania und anderswo sein können. Aber die Fronten und Pfründen im Meinungsstreit sind offenbar derart stabil, dass eine Reporterstimme wie die von Bartholomäus Grill nur als Störung des Debattenfriedens empfunden wird. So kann man nur hoffen, dass sein Buch wenigstens im breiten Publikum die Leserschaft findet, die es verdient.
ANDREAS KILB
Bartholomäus Grill: "Wir Herrenmenschen". Unser rassistisches Erbe: Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte.
Siedler Verlag, Berlin 2019. 304 S., Abb., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Weißwürste in Togo, Soldatenrenten in Tansania: Bartholomäus Grill reist auf den Spuren der deutschen Kolonialgeschichte durch Afrika
Der Kolonialismus ist das große neue Thema in der Kultur. Wer auf der Welle des Zeitgeists reiten will, muss lautstark die historischen Verbrechen der Europäer in Übersee anprangern und gleich im nächsten Satz die konsequente Rückgabe aller erbeuteten oder "asymmetrisch" erworbenen - also möglichst aller - Objekte in den ethnologischen Museen an ihre Herkunftsländer fordern. Dabei wissen die wenigsten, die so daherreden, wie es in den ehemaligen Kolonien heute tatsächlich aussieht oder zu Kolonialzeiten ausgesehen hat. Bartholomäus Grill weiß es genau. Der langjährige Afrika-Korrespondent der "Zeit" und jetzige Berichterstatter des "Spiegels" lebt seit 1993 in Südafrika und hat den schwarzen Kontinent in alle Richtungen bereist. Schon deshalb lohnt es sich, sein Buch über die deutsche Kolonialgeschichte in Afrika (mit zwei angehängt wirkenden Kapiteln über Tsingtao und Neuguinea) zu lesen.
Denn bei Grill ist alles Anschauung. Wenn er über die Askari schreibt, die einheimischen Söldner der deutschen Schutztruppe im heutigen Tansania, dann fasst er kein Buchwissen zusammen, sondern erzählt von seinem Besuch bei einem fast hundertjährigen Greis, der noch 1995 das Treuegeld des Auswärtigen Amts für afrikanische Kriegsveteranen empfängt, weil er achtzig Jahre vorher unter Paul von Lettow-Vorbeck in der Schlacht bei Tanga gegen die Briten gekämpft hat. In Lomé in Togo isst Grill Weißwürste bei einem Metzger, der sein Handwerk in Rosenheim gelernt hat, in Moshi am Kilimandscharo sucht er mit den Dorfbewohnern nach den Überresten eines von den Deutschen hingerichteten Wachagga-Anführers, und in Windhoek befragt er Kuaima Ruruako, den umstrittenen Chief der Herero. Wenn Grill schreibt, dass ein Berg in Togo früher "Pickelhaube" hieß und das neue namibische Nationalmuseum ein mit Heldenkitsch gefüllter Klotz ist, kann man sich darauf verlassen, dass es stimmt.
Das gilt auch für das Eingangskapitel, in dem der Autor seine biographische Verbindung zum Thema offenlegt. Als Kind las er die Groschenheftchen der "Kolonial-Bibliothek" und die Erinnerungsbücher von Lettow-Vorbeck, Ludwig Foehse und anderen, die sein Großvater in einer Kiste auf seinem Speicher hinterlassen hatte. Die Sehnsucht nach Afrika ließ Grill nicht wieder los, auch wenn seine Gewährsleute bald andere Namen trugen, Frantz Fanon, Edward Said, J.M. Coetzee, Aimé Césaire. Mit seinem Buch will er nun "die Mär vom deutschen Kolonialidyll" widerlegen. Dabei sei ihm bewusst, so Grill, dass er auch nach drei Jahrzehnten in Afrika "das rassistische Erbe nicht einfach abschütteln" könne.
Die Lektüre bestätigt das nicht. Im Gegenteil: Überall da, wo Grill besonders antirassistisch und postkolonial erscheinen will, wird sein Ton schrill, seine Prosa predigerhaft. "Der Nazi-Schauspieler Hans Albers" spielt da den Sadisten Carl Peters im Film, die Reformpolitik der deutschen Statthalter in Kamerun hängt sich "ein humanitäres Mäntelchen" um, und beim Wechsel von der Sklaverei mit Peitsche und Folter zur Ausbeutung durch Arbeit "folgte der Pest die Cholera". Umso einprägsamer sind die Schilderungen dessen, was Grill selbst gesehen hat: die riesige Landungsbrücke von Lomé in Togo, die seit hundert Jahren vor sich hin rostet; der Polizist an der Straße nach Douala, der erklärt, er heiße Adolf, "wie Adolf Hitler"; oder die opulente Palastvilla des einstigen deutschen Gouverneurs Jesko von Puttkamer, die heute als Landsitz von Paul Biya dient, dem seit 1982 mit diktatorischen Mitteln regierenden Präsidenten von Kamerun. Es sind starke Bilder, und sie sind stark, weil sie zweideutig sind, so zweideutig wie das Verhältnis der ehemaligen Kolonien zu ihren früheren Kolonialmächten insgesamt.
Im Kapitel über Namibia nimmt das Buch eine überraschende Wendung. Grill trifft neben dem bereits erwähnten Herero-Chief Kuaima Ruruako auch David Kambazembi, einen Führer des Nama-Volkes, besucht die Schlachtfelder des Kolonialkriegs von 1904 bis 1908, redet mit Angehörigen der deutschen Siedlerminderheit - und gerät dabei unverhofft mit dem Hamburger Afrikahistoriker Jürgen Zimmerer in eine öffentliche Grundsatzdebatte, in der jener "einen Punktsieg" (Grill) davonträgt. Das Streitgespräch, das vor drei Jahren im "Spiegel" erschienen ist, kann man im Internet nachlesen.
Worum geht es? Grill hat es gewagt, die Anwendbarkeit des Völkermord-Begriffs auf die Feldzüge der deutschen Kolonialmacht gegen die aufständischen Herero und Nama in Zweifel zu ziehen. Er hat die Gegend durchfahren, in der die schwache deutsche Schutztruppe nach der Schlacht am Waterberg angeblich alle Angehörigen des Hererovolkes an der Rückkehr aus der Omaheke-Wüste hinderte und so dem Tod durch Verdursten preisgab, und er hat Unterlagen gesichtet, die das Chaos in der damaligen Militärführung offenlegen - etwa die unveröffentlichten Tagebücher jenes Generals Trotha, dessen Vernichtungsbefehl vom Oktober 1904 ("ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf") für Grill ein Dokument der Hilflosigkeit ist.
Vor allem aber steht Grill bei seinen Recherchen ein anderer Völkermord vor Augen, über den er selbst als Journalist berichtet hat: den akribisch geplanten, staatlich gelenkten Genozid an den Tutsi in Ruanda im Sommer 1994. Mit diesem Gemetzel will er die deutschen Verbrechen in Namibia nicht in einen Topf werfen. Das Vorgehen der Kolonialtruppen wurde von den Sozialdemokraten im Reichstag regelmäßig angeprangert und sogar zum Anlass für Neuwahlen (die "Hottentottenwahl" von 1907), Trotha selbst wenige Wochen nach der Proklamation seines Befehls von seinem Posten abgelöst. Die Zustände in den deutschen Lagern, etwa auf der berüchtigten Haifischinsel, wo die Hälfte der Gefangenen an Hunger und Krankheiten starb, waren katastrophal, aber kein geplanter Massenmord. Doch solche Differenzierungen will Jürgen Zimmerer nicht gelten lassen. "Es kommt auf den Vernichtungswillen an." Mit anderen Worten: Der deutsche Historiker klammert sich an die Buchstaben der Originaldokumente, während der Journalist nach der Logik des Geschehens fragt. So redet man aneinander vorbei.
Und so wird auch dieses eminent lesenswerte Buch vermutlich gerade diejenigen nicht erreichen, denen es am dringendsten zu empfehlen wäre: die Wortführer der aktuellen Debatte über die Rückgabe afrikanischer und anderer kolonialer Kulturgüter aus deutschen Museen an ihre Herkunftsländer. Bei Grill kann man lernen, dass mit Restitutionen (die er befürwortet) allein nicht das Geringste gewonnen ist, dass Federkronen und Masken kein Ersatz für Demokratie und wirtschaftliche Eigenständigkeit in Kamerun, Togo, Tansania und anderswo sein können. Aber die Fronten und Pfründen im Meinungsstreit sind offenbar derart stabil, dass eine Reporterstimme wie die von Bartholomäus Grill nur als Störung des Debattenfriedens empfunden wird. So kann man nur hoffen, dass sein Buch wenigstens im breiten Publikum die Leserschaft findet, die es verdient.
ANDREAS KILB
Bartholomäus Grill: "Wir Herrenmenschen". Unser rassistisches Erbe: Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte.
Siedler Verlag, Berlin 2019. 304 S., Abb., geb., 24,- [Euro].
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»Es [das Buch] ist ein Appell: Menschen aller Kulturen und Hautfarbe genau als das anzusehen, was sie sind - als Menschen.« Deutschlandfunk Kultur Buchkritik, Günther Wessel