Ein Fremder kommt in das abgelegene Dorf in den Bergen, das vom Kalkabbau lebt. Fünf Freundinnen beobachten Georg Musiel dabei, fünf Mädchen, die kein Kind mehr sind und noch nicht Frau. Musiel soll die Leere des Kalksteinbruchs bestätigen - doch mit dem Steinbruch stirbt das Dorf, und deshalb wird Musiel argwöhnisch beobachtet. Als ein Unfall geschieht, kommen Ereignisse ins Rollen, ein Mädchen verschwindet und die Dorfbewohner müssen sich entscheiden: Folgen sie den Vätern oder wagen sie den Schritt in eine unbekannte Welt?
Eine archaische Geschichte vom Ende einer Ordnung, riskant und intensiv erzählt.
Eine archaische Geschichte vom Ende einer Ordnung, riskant und intensiv erzählt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.08.2017Wenn die Berge ausatmen
Eine überaus rätselhafte Dorfgeschichte: Andreas Mosters Erzähldebüt "Wir leben hier, seit wir geboren sind"
Das Zeugma ist eine sonderbare rhetorische Figur, die zusammenspannt, was nicht zusammengehört: "Ich heiße nicht nur Heinz Erhardt, sondern Sie auch herzlich willkommen." Nicht immer ist sie zur Erheiterung gedacht, erzielt aber durch syntaktische Verkürzung Überraschungseffekte (Jean Paul: "Er saß ganze Nächte und Sessel durch"), manchmal verbunden mit einem Dreh ins Absurde, wenn es etwa über den bösen Friedrich im "Struwwelpeter" heißt: "Er schlug die Stühl' und Vögel tot" - womit eindrucksvoll gesagt ist, dass dieser arge Wüterich einfach alles plattmacht. Und damit ist man wohl bei der wichtigsten Funktion dieses Stilmittels: Es kann für eine emblematische Verdichtung sorgen. So auch im ersten Satz des Erzähldebüts von Andreas Moster: "Ein Mann kommt in unser Dorf und dreht die Steine um und die Köpfe der Mädchen."
In diesem bemerkenswerten Satz steckt in gewisser Weise die Essenz des Buches, nämlich die Ankunft eines Fremden im besagten, aber namenlosen Dorf, die dort alles durcheinanderbringt. Der Autor, der als Übersetzer in Hamburg lebt, nähert sich mit dieser Erzählung, die als "Roman" eigentlich falsch beschriftet ist, der besonders im neunzehnten Jahrhundert beliebten "Dorfgeschichte" an, allerdings eher in der dramatisch-unheimlichen, nicht der idyllischen Variante. Der fremde Mann heißt Georg Musiel, er ist Beauftragter einer Firma, die nahe dem Ort Kalkstein abbaut und der den Steinbruch überprüfen soll. Ihm ist aufgefallen, dass die Fördermenge dramatisch schrumpft, und von ihr hängt die Existenz der Dörfler ab. Musiel trifft auf eine patriarchalische Gesellschaft mit sonderbaren Ritualen, in der Ehefrauen und Kinder unter der Härte der Männer zu leiden haben. Dann geschieht im Steinbruch ein Unfall, die Einheimischen machen den Fremden dafür verantwortlich, und er flüchtet vor ihnen in eine Höhle, wohin ihm die Mädchen des Dorfes folgen. Am Ende hat das Dorf "keine Maultiere und keine Hunde mehr und ein Mädchen weniger".
Was in dieser Zusammenfassung noch anmutet wie eine mehr oder weniger realistische Geschichte mit Anklängen an den Heimatfilm und märchenhaften Elementen, wird allerdings in der tatsächlichen literarischen Ausführung von Anfang an zu einer phantastischen Angelegenheit in lyrischer, symbolbeladener Sprache, die schon nach wenigen Sätzen viele interpretatorische Fragen aufwirft und bis zum Ende rätselhaft bleibt.
Der Fremde, Georg, wird aus der Sicht eines der Mädchen, das Teile der Geschichte erzählt, zu einem wilden afrikanischen Bock und oft nur noch als solcher bezeichnet; die Natur rund um das Dorf ist beseelt ("Der Berg atmete aus", heißt es etwa); die Ehefrau eines der Dorfmänner schließlich muss ihren Körper jeden Morgen beim Aufstehen erst neu zusammensetzen, was manchmal nicht ganz gelingt: "Ihre beiden Hälften waren unsauber zusammengeklebt, leicht versetzt, so dass eine scharfe Kante über meine Mutter lief, ein aufgefalteter Grat unter der Haut, vom Scheitel über das Gesicht bis zur Scham."
Der Erzählton erinnert bisweilen an die Novelle des Realismus, hat aber in seiner Mischung aus Genauigkeit einerseits und träumerisch-wahnhafter Darstellung andererseits auch schon Züge der frühmodernen Werke Hofmannsthals wie etwa der "Reitergeschichte". Der Text winkt dann stellenweise auch deutlich mit Kafka-Referenzen, darunter einem Käfer - und ist doch auch wieder gegenwärtig und neu, wenn die Jugendlichen in englischen Versatzstücken denken und träumen.
Diese sonderbare Mischung ergibt in der Summe eine Prosa, die aus der Gegenwartsliteratur deutlich heraussticht und für die man kaum Vergleiche hat: Man weiß oft nicht, ob man vielleicht alles nur allegorisch lesen soll, immerhin geht es auch viel um Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen, Erwachsenen und Kindern sowie furchtbare Gewalt in der Familie, dann aber wieder ist der Text auch in hohem Maße erotisiert und lädt zu allerlei psychoanalytischen Deutungen ein. Im Willen, die Welt zu poetisieren, schießt Moster vielleicht manchmal über das Ziel hinaus, da zerwehen Hörner im Mondlicht, reißen Schreie an einer Wunde oder rutscht die Vergangenheit ins Tal. Womöglich bleibt auch am Ende alles zu kryptisch - aber das haben Kritiker auch schon über Werke von David Lynch oder Clemens J. Setz gesagt. Von Andreas Moster würde man gern mehr lesen.
JAN WIELE
Andreas Moster:
"Wir leben hier, seit wir
geboren sind". Roman.
Eichborn Verlag, Köln 2017. 176 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine überaus rätselhafte Dorfgeschichte: Andreas Mosters Erzähldebüt "Wir leben hier, seit wir geboren sind"
Das Zeugma ist eine sonderbare rhetorische Figur, die zusammenspannt, was nicht zusammengehört: "Ich heiße nicht nur Heinz Erhardt, sondern Sie auch herzlich willkommen." Nicht immer ist sie zur Erheiterung gedacht, erzielt aber durch syntaktische Verkürzung Überraschungseffekte (Jean Paul: "Er saß ganze Nächte und Sessel durch"), manchmal verbunden mit einem Dreh ins Absurde, wenn es etwa über den bösen Friedrich im "Struwwelpeter" heißt: "Er schlug die Stühl' und Vögel tot" - womit eindrucksvoll gesagt ist, dass dieser arge Wüterich einfach alles plattmacht. Und damit ist man wohl bei der wichtigsten Funktion dieses Stilmittels: Es kann für eine emblematische Verdichtung sorgen. So auch im ersten Satz des Erzähldebüts von Andreas Moster: "Ein Mann kommt in unser Dorf und dreht die Steine um und die Köpfe der Mädchen."
In diesem bemerkenswerten Satz steckt in gewisser Weise die Essenz des Buches, nämlich die Ankunft eines Fremden im besagten, aber namenlosen Dorf, die dort alles durcheinanderbringt. Der Autor, der als Übersetzer in Hamburg lebt, nähert sich mit dieser Erzählung, die als "Roman" eigentlich falsch beschriftet ist, der besonders im neunzehnten Jahrhundert beliebten "Dorfgeschichte" an, allerdings eher in der dramatisch-unheimlichen, nicht der idyllischen Variante. Der fremde Mann heißt Georg Musiel, er ist Beauftragter einer Firma, die nahe dem Ort Kalkstein abbaut und der den Steinbruch überprüfen soll. Ihm ist aufgefallen, dass die Fördermenge dramatisch schrumpft, und von ihr hängt die Existenz der Dörfler ab. Musiel trifft auf eine patriarchalische Gesellschaft mit sonderbaren Ritualen, in der Ehefrauen und Kinder unter der Härte der Männer zu leiden haben. Dann geschieht im Steinbruch ein Unfall, die Einheimischen machen den Fremden dafür verantwortlich, und er flüchtet vor ihnen in eine Höhle, wohin ihm die Mädchen des Dorfes folgen. Am Ende hat das Dorf "keine Maultiere und keine Hunde mehr und ein Mädchen weniger".
Was in dieser Zusammenfassung noch anmutet wie eine mehr oder weniger realistische Geschichte mit Anklängen an den Heimatfilm und märchenhaften Elementen, wird allerdings in der tatsächlichen literarischen Ausführung von Anfang an zu einer phantastischen Angelegenheit in lyrischer, symbolbeladener Sprache, die schon nach wenigen Sätzen viele interpretatorische Fragen aufwirft und bis zum Ende rätselhaft bleibt.
Der Fremde, Georg, wird aus der Sicht eines der Mädchen, das Teile der Geschichte erzählt, zu einem wilden afrikanischen Bock und oft nur noch als solcher bezeichnet; die Natur rund um das Dorf ist beseelt ("Der Berg atmete aus", heißt es etwa); die Ehefrau eines der Dorfmänner schließlich muss ihren Körper jeden Morgen beim Aufstehen erst neu zusammensetzen, was manchmal nicht ganz gelingt: "Ihre beiden Hälften waren unsauber zusammengeklebt, leicht versetzt, so dass eine scharfe Kante über meine Mutter lief, ein aufgefalteter Grat unter der Haut, vom Scheitel über das Gesicht bis zur Scham."
Der Erzählton erinnert bisweilen an die Novelle des Realismus, hat aber in seiner Mischung aus Genauigkeit einerseits und träumerisch-wahnhafter Darstellung andererseits auch schon Züge der frühmodernen Werke Hofmannsthals wie etwa der "Reitergeschichte". Der Text winkt dann stellenweise auch deutlich mit Kafka-Referenzen, darunter einem Käfer - und ist doch auch wieder gegenwärtig und neu, wenn die Jugendlichen in englischen Versatzstücken denken und träumen.
Diese sonderbare Mischung ergibt in der Summe eine Prosa, die aus der Gegenwartsliteratur deutlich heraussticht und für die man kaum Vergleiche hat: Man weiß oft nicht, ob man vielleicht alles nur allegorisch lesen soll, immerhin geht es auch viel um Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen, Erwachsenen und Kindern sowie furchtbare Gewalt in der Familie, dann aber wieder ist der Text auch in hohem Maße erotisiert und lädt zu allerlei psychoanalytischen Deutungen ein. Im Willen, die Welt zu poetisieren, schießt Moster vielleicht manchmal über das Ziel hinaus, da zerwehen Hörner im Mondlicht, reißen Schreie an einer Wunde oder rutscht die Vergangenheit ins Tal. Womöglich bleibt auch am Ende alles zu kryptisch - aber das haben Kritiker auch schon über Werke von David Lynch oder Clemens J. Setz gesagt. Von Andreas Moster würde man gern mehr lesen.
JAN WIELE
Andreas Moster:
"Wir leben hier, seit wir
geboren sind". Roman.
Eichborn Verlag, Köln 2017. 176 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Moster geht das Wagnis ein, eine Literatur zu schreiben, die dem Leser vor den Kopf stößt und geht als Gewinner aus der Sache hervor." Gerrit ter Horst, Zeilenspruenge.de
»Roh und zart, abweisend und einladend zugleich, archaisch und düster, durchsetzt mit hellen Flecken einer unbestimmten Hoffnung. Und jedes Wort sitzt perfekt an der Stelle, an der es stehen soll.« Kaffeehaussitzer (Literaturblog) 20221117