Es ist eine Welt für sich: das Collegium Gregorianum Kahlenbeck, ein streng katholisches Jungeninternat irgendwo am Niederrhein. Hier wächst der knapp 15-jährige Carl Pacher Anfang der achtziger Jahre heran. Kahlenbeck, das ist eine spartanische Welt voller Regeln und Verbote, durchdrungen von elitärem Geist, Askese und Weltverachtung. Gleichwohl gärt unter der Oberfläche der Geist pubertärer Rebellion und herrscht unter den Jugendlichen eine gnadenlose Hackordnung, in der schwächere Schüler und Außenseiter ungeniert gedemütigt, schikaniert und ausgegrenzt werden.
Von den inneren Widersprüchen des Collegiums ist Carl Pacher tief geprägt. Denn einerseits ringt der schwärmerische und manchmal bestürzend naive Junge um Selbstüberwindung und den rechten Glauben. Aber zugleich kann er sich gegen frühreife erotische Phantasien ebenso wenig wehren wie gegen die Sehnsucht nach der unbedingten Liebe. Lange verehrt er so heimlich das Küchenmädchen Ursula, das für ihn unerreichbar scheint, nicht zuletzt, weil es um einiges älter ist als er. Doch dann wird sein stilles Werben wie durch ein Wunder erhört. Dabei hat die Verbindung zu Ursula kaum eine Chance auf Dauer, aber das will Carl lange Zeit einfach nicht wahrhaben ...
Sowohl tiefgründig als auch aberwitzig und komisch, ist »Kahlenbeck« ein Pubertäts- und Internatsroman, wie man ihn lange nicht gelesen hat: ein beeindruckender Roman über Religion und Spiritualität, über Freundschaft und Rivalität, über das Fegefeuer der Pubertät und die Fallgruben der Liebe. Wie Christoph Peters diese Themen und Motive miteinander verknüpft, das ist höchste erzählerische Kunst.
Von den inneren Widersprüchen des Collegiums ist Carl Pacher tief geprägt. Denn einerseits ringt der schwärmerische und manchmal bestürzend naive Junge um Selbstüberwindung und den rechten Glauben. Aber zugleich kann er sich gegen frühreife erotische Phantasien ebenso wenig wehren wie gegen die Sehnsucht nach der unbedingten Liebe. Lange verehrt er so heimlich das Küchenmädchen Ursula, das für ihn unerreichbar scheint, nicht zuletzt, weil es um einiges älter ist als er. Doch dann wird sein stilles Werben wie durch ein Wunder erhört. Dabei hat die Verbindung zu Ursula kaum eine Chance auf Dauer, aber das will Carl lange Zeit einfach nicht wahrhaben ...
Sowohl tiefgründig als auch aberwitzig und komisch, ist »Kahlenbeck« ein Pubertäts- und Internatsroman, wie man ihn lange nicht gelesen hat: ein beeindruckender Roman über Religion und Spiritualität, über Freundschaft und Rivalität, über das Fegefeuer der Pubertät und die Fallgruben der Liebe. Wie Christoph Peters diese Themen und Motive miteinander verknüpft, das ist höchste erzählerische Kunst.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent Jörg Aufenanger hat sich mit großem Interesse von Christoph Peters in die abgeschottete Welt des katholischen Internats Kahlenbeck führen, in dem Jugendliche weniger den ewigen Kampf um erwachende Lust, Liebe und Todessehnsucht führen, als vielmehr den gegen Sünde, Zweifel und andere Verlockungen des Teufels". Aufenanger betont, dass Peters diese Welt der "religiösen Quarantäne" nicht kritische oder gar anklagend beschreibt, sondern "mit Sympathie und Verständnis". Und auch wenn vielen Lesern dieser ungebrochene Katholizismus etwas fremd sein dürfte, ist Aufenanger überzeugt, dass er sich von der Fähigkeit des Autors, anschaulich zu erzählen, mitreißen lassen wird.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.09.2012Präses und Pubertät
Christoph Peters erzählt in seinem Roman „Wir in Kahlenbeck“
vom Aufwachsen in einem katholischen Internat
VON JÖRG MAGENAU
Solange es Internate gibt, wird es auch Internatsromane geben. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass jemand, der eine dieser Erziehungs- und Lehranstalten durchlief, hinterher etwas abzuarbeiten hat, literarisch betrachtet also einen Stoff. Dass die Geschichten sich seit den Verwirrungen von Robert Musils Zögling Törleß wiederholen, weil es immer um die Nöte des Erwachsenwerdens, Lust und erste Liebe, um Gruppenzwänge, Gewalt und Unterdrückung, Macht und Abhängigkeit, Moral und Wahrheit geht, spielt keine Rolle. Biografisch gesehen ist jede Internatsgeschichte einzigartig, weil sie Spuren hinterlässt, Spuren in den Körpern und Seelen derer, die ihre Jugendjahre in solchen Mauern verbrachten.
Die Steigerungsform von „Internat“ ist „katholisches Internat“, und es ist wohl kein Zufall, dass das am Niederrhein gelegene Collegium Augustinianum Gaesdonck nach Paul Ingendaays Debütroman „Warum du mich verlassen hast“ (2006) nun in Christoph Peters fünftem Roman „Wir in Kahlenbeck“ erneut zum literarischen Schauplatz wird. Peters, 1966 in Kalkar am Niederrhein geboren, ist fünf Jahre jünger als Ingendaay, war also etwas später in Gaesdonck, und so spielt sein Roman nicht Mitte der 1970er-Jahre, sondern zu Beginn der Achtziger.
Der Unterschied fällt aber nicht sehr ins Gewicht, weil Moden und andere Zeiterscheinungen hier sowieso ausgeschlossen sind. Das Internat hat seine eigene Zeitrechnung. Frank Zappa, dessen Musik dann aber doch zeitgemäß aus den Zimmern dröhnt, haben vermutlich auch schon die Älteren gehört, um damit ein wenig Rebellion zu kosten.
Die Hauptfigur in Christoph Peters’ Roman ist aber kein Rebell. Carl Pacher hört lieber Bach als Zappa, und zwar die Goldberg Variationen in der zweiten Einspielung von Glenn Gould, was ihn zu dem schönen Gedanken verführt, dass es dabei „vielleicht nicht um Musik geht, sondern nur darum, die Lautlosigkeit einzufärben, wie auch die Sterne nur dazu da sind, das Unendliche sichtbar zu machen“. Dieses tiefe Hörerlebnis bei einem Glas Rotwein teilt Carl mit dem älteren Mitschüler Kuffel, der seine homosexuellen Neigungen nicht verbirgt. Carl ist zu Beginn der etwas mehr als ein Schuljahr umfassenden Geschichte vierzehn Jahre alt.
Nicht nur bei Kuffel und dessen philosophisch versiertem Freund Holzkamp, der ihn in endlosen Debatten mit Vorliebe in erkenntnistheoretische und moralische Widersprüche verwickelt, ist er der Jüngere, Unerfahrene, sondern auch in der Liebesbeziehung zu der schon achtzehnjährigen Ursula oder Ulla oder Usch. So genau kennen die Schüler die Namen der Mädchen nicht, die in der Essensausgabe arbeiten, denn es ist ihnen verboten, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Außerdem wählt die Heimleitung mit Bedacht die hässlichsten Mädchen als Haushälterinnen aus, damit erotische Komplikationen möglichst ausgeschlossen sind.
Eine weitere zentrale Figur ist der Präses, der göttergleich über den gesamten Komplex herrscht. Wenn er einen der Knaben zu sich in sein Arbeitszimmer zitiert, dann dreht sich das Gespräch zumeist um sexuelle Probleme. Auch von Carl will er wissen, wer ihn wie und wo und wie oft angefasst habe und vermittelt ihm das Gefühl, es sei jedenfalls besser, andere Jungen zu berühren als ein Mädchen. Diese klebrige Anteilnahme hat mit Missbrauch, wie er in den letzten Jahren öffentlich diskutiert wurde, nichts zu tun, und ist doch eine Form von Einmischung in intimste Erlebnisräume. Mit dem Präses als oberster Instanz der Internatswirklichkeit wird Sexualität in der Psyche der Knaben als etwas Schuldhaftes befestigt. Das ist nicht weniger folgenreich, als es körperliche Übergriffe sein könnten.
Überhaupt geht es Christoph Peters weniger um die äußeren Zwänge als um die inneren Vorgänge, um Einsamkeit und Gewissensnöte und um die Gefühlsintensität der Pubertätsjahre. Das Internat ist der äußere Rahmen, in dem sich die üblichen Reaktionsweisen wie unter Laborbedingungen verschärfen. Zwar gibt es einen auktorialen Erzähler, der das Geschehen festhält, doch er berichtet stets im Präsens, so dass man mit ihm ganz und gar in der Gegenwart gefangen bleibt. Es gibt keine spätere Reflexion, kein Abstandnehmen, keine abgeklärte Haltung aus zeitlicher Distanz. So wie die Figuren in sich selbst eingeschlossen sind, bleibt auch der Leser eingeschlossen in ihr unmittelbares Erleben des Augenblicks.
Das zeigt sich in Momenten des Glücks, wenn Carl endlich erste Küsse mit Ulla wechselt und glaubt, am Ziel seiner Liebe angekommen zu sein, und es zeigt sich ebenso in der Verzweiflung, wenn sie ihn dann doch für zu jung hält und ihm einen Abschiedsbrief schreibt. Liebe wäre der einzige Ausweg aus dem rätselhaften Gefühl des In-die-Welt-Geworfenseins, die Errettung des Ich aus der Isolation, doch dieser Weg endet für den Helden immer wieder im Desaster.
Einen Großteil des Romans nehmen die Gespräche Carls mit den beiden älteren Schülern ein. Bei allem Zynismus, den vor allem Holzkamp – die wohl interessanteste Figur des Buches – ausstrahlt, richtet sich dessen intellektuelle Destruktivität nicht gegen die Doktrin der katholischen Kirche, sondern beispielsweise gegen Darwins Evolutionstheorie, die er mit durchaus treffenden Argumenten ad absurdum führt. Er ist ein Häretiker der Macht, der Gewissheiten zersetzt, aber nur, um am Ende das Dogma umso sicherer zu befestigen; im Mittelalter wäre aus ihm vermutlich ein guter Inquisitor geworden. Doch gerade dadurch setzt er bei Carl die intensive Auseinandersetzung mit religiösen Fragen in Gang.
Diese Gespräche funktionieren wie platonische Dialoge, in denen der Ältere die sokratische Rolle des heuristischen Fragestellers übernimmt, eines Geburtshelfers der Wahrheit, der seine Erkenntnisse aus dem ahnungslosen, staunenden Gesprächspartner herausholt wie der Zauberer das Kaninchen aus dem Zylinder. Nicht zuletzt diese langen dialogischen Szenen, die in großem Ernst Grundfragen des Lebens verhandeln, heben diesen Roman aus der schlichteren Internatsliteratur heraus.
Christoph Peters: Wir in Kahlenbeck. Roman. Luchterhand Verlag, München 2012. 508 Seiten, 22,99 Euro .
Heißt sie Ursula, Ulla oder Usch?
So genau kennen die Schüler
die Namen der Mädchen nicht
Schüler Holzkamp zersetzt die
Gewissheiten nur, um am Ende
das Dogma zu befestigen
Die Steigerungsform von „Internat“ ist „katholisches Internat“. Das Collegium Augustinianum Gaesdonck, hier ein Blick in die Bibliothek, ist der Schauplatz des neuen Romans von Christoph Peters.
FOTO: DIRK KRUELL/LAIF
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Christoph Peters erzählt in seinem Roman „Wir in Kahlenbeck“
vom Aufwachsen in einem katholischen Internat
VON JÖRG MAGENAU
Solange es Internate gibt, wird es auch Internatsromane geben. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass jemand, der eine dieser Erziehungs- und Lehranstalten durchlief, hinterher etwas abzuarbeiten hat, literarisch betrachtet also einen Stoff. Dass die Geschichten sich seit den Verwirrungen von Robert Musils Zögling Törleß wiederholen, weil es immer um die Nöte des Erwachsenwerdens, Lust und erste Liebe, um Gruppenzwänge, Gewalt und Unterdrückung, Macht und Abhängigkeit, Moral und Wahrheit geht, spielt keine Rolle. Biografisch gesehen ist jede Internatsgeschichte einzigartig, weil sie Spuren hinterlässt, Spuren in den Körpern und Seelen derer, die ihre Jugendjahre in solchen Mauern verbrachten.
Die Steigerungsform von „Internat“ ist „katholisches Internat“, und es ist wohl kein Zufall, dass das am Niederrhein gelegene Collegium Augustinianum Gaesdonck nach Paul Ingendaays Debütroman „Warum du mich verlassen hast“ (2006) nun in Christoph Peters fünftem Roman „Wir in Kahlenbeck“ erneut zum literarischen Schauplatz wird. Peters, 1966 in Kalkar am Niederrhein geboren, ist fünf Jahre jünger als Ingendaay, war also etwas später in Gaesdonck, und so spielt sein Roman nicht Mitte der 1970er-Jahre, sondern zu Beginn der Achtziger.
Der Unterschied fällt aber nicht sehr ins Gewicht, weil Moden und andere Zeiterscheinungen hier sowieso ausgeschlossen sind. Das Internat hat seine eigene Zeitrechnung. Frank Zappa, dessen Musik dann aber doch zeitgemäß aus den Zimmern dröhnt, haben vermutlich auch schon die Älteren gehört, um damit ein wenig Rebellion zu kosten.
Die Hauptfigur in Christoph Peters’ Roman ist aber kein Rebell. Carl Pacher hört lieber Bach als Zappa, und zwar die Goldberg Variationen in der zweiten Einspielung von Glenn Gould, was ihn zu dem schönen Gedanken verführt, dass es dabei „vielleicht nicht um Musik geht, sondern nur darum, die Lautlosigkeit einzufärben, wie auch die Sterne nur dazu da sind, das Unendliche sichtbar zu machen“. Dieses tiefe Hörerlebnis bei einem Glas Rotwein teilt Carl mit dem älteren Mitschüler Kuffel, der seine homosexuellen Neigungen nicht verbirgt. Carl ist zu Beginn der etwas mehr als ein Schuljahr umfassenden Geschichte vierzehn Jahre alt.
Nicht nur bei Kuffel und dessen philosophisch versiertem Freund Holzkamp, der ihn in endlosen Debatten mit Vorliebe in erkenntnistheoretische und moralische Widersprüche verwickelt, ist er der Jüngere, Unerfahrene, sondern auch in der Liebesbeziehung zu der schon achtzehnjährigen Ursula oder Ulla oder Usch. So genau kennen die Schüler die Namen der Mädchen nicht, die in der Essensausgabe arbeiten, denn es ist ihnen verboten, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Außerdem wählt die Heimleitung mit Bedacht die hässlichsten Mädchen als Haushälterinnen aus, damit erotische Komplikationen möglichst ausgeschlossen sind.
Eine weitere zentrale Figur ist der Präses, der göttergleich über den gesamten Komplex herrscht. Wenn er einen der Knaben zu sich in sein Arbeitszimmer zitiert, dann dreht sich das Gespräch zumeist um sexuelle Probleme. Auch von Carl will er wissen, wer ihn wie und wo und wie oft angefasst habe und vermittelt ihm das Gefühl, es sei jedenfalls besser, andere Jungen zu berühren als ein Mädchen. Diese klebrige Anteilnahme hat mit Missbrauch, wie er in den letzten Jahren öffentlich diskutiert wurde, nichts zu tun, und ist doch eine Form von Einmischung in intimste Erlebnisräume. Mit dem Präses als oberster Instanz der Internatswirklichkeit wird Sexualität in der Psyche der Knaben als etwas Schuldhaftes befestigt. Das ist nicht weniger folgenreich, als es körperliche Übergriffe sein könnten.
Überhaupt geht es Christoph Peters weniger um die äußeren Zwänge als um die inneren Vorgänge, um Einsamkeit und Gewissensnöte und um die Gefühlsintensität der Pubertätsjahre. Das Internat ist der äußere Rahmen, in dem sich die üblichen Reaktionsweisen wie unter Laborbedingungen verschärfen. Zwar gibt es einen auktorialen Erzähler, der das Geschehen festhält, doch er berichtet stets im Präsens, so dass man mit ihm ganz und gar in der Gegenwart gefangen bleibt. Es gibt keine spätere Reflexion, kein Abstandnehmen, keine abgeklärte Haltung aus zeitlicher Distanz. So wie die Figuren in sich selbst eingeschlossen sind, bleibt auch der Leser eingeschlossen in ihr unmittelbares Erleben des Augenblicks.
Das zeigt sich in Momenten des Glücks, wenn Carl endlich erste Küsse mit Ulla wechselt und glaubt, am Ziel seiner Liebe angekommen zu sein, und es zeigt sich ebenso in der Verzweiflung, wenn sie ihn dann doch für zu jung hält und ihm einen Abschiedsbrief schreibt. Liebe wäre der einzige Ausweg aus dem rätselhaften Gefühl des In-die-Welt-Geworfenseins, die Errettung des Ich aus der Isolation, doch dieser Weg endet für den Helden immer wieder im Desaster.
Einen Großteil des Romans nehmen die Gespräche Carls mit den beiden älteren Schülern ein. Bei allem Zynismus, den vor allem Holzkamp – die wohl interessanteste Figur des Buches – ausstrahlt, richtet sich dessen intellektuelle Destruktivität nicht gegen die Doktrin der katholischen Kirche, sondern beispielsweise gegen Darwins Evolutionstheorie, die er mit durchaus treffenden Argumenten ad absurdum führt. Er ist ein Häretiker der Macht, der Gewissheiten zersetzt, aber nur, um am Ende das Dogma umso sicherer zu befestigen; im Mittelalter wäre aus ihm vermutlich ein guter Inquisitor geworden. Doch gerade dadurch setzt er bei Carl die intensive Auseinandersetzung mit religiösen Fragen in Gang.
Diese Gespräche funktionieren wie platonische Dialoge, in denen der Ältere die sokratische Rolle des heuristischen Fragestellers übernimmt, eines Geburtshelfers der Wahrheit, der seine Erkenntnisse aus dem ahnungslosen, staunenden Gesprächspartner herausholt wie der Zauberer das Kaninchen aus dem Zylinder. Nicht zuletzt diese langen dialogischen Szenen, die in großem Ernst Grundfragen des Lebens verhandeln, heben diesen Roman aus der schlichteren Internatsliteratur heraus.
Christoph Peters: Wir in Kahlenbeck. Roman. Luchterhand Verlag, München 2012. 508 Seiten, 22,99 Euro .
Heißt sie Ursula, Ulla oder Usch?
So genau kennen die Schüler
die Namen der Mädchen nicht
Schüler Holzkamp zersetzt die
Gewissheiten nur, um am Ende
das Dogma zu befestigen
Die Steigerungsform von „Internat“ ist „katholisches Internat“. Das Collegium Augustinianum Gaesdonck, hier ein Blick in die Bibliothek, ist der Schauplatz des neuen Romans von Christoph Peters.
FOTO: DIRK KRUELL/LAIF
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2012Die absolute Reinheit des Küchenmädchens
Das Schlimmste im Leben ist die Pubertät: Der Held in Christoph Peters' Internatsroman "Wir in Kahlenbeck" muss mit dem Teufel ringen.
Von Martin Halter
Der Internatsroman gilt spätestens seit Musils "Törless" und Hesses "Unterm Rad" als erledigtes Genre. Nicht so im Collegium Augustinianum in Gaesdonck bei Goch: Nach Paul Ingendaay ("Warum du mich verlassen hast") hat jetzt auch Christoph Peters einen Roman über seine Jahre im Augustinianum geschrieben; fehlen eigentlich nur noch die Mitschüler Gregor Hens und Marcus Ingendaay.
"Wir in Kahlenbeck" ist freilich kein klassischer Internatsroman. Wo die Zöglinge sonst gern mit alter Wut oder dem ironischen Augenzwinkern des Davongekommenen von frühem Leid und sexuellen Verwirrungen durch übergriffige Ordensbrüder, heimliche Selbstbefleckung und erste Liebe erzählen, präsentiert sich der Untertertianer Carl Pacher als verzweifelt glaubender Musterschüler. Natürlich kennt auch er Scham, Selbstzerknirschung und die Sehnsucht nach den verbotenen Früchten des Paradieses. Die strenge Klosterzucht von Kahlenberg verbietet Fernsehen, frevelhafte Bücher, Mädchen und holländische Pommes, und Präses Dr. Roghmann sagt auch, warum: "Das Leben ist ein Wettkampf mit dem Teufel. Wer gewinnt, bleibt bis zuletzt offen, aber wenn der Mensch nicht sein gesamtes Vermögen in die Waagschale wirft, hat er schon verloren."
Carl leidet unter Bigotterie, Verboten und dem Fraß aus der Schulkantine, aber er fühlt sich nie als gefesselter Prometheus oder Opfer äußerer Mächte. Er ist ja kein gedankenloser, oberflächlicher Onanist, sondern ein ernsthafter (und gerade darum tragikomischer) junger Mann, der verzweifelt mit seinen Dämonen ringt: "Er hat es nicht geschafft, dem Ruf des Herrn zu folgen, sich der Gnade zu öffnen. Zu schwach, der Glaube - keine Liebe. Statt dessen Gier nach Besitz, Macht, Lust mit Frauen, Lust an Grausamkeit." Carl geißelt sich mit dem Gürtel, betet Rosenkränze zur Jungfrau von Marienborn und sucht in seinem Aquarium die Geheimnisse der Schöpfung; aber er fühlt sich dennoch verworfen, nichtswürdig, durch und durch böse.
Die Ereignisse spielen Anfang der achtziger Jahre, aber die Zeit scheint in Kahlenbeck stehengeblieben zu sein. Wer heitere Coming-of-Age-Dramen, schneidige Attacken gegen Gott und Kirche erwartet, kommt bei Peters kaum auf seine Kosten. Die beiden Motti umreißen das weite Feld, zwischen denen er Himmel und Hölle aufspannt. Das eine stammt von Helge Schneider ("Das Schlimmste im Leben ist die Pubertät"), das andere aus den "Apopthegmata Patrum," einer Spruchsammlung ägyptischer Wüstenheiliger aus dem fünften Jahrhundert: "Wenn du einen Jüngling siehst, der mit seinem Eigenwillen zum Himmel hinaufsteigt, dann halte seinen Fuß und ziehe ihn auf die Erde, denn das andere nützt nichts." Carl wird von seiner unzeitgemäßen Glaubensinbrunst hinauf und von seinem "Gottesraub" hinabgezogen, von seiner Liebe zu Ulla selig gemacht und zerschmettert. Eigentlich ist ein "dickliches Küchenmädchen mit schlechtem Geschmack", das Dallas liebt und sich Gitarre spielenden Hippies an den Hals wirft, unter seiner Würde. Aber Ulla ist anders, vor allem, wenn man keusch und aufrichtig liebt und unter ihren Glaubens- und Bildungslücken das "innere Leuchten" und die "absolute Reinheit" sieht. "Jede Liebe zwischen zwei Menschen", glaubt Carl, "hat ihren Ursprung in Gott."
Seine Mitschüler mögen den Präses für einen Schwätzer und Tyrannen halten: für Carl ist Roghmann ein "heiligmäßiger Mann", dessen Absturz in den Schweizer Bergen ihn erschüttert. Carls Freunde haben nur Fußball, Frank Zappa und den Kondomautomaten im Bahnhof im Kopf: Er wird von Liszts Mephisto-Walzer in tiefster Seele getroffen und hält sich schon für verflucht, weil er für eine Nacht mit Ulla seine Seele verkaufen würde; nicht einmal dem liberalen Spirtual Lenders kann er seine Sünde wider den Heiligen Geist beichten. Das "tägliche Scheitern an Jesu Geboten" macht Carl unglücklicher und einsamer als alle Hormonwallungen, schlechten Noten oder Fummeleien von Präfekt Wiepers.
Carls Freunde verstärken seine Schuldgefühle. Kuffel ist ein guter Mensch, klug, sensibel und glaubensstark, aber er kann seine Homosexualität, die "unmögliche Möglichkeit", kaum beherrschen. Holzkamp ist ein radikalkatholischer Zyniker, der mit dialektischen Spitzfindigkeiten Carls Tugend- und Fischfimmel verhöhnt, die Evolutionstheorie als Gotteslästerung und Carls Liebe zu Ulla als "Perversion unseres transzendentalen Verlangens nach dem Absoluten" verdammt. So wird Carl von seinen Lehrmeistern in die Zange genommen wie einst Hans Castop im "Zauberberg" von dem sanften Humanisten Settembrini und dem jesuitischen Terroristen Naphta, bis er sich vor sich selbst ekelt: "Er schämt sich seiner Liebe zum Herrn. Er würde Ihn ohne Not verleugnen. Es gibt bloß keine Seitentür, durch die er sich hinausstehlen könnte." Peters hat sich schon in Gaesdonck mit christlicher Mystik, Schamanismus, Zenbuddhismus und Sufismus befasst, und dieses Interesse an religiösen Fragen spürte man in all seinen Romanen; selbst in der heiteren Liebesgeschichte "Mitsukos Restaurant" (2009) geriet eine japanische Teezeremonie zum erotisch-spirituellen Ereignis. Die langen theologisch-philosophischen Debatten in Kahlenbeck über Gott und Teufel, Darwin und den Heiden Goethe sind vielleicht nicht jedermanns Sache. Carl lässt sich noch auf die verstiegensten Argumente des mephistophelischen Holzkamp und seiner Gönnerin, Gräfin Warnstorf, ein. Er klettert mit dem Präses zum Ruhme Gottes auf die Berge und stürzt in die Niederungen der Pubertät, im Hinterkopf immer ein Bibelzitat, ein Kirchenlied, eine religiöse Allegorie. Weder Lehrer, Freund noch Ulla ziehen den aufwärtsstrebenden Jüngling auf die Erde zurück, und so bleibt er wie Jakob auf der Leiter allein mit seinen eingebildeten und wirklichen Sünden.
Christoph Peters' Roman "Wir in Kahlenbeck" ist ein großartig erzählter, weltfrommer, um nicht zu sagen: heiligmäßiger Internatsroman.
Christoph Peters: "Wir in Kahlenbeck". Roman.
Luchterhand Verlag, München 2012. 506 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Schlimmste im Leben ist die Pubertät: Der Held in Christoph Peters' Internatsroman "Wir in Kahlenbeck" muss mit dem Teufel ringen.
Von Martin Halter
Der Internatsroman gilt spätestens seit Musils "Törless" und Hesses "Unterm Rad" als erledigtes Genre. Nicht so im Collegium Augustinianum in Gaesdonck bei Goch: Nach Paul Ingendaay ("Warum du mich verlassen hast") hat jetzt auch Christoph Peters einen Roman über seine Jahre im Augustinianum geschrieben; fehlen eigentlich nur noch die Mitschüler Gregor Hens und Marcus Ingendaay.
"Wir in Kahlenbeck" ist freilich kein klassischer Internatsroman. Wo die Zöglinge sonst gern mit alter Wut oder dem ironischen Augenzwinkern des Davongekommenen von frühem Leid und sexuellen Verwirrungen durch übergriffige Ordensbrüder, heimliche Selbstbefleckung und erste Liebe erzählen, präsentiert sich der Untertertianer Carl Pacher als verzweifelt glaubender Musterschüler. Natürlich kennt auch er Scham, Selbstzerknirschung und die Sehnsucht nach den verbotenen Früchten des Paradieses. Die strenge Klosterzucht von Kahlenberg verbietet Fernsehen, frevelhafte Bücher, Mädchen und holländische Pommes, und Präses Dr. Roghmann sagt auch, warum: "Das Leben ist ein Wettkampf mit dem Teufel. Wer gewinnt, bleibt bis zuletzt offen, aber wenn der Mensch nicht sein gesamtes Vermögen in die Waagschale wirft, hat er schon verloren."
Carl leidet unter Bigotterie, Verboten und dem Fraß aus der Schulkantine, aber er fühlt sich nie als gefesselter Prometheus oder Opfer äußerer Mächte. Er ist ja kein gedankenloser, oberflächlicher Onanist, sondern ein ernsthafter (und gerade darum tragikomischer) junger Mann, der verzweifelt mit seinen Dämonen ringt: "Er hat es nicht geschafft, dem Ruf des Herrn zu folgen, sich der Gnade zu öffnen. Zu schwach, der Glaube - keine Liebe. Statt dessen Gier nach Besitz, Macht, Lust mit Frauen, Lust an Grausamkeit." Carl geißelt sich mit dem Gürtel, betet Rosenkränze zur Jungfrau von Marienborn und sucht in seinem Aquarium die Geheimnisse der Schöpfung; aber er fühlt sich dennoch verworfen, nichtswürdig, durch und durch böse.
Die Ereignisse spielen Anfang der achtziger Jahre, aber die Zeit scheint in Kahlenbeck stehengeblieben zu sein. Wer heitere Coming-of-Age-Dramen, schneidige Attacken gegen Gott und Kirche erwartet, kommt bei Peters kaum auf seine Kosten. Die beiden Motti umreißen das weite Feld, zwischen denen er Himmel und Hölle aufspannt. Das eine stammt von Helge Schneider ("Das Schlimmste im Leben ist die Pubertät"), das andere aus den "Apopthegmata Patrum," einer Spruchsammlung ägyptischer Wüstenheiliger aus dem fünften Jahrhundert: "Wenn du einen Jüngling siehst, der mit seinem Eigenwillen zum Himmel hinaufsteigt, dann halte seinen Fuß und ziehe ihn auf die Erde, denn das andere nützt nichts." Carl wird von seiner unzeitgemäßen Glaubensinbrunst hinauf und von seinem "Gottesraub" hinabgezogen, von seiner Liebe zu Ulla selig gemacht und zerschmettert. Eigentlich ist ein "dickliches Küchenmädchen mit schlechtem Geschmack", das Dallas liebt und sich Gitarre spielenden Hippies an den Hals wirft, unter seiner Würde. Aber Ulla ist anders, vor allem, wenn man keusch und aufrichtig liebt und unter ihren Glaubens- und Bildungslücken das "innere Leuchten" und die "absolute Reinheit" sieht. "Jede Liebe zwischen zwei Menschen", glaubt Carl, "hat ihren Ursprung in Gott."
Seine Mitschüler mögen den Präses für einen Schwätzer und Tyrannen halten: für Carl ist Roghmann ein "heiligmäßiger Mann", dessen Absturz in den Schweizer Bergen ihn erschüttert. Carls Freunde haben nur Fußball, Frank Zappa und den Kondomautomaten im Bahnhof im Kopf: Er wird von Liszts Mephisto-Walzer in tiefster Seele getroffen und hält sich schon für verflucht, weil er für eine Nacht mit Ulla seine Seele verkaufen würde; nicht einmal dem liberalen Spirtual Lenders kann er seine Sünde wider den Heiligen Geist beichten. Das "tägliche Scheitern an Jesu Geboten" macht Carl unglücklicher und einsamer als alle Hormonwallungen, schlechten Noten oder Fummeleien von Präfekt Wiepers.
Carls Freunde verstärken seine Schuldgefühle. Kuffel ist ein guter Mensch, klug, sensibel und glaubensstark, aber er kann seine Homosexualität, die "unmögliche Möglichkeit", kaum beherrschen. Holzkamp ist ein radikalkatholischer Zyniker, der mit dialektischen Spitzfindigkeiten Carls Tugend- und Fischfimmel verhöhnt, die Evolutionstheorie als Gotteslästerung und Carls Liebe zu Ulla als "Perversion unseres transzendentalen Verlangens nach dem Absoluten" verdammt. So wird Carl von seinen Lehrmeistern in die Zange genommen wie einst Hans Castop im "Zauberberg" von dem sanften Humanisten Settembrini und dem jesuitischen Terroristen Naphta, bis er sich vor sich selbst ekelt: "Er schämt sich seiner Liebe zum Herrn. Er würde Ihn ohne Not verleugnen. Es gibt bloß keine Seitentür, durch die er sich hinausstehlen könnte." Peters hat sich schon in Gaesdonck mit christlicher Mystik, Schamanismus, Zenbuddhismus und Sufismus befasst, und dieses Interesse an religiösen Fragen spürte man in all seinen Romanen; selbst in der heiteren Liebesgeschichte "Mitsukos Restaurant" (2009) geriet eine japanische Teezeremonie zum erotisch-spirituellen Ereignis. Die langen theologisch-philosophischen Debatten in Kahlenbeck über Gott und Teufel, Darwin und den Heiden Goethe sind vielleicht nicht jedermanns Sache. Carl lässt sich noch auf die verstiegensten Argumente des mephistophelischen Holzkamp und seiner Gönnerin, Gräfin Warnstorf, ein. Er klettert mit dem Präses zum Ruhme Gottes auf die Berge und stürzt in die Niederungen der Pubertät, im Hinterkopf immer ein Bibelzitat, ein Kirchenlied, eine religiöse Allegorie. Weder Lehrer, Freund noch Ulla ziehen den aufwärtsstrebenden Jüngling auf die Erde zurück, und so bleibt er wie Jakob auf der Leiter allein mit seinen eingebildeten und wirklichen Sünden.
Christoph Peters' Roman "Wir in Kahlenbeck" ist ein großartig erzählter, weltfrommer, um nicht zu sagen: heiligmäßiger Internatsroman.
Christoph Peters: "Wir in Kahlenbeck". Roman.
Luchterhand Verlag, München 2012. 506 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Einer der beeindruckendsten deutschsprachigen Romane der vergangenen Jahre - philosophisch durchgearbeitet, mitreißend erzählt." Christoph Schröder / KulturSPIEGEL