Am 30. Oktober 1933 verläßt die 15jährige Sibylle Ortmann Berlin und reist allein nach London: Dies ist der Beginn des Auseinanderbrechens einer jüdischen Familie. Sibylles Großvater war Raphael Löwenfeld, Tolstois Biograph und Übersetzer, der das Schiller-Theater gegründet hatte. Ihre Mutter, Eva Ortmann, ist Sängerin in Berlin und mit dem jüdischen Opernsänger Fritz Lechner befreundet, mit dem gemeinsam sie in die USA emigrieren und den sie dort heiraten wird.
Es beginnt ein weltumspannender Briefwechsel, der ein ganzes Panorama des Exils ausbreitet: Teile der Familie gehen nach Kapstadt, andere nach Paris; Sibylles Freundin Lili Faktor, Tochter des Journalisten Emil Faktor, in die Tschechoslowakei, ebenso ein Bruder Eva Ortmanns, Heinrich Löwenfeld. Der einzige Kontakt sind die Briefe, die in diesem Band versammelt sind. Sie zeigen, wie unterschiedlich die Situationen in den einzelnen Ländern waren und wie schwer es war, sich ihnen anzupassen. Sibylle Ortmann emigriert schließlich in die USA und setzt dort alles daran, ihre Schulkameradinnen aus Europa herauszubekommen. Tag und Nacht kämpft sie um Affidavits und Genehmigungen. Ein stiller, aufopferungsvoller Kampf, durch den sie schließlich Lili Faktor das Leben retten kann.
Die Briefe dokumentieren, welche immensen Hürden europäische Juden bei ihrer Emigration zu überwinden hatten.
Es beginnt ein weltumspannender Briefwechsel, der ein ganzes Panorama des Exils ausbreitet: Teile der Familie gehen nach Kapstadt, andere nach Paris; Sibylles Freundin Lili Faktor, Tochter des Journalisten Emil Faktor, in die Tschechoslowakei, ebenso ein Bruder Eva Ortmanns, Heinrich Löwenfeld. Der einzige Kontakt sind die Briefe, die in diesem Band versammelt sind. Sie zeigen, wie unterschiedlich die Situationen in den einzelnen Ländern waren und wie schwer es war, sich ihnen anzupassen. Sibylle Ortmann emigriert schließlich in die USA und setzt dort alles daran, ihre Schulkameradinnen aus Europa herauszubekommen. Tag und Nacht kämpft sie um Affidavits und Genehmigungen. Ein stiller, aufopferungsvoller Kampf, durch den sie schließlich Lili Faktor das Leben retten kann.
Die Briefe dokumentieren, welche immensen Hürden europäische Juden bei ihrer Emigration zu überwinden hatten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.2005Sibylle Ortmanns Vermächtnis
Ein Ereignis: Ein Briefband als Panorama jüdischen Lebens im Exil
Nur wenige Briefkorrespondenten streben zur ästhetischen Höhe des Briefwechsels von Goethe und Schiller. Und nicht alle begnadeten Briefschreiber verstehen sich selbst als Schriftsteller. Die Blüte der Briefliteratur vergangener Jahrhunderte, zu deren Totengräber das Telefon wurde, zehrte wesentlich auch von der Schreiblust gebildeter Dilettanten. Man mußte freilich etwas mitzuteilen haben. Ein gewichtiges Wort sprachen in diesem Literaturzweig die Frauen mit. Aus der klassischen französischen Literatur des siebzehnten Jahrhunderts nicht wegzudenken sind die Briefe der Marquise de Sévigné: ein Spiegel der Literatur und des Theaters wie der gesellschaftlichen Ereignisse am Hof Ludwigs XIV. Ihr bildhaft-eleganter Stil erhält seinen Gegenpol in den drastischen, gleichwohl originellen deutschen Briefen der Lise-Lotte (Elisabeth Charlotte) von der Pfalz, die als Herzogin von Orléans die Zustände am Hof genau beobachtete und beschrieb. Zur Zeit der Romantik markieren wiederum zwei Frauen scharfe Gegensätze. Zwischen schwärmerischer Empfindung und humanitärem Idealismus bewegen sich die Briefe der Bettine von Armin-Brentano, geistreich-realistisch kommentiert Caroline Schlegel-Schelling das kulturelle Leben der Zeit.
Ein erstaunlicher Briefwechsel ist jetzt anzuzeigen. An Zeugen des Exils deutsch-jüdischer Schriftsteller, der Judenverfolgung im "Dritten Reich" überhaupt, besteht mittlerweile kein Mangel mehr. Jene Autobiographien, die große allgemeine Resonanz fanden, machen nur einen Bruchteil der veröffentlichten Darstellungen eigener Lebensläufe aus. Sie sind Dokumente und Mahnrufe zugleich. Doch haben sie alle einen, wenn auch noch so kleinen Authentizitätsmakel, sie berichten über Ereignisse aus dem Rückblick, und dessen Perspektive ist durch spätere Erfahrungen und Interessen mitbestimmt. Briefe sind verläßlicher, sie halten die momentane Beobachtung, Empfindung, Reflexion fest, das Erlebnis selbst, die unmittelbare Erfahrung. Darin gleichen sie dem Tagebuch, dessen dialogische Form sie sind.
Gewicht des Exemplarischen
Den Kern des Bandes "Wir leben nun einmal auf einem Vulkan" bilden die Briefe einer jungen Berlinerin, Sibylle Ortmann, die nationalsozialistische Terminologie zur "Halbjüdin" stempelte und die sich der neuen Lage nach Hitlers Machtergreifung mit bewundernswerter Entschlossenheit stellt. Sie meldet sich als Fünfzehnjährige, obwohl eine der Klassenbesten in der Berliner Fürstin-Bismarck-Schule, vom Gymnasium ab, aus Solidarität mit "volljüdischen" Mitschülerinnen und Lehrern, vor allem ihrer entlassenen Klassenlehrerin Alice Bernstein. Sie reist Ende Oktober 1933 völlig selbständig nach England, um dort nach Möglichkeiten der Fortbildung zu suchen.
Sibylles Großvater Raphael Löwenfeld, Übersetzer und zweifacher Besucher Leo Tolstois auf seinem Gut Jassnaja Poljana, wurde als Begründer des Schiller-Theaters zur markanten Erscheinung des Berliner Kulturlebens. Ihre Mutter Eva drängte es zur Opernbühne, sie ließ sich als Sängerin ausbilden. Die Ehe Evas mit dem "arischen" Illustrator und bildenden Künstler Wolfgang Ortmann, dem Vater Sibylles, überdauerte nur wenige Jahre. Ortmann, ein widersprüchlicher Charakter, biederte sich dem System mit Porträtbüsten Hitlers, Görings und Goebbels' an, weigerte sich andererseits, seine neue Frau (die vierte jüdische Frau) zu verlassen. Die vaterlos aufgewachsene Sibylle fühlte sich verwurzelt allein in der Herkunft aus einem Judentum, das sich in Deutschland eingebürgert glaubte.
Das ganze Gewicht exemplarischer Erfahrungen geben den Briefen Sibylles (vornehmlich im Briefwechsel mit ihrer Mutter) ihre weiteren Lebenssituationen: nach beharrlichem Antichambrieren in Kommissionen Zulassung zum Besuch einer Londoner Handelsschule; am Ende des Kurses gepackt vom Heimweh nach ihrer Mutter und Berlin; Sekretärin beim Handelsattaché der amerikanischen Botschaft in Berlin; 1936 zweite Emigration nach England; nach mühevoller Arbeitssuche Beschäftigung in einem Londoner Uhrenexportgeschäft; beharrliche Bemühungen um Affidavits (Bürgschaften) für die Einreise in die Vereinigten Staaten, wohin inzwischen ihre Mutter und deren Lebensgefährte Fritz Lechner (ebenfalls ein Sänger) ausgewandert sind; endlich Bewilligung des Einreisevisums, Landung in New York im September 1937; Übersetzerin in einem New Yorker Flüchtlingskomitee; Studium am Radcliffe College (Cambridge/Vereinigte Staaten) mit dem besten Abschlußexamen im Juni 1942 (Romanische Sprachen und Literaturen); Heirat mit dem Harvard-Absolventen Milton Crane, der während des Krieges und noch einmal nach dem Krieg in den Dienst der amerikanischen Regierung in Washington tritt; nach letzter Reise zum Heimatkontinent, auch nach Berlin, Krebstod im Mai 1976.
Hinter diesen dürren biographischen Linien offenbaren die Briefe einen unerhörten Reichtum an Beobachtungen zu Zeitgeschehnissen. Folgt Sibylles lockere, immer anschauliche Prosa anfangs ganz dem Pulsschlag der Jugend, so setzt bald eine Prosa ein, die ein sensibles Wahrnehmungsorgan für die Menetekel verrät, die der immer offenere Haß auf die Juden und der zunehmende Druck des Hitler-Regimes an die Wand werfen. Wo andere sich immer noch mit der Hoffnung des "Es wird schon nicht so schlimm werden" trösten, wagt diese jugendliche Frau Voraussagen, die fast "altklug" anmuten, aber nur ihren frühen Realismus bezeugen. "Wir leben nun einmal auf einem Vulkan", schreibt sie im Juni 1937. In England erkennt sie die Appeasement-Politik der Regierung Chamberlain und die Nachgiebigkeit, das Zurückweichen des Westens vor den Forderungen Hitlers klar als verhängnisvolle Wegbereiter des Krieges. Sie ist bei einer Protestdemonstration gegen den englischen Faschismus der Mosley-Anhänger dabei. Ihre anfängliche Linksgläubigkeit erhält starke Risse nach den Moskauer Schauprozessen und geht in Scherben bei der Nachricht vom Hitler-Stalin-Pakt.
Ungebrochen aber bleiben Hilfsbereitschaft und Tatkraft, wenn Hilferufe sie erreichen, zumal jüdischer Verwandter und Freunde. Sie übt sich nie ins Weghören oder Wegsehen ein, auch wenn ihr manchmal die Elendsnachrichten aufs Gemüt schlagen. Es gibt auch die ironisch-bezaubernde Briefschreiberin, etwa in Berichten über das wagemutige "Hitch-Hiken" (als Anhalter fahren), über die Reisen nach Wales und durch Frankreich und Italien mit ihrem zweiten englisch-jüdischen Freund. Erst im Briefwechsel mit ihrem amerikanischen Freund und späteren Ehemann Milton verweigert die Liebessprache jegliches Retuschieren von Streitpunkten. Selten ist mir in der Literatur eine Figur mit einer ähnlichen Mischung von humanitärer Tatkraft und realistischer Skepsis begegnet wie diese Briefschreiberin.
Die andere Seite zu den Ghettos und Vernichtungslagern sind die Odysseen der entkommenen und überlebenden Verfolgten. Die Großfamilie der Nachkommen des Schriftstellers und Theaterdirektors Raphael Löwenfeld und ihre Freundeskreise werden durch die ganze Welt gejagt, nach Prag, durch französische Internierungslager, nach Südafrika, nach Kuba, nach Schweden und durch russische Lager (hier freilich nicht von Hitler). Alle melden sich bei den Ortmanns mit Lageberichten und Hiobsbotschaften, mit Hilferufen und Dankbriefen für beschaffte Affidavits, die für einen Augenblick die eigenen Entbehrungen vergessen lassen. Sibylle ist in dieser Ordnung von Briefschreibern die Sonne, gewiß, aber mit den sie umkreisenden Planeten und Satelliten erscheint ein Mikrokosmos von exemplarischen Lebensläufen, die der alten (christlichen) Legende von Ahasver, dem ewig wandernden und heimatlosen Juden, schreckliche Wirklichkeit verleihen. Aus dem Mosaik von vielen hundert Briefen tritt ein Panorama jüdischen Lebens unter dem Fluch des ständigen Unterwegsseins hervor.
Freiheiten im Berliner "Jüdischen Kulturbund", in dem anfangs Fritz Lechner und gelegentlich Eva Ortmann singen, sind Scheinfreiheiten, Alibis der Gegenpropaganda zu den Enthüllungen der ausländischen Nachrichten. Zu den Dokumenten jüdischen Lebens dieser Zeit gehören aber auch die Eingeständnisse von innerjüdischen Spannungen, ja Feindseligkeiten: das Mißtrauen schon längere Zeit seßhafter gegen die einwandernden oder um Einreisegenehmigung nachsuchenden Juden, eine Kluft zwischen West- und Ostjuden (selbst Sibylle macht gelegentlich kein Hehl aus ihrem Überlegenheitsgefühl gegen traditionalistisch gebliebene Ostjuden), die mit dem Generationsunterschied zusammenhängende Entfremdung zwischen orthodoxem und Reformjudentum.
Weihnachten muß sein
Milton Cranes Vorfahren kommen aus dem Milieu der Jiddisch sprechenden Schtetl-Bewohner; als Milton Sibylle heiratet, erscheint der sonst ihn fördernde Onkel nicht: War Sibylle den Nazis als "Halbjüdin" zu sehr Jüdin, so ist sie nach den Begriffen des Onkels nicht jüdisch genug. Fast sentimental wirkt, aber als Unterpfand der Erinnerung an die Berliner Heimat eben unentbehrlich geworden ist Evas und Sibylles Anhänglichkeit an das deutsche Weihnachtsfest. Nie vergessen hat Sibylle ihre Dankesschuld an das Exilland Amerika, nie aber auch die an England, dessen Widerstand gegen Hitler "ohne nationalen Rausch" auskam. Was die Desillusionierte am Ende störte, war eine gefährliche amerikanische Bewunderung für den Stärkeren. Damit blieb sie ihren altruistischen Grundsätzen treu.
Große Verdienste um die Sammlung dieser Brieftexte und ihre detaillierte Kommentierung hat sich kein Historiker oder Philologe erworben, sondern der zeitweilige juristische Berater der amerikanischen Regierung Peter Crane. Es ist der Sohn Sibylle Ortmann-Cranes. Ein hochgradiger Experte, der auch das Vorwort geschrieben hat, Walter Laqueur, sieht im Band ein einmaliges Dokument der Zeit. Nicht vergessen sei Rolf Bulangs geschmeidige Übersetzung der nichtdeutschen Texte. Bei der Fülle der Namen, auch vieler emigrierter Autoren und Künstler, wäre bei einer Neuauflage ein Register dringend erwünscht. Unfair erscheint mir, daß im Titel Herausgeber, Vorwortschreiber und Übersetzer genannt werden, nicht jedoch Sibylle Ortmann-Crane, die diesem Briefwerk den Geist und die Seele eingehaucht hat.
Aber was soll's? Das Erscheinen dieses Buches ist, auch für den, der sich seit Jahren mit autobiographischer und Erinnerungsliteratur vertraut gemacht hat, ein Ereignis. In den ersten Nachkriegsjahren ging das "Tagebuch der Anne Frank", eines dreizehn, vierzehn Jahre alten holländischen Mädchens, durch die Buchhandlungen der Welt. Bewegend war die Unschuld eines tagebuch schreibenden Kindes, das bald darauf ein Opfer des Holocaust wurde. Das Eindringliche, den Leser Bannende und Bewegende schon an den Briefen der fünfzehnjährigen Sibylle ist der unerschrockene, auf Freiheit bestehende Lebenswille einer jungen Frau, etwas, was Hilde Domin die Lebenshaltung des "Dennoch" genannt hat.
WALTER HINCK
Peter Crane: "Wir leben nun mal auf einem Vulkan". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Rolf Bulang. Vorwort von Walter Laqueur. Weidle Verlag, Bonn 2005. 704 S., geb., 35,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Ereignis: Ein Briefband als Panorama jüdischen Lebens im Exil
Nur wenige Briefkorrespondenten streben zur ästhetischen Höhe des Briefwechsels von Goethe und Schiller. Und nicht alle begnadeten Briefschreiber verstehen sich selbst als Schriftsteller. Die Blüte der Briefliteratur vergangener Jahrhunderte, zu deren Totengräber das Telefon wurde, zehrte wesentlich auch von der Schreiblust gebildeter Dilettanten. Man mußte freilich etwas mitzuteilen haben. Ein gewichtiges Wort sprachen in diesem Literaturzweig die Frauen mit. Aus der klassischen französischen Literatur des siebzehnten Jahrhunderts nicht wegzudenken sind die Briefe der Marquise de Sévigné: ein Spiegel der Literatur und des Theaters wie der gesellschaftlichen Ereignisse am Hof Ludwigs XIV. Ihr bildhaft-eleganter Stil erhält seinen Gegenpol in den drastischen, gleichwohl originellen deutschen Briefen der Lise-Lotte (Elisabeth Charlotte) von der Pfalz, die als Herzogin von Orléans die Zustände am Hof genau beobachtete und beschrieb. Zur Zeit der Romantik markieren wiederum zwei Frauen scharfe Gegensätze. Zwischen schwärmerischer Empfindung und humanitärem Idealismus bewegen sich die Briefe der Bettine von Armin-Brentano, geistreich-realistisch kommentiert Caroline Schlegel-Schelling das kulturelle Leben der Zeit.
Ein erstaunlicher Briefwechsel ist jetzt anzuzeigen. An Zeugen des Exils deutsch-jüdischer Schriftsteller, der Judenverfolgung im "Dritten Reich" überhaupt, besteht mittlerweile kein Mangel mehr. Jene Autobiographien, die große allgemeine Resonanz fanden, machen nur einen Bruchteil der veröffentlichten Darstellungen eigener Lebensläufe aus. Sie sind Dokumente und Mahnrufe zugleich. Doch haben sie alle einen, wenn auch noch so kleinen Authentizitätsmakel, sie berichten über Ereignisse aus dem Rückblick, und dessen Perspektive ist durch spätere Erfahrungen und Interessen mitbestimmt. Briefe sind verläßlicher, sie halten die momentane Beobachtung, Empfindung, Reflexion fest, das Erlebnis selbst, die unmittelbare Erfahrung. Darin gleichen sie dem Tagebuch, dessen dialogische Form sie sind.
Gewicht des Exemplarischen
Den Kern des Bandes "Wir leben nun einmal auf einem Vulkan" bilden die Briefe einer jungen Berlinerin, Sibylle Ortmann, die nationalsozialistische Terminologie zur "Halbjüdin" stempelte und die sich der neuen Lage nach Hitlers Machtergreifung mit bewundernswerter Entschlossenheit stellt. Sie meldet sich als Fünfzehnjährige, obwohl eine der Klassenbesten in der Berliner Fürstin-Bismarck-Schule, vom Gymnasium ab, aus Solidarität mit "volljüdischen" Mitschülerinnen und Lehrern, vor allem ihrer entlassenen Klassenlehrerin Alice Bernstein. Sie reist Ende Oktober 1933 völlig selbständig nach England, um dort nach Möglichkeiten der Fortbildung zu suchen.
Sibylles Großvater Raphael Löwenfeld, Übersetzer und zweifacher Besucher Leo Tolstois auf seinem Gut Jassnaja Poljana, wurde als Begründer des Schiller-Theaters zur markanten Erscheinung des Berliner Kulturlebens. Ihre Mutter Eva drängte es zur Opernbühne, sie ließ sich als Sängerin ausbilden. Die Ehe Evas mit dem "arischen" Illustrator und bildenden Künstler Wolfgang Ortmann, dem Vater Sibylles, überdauerte nur wenige Jahre. Ortmann, ein widersprüchlicher Charakter, biederte sich dem System mit Porträtbüsten Hitlers, Görings und Goebbels' an, weigerte sich andererseits, seine neue Frau (die vierte jüdische Frau) zu verlassen. Die vaterlos aufgewachsene Sibylle fühlte sich verwurzelt allein in der Herkunft aus einem Judentum, das sich in Deutschland eingebürgert glaubte.
Das ganze Gewicht exemplarischer Erfahrungen geben den Briefen Sibylles (vornehmlich im Briefwechsel mit ihrer Mutter) ihre weiteren Lebenssituationen: nach beharrlichem Antichambrieren in Kommissionen Zulassung zum Besuch einer Londoner Handelsschule; am Ende des Kurses gepackt vom Heimweh nach ihrer Mutter und Berlin; Sekretärin beim Handelsattaché der amerikanischen Botschaft in Berlin; 1936 zweite Emigration nach England; nach mühevoller Arbeitssuche Beschäftigung in einem Londoner Uhrenexportgeschäft; beharrliche Bemühungen um Affidavits (Bürgschaften) für die Einreise in die Vereinigten Staaten, wohin inzwischen ihre Mutter und deren Lebensgefährte Fritz Lechner (ebenfalls ein Sänger) ausgewandert sind; endlich Bewilligung des Einreisevisums, Landung in New York im September 1937; Übersetzerin in einem New Yorker Flüchtlingskomitee; Studium am Radcliffe College (Cambridge/Vereinigte Staaten) mit dem besten Abschlußexamen im Juni 1942 (Romanische Sprachen und Literaturen); Heirat mit dem Harvard-Absolventen Milton Crane, der während des Krieges und noch einmal nach dem Krieg in den Dienst der amerikanischen Regierung in Washington tritt; nach letzter Reise zum Heimatkontinent, auch nach Berlin, Krebstod im Mai 1976.
Hinter diesen dürren biographischen Linien offenbaren die Briefe einen unerhörten Reichtum an Beobachtungen zu Zeitgeschehnissen. Folgt Sibylles lockere, immer anschauliche Prosa anfangs ganz dem Pulsschlag der Jugend, so setzt bald eine Prosa ein, die ein sensibles Wahrnehmungsorgan für die Menetekel verrät, die der immer offenere Haß auf die Juden und der zunehmende Druck des Hitler-Regimes an die Wand werfen. Wo andere sich immer noch mit der Hoffnung des "Es wird schon nicht so schlimm werden" trösten, wagt diese jugendliche Frau Voraussagen, die fast "altklug" anmuten, aber nur ihren frühen Realismus bezeugen. "Wir leben nun einmal auf einem Vulkan", schreibt sie im Juni 1937. In England erkennt sie die Appeasement-Politik der Regierung Chamberlain und die Nachgiebigkeit, das Zurückweichen des Westens vor den Forderungen Hitlers klar als verhängnisvolle Wegbereiter des Krieges. Sie ist bei einer Protestdemonstration gegen den englischen Faschismus der Mosley-Anhänger dabei. Ihre anfängliche Linksgläubigkeit erhält starke Risse nach den Moskauer Schauprozessen und geht in Scherben bei der Nachricht vom Hitler-Stalin-Pakt.
Ungebrochen aber bleiben Hilfsbereitschaft und Tatkraft, wenn Hilferufe sie erreichen, zumal jüdischer Verwandter und Freunde. Sie übt sich nie ins Weghören oder Wegsehen ein, auch wenn ihr manchmal die Elendsnachrichten aufs Gemüt schlagen. Es gibt auch die ironisch-bezaubernde Briefschreiberin, etwa in Berichten über das wagemutige "Hitch-Hiken" (als Anhalter fahren), über die Reisen nach Wales und durch Frankreich und Italien mit ihrem zweiten englisch-jüdischen Freund. Erst im Briefwechsel mit ihrem amerikanischen Freund und späteren Ehemann Milton verweigert die Liebessprache jegliches Retuschieren von Streitpunkten. Selten ist mir in der Literatur eine Figur mit einer ähnlichen Mischung von humanitärer Tatkraft und realistischer Skepsis begegnet wie diese Briefschreiberin.
Die andere Seite zu den Ghettos und Vernichtungslagern sind die Odysseen der entkommenen und überlebenden Verfolgten. Die Großfamilie der Nachkommen des Schriftstellers und Theaterdirektors Raphael Löwenfeld und ihre Freundeskreise werden durch die ganze Welt gejagt, nach Prag, durch französische Internierungslager, nach Südafrika, nach Kuba, nach Schweden und durch russische Lager (hier freilich nicht von Hitler). Alle melden sich bei den Ortmanns mit Lageberichten und Hiobsbotschaften, mit Hilferufen und Dankbriefen für beschaffte Affidavits, die für einen Augenblick die eigenen Entbehrungen vergessen lassen. Sibylle ist in dieser Ordnung von Briefschreibern die Sonne, gewiß, aber mit den sie umkreisenden Planeten und Satelliten erscheint ein Mikrokosmos von exemplarischen Lebensläufen, die der alten (christlichen) Legende von Ahasver, dem ewig wandernden und heimatlosen Juden, schreckliche Wirklichkeit verleihen. Aus dem Mosaik von vielen hundert Briefen tritt ein Panorama jüdischen Lebens unter dem Fluch des ständigen Unterwegsseins hervor.
Freiheiten im Berliner "Jüdischen Kulturbund", in dem anfangs Fritz Lechner und gelegentlich Eva Ortmann singen, sind Scheinfreiheiten, Alibis der Gegenpropaganda zu den Enthüllungen der ausländischen Nachrichten. Zu den Dokumenten jüdischen Lebens dieser Zeit gehören aber auch die Eingeständnisse von innerjüdischen Spannungen, ja Feindseligkeiten: das Mißtrauen schon längere Zeit seßhafter gegen die einwandernden oder um Einreisegenehmigung nachsuchenden Juden, eine Kluft zwischen West- und Ostjuden (selbst Sibylle macht gelegentlich kein Hehl aus ihrem Überlegenheitsgefühl gegen traditionalistisch gebliebene Ostjuden), die mit dem Generationsunterschied zusammenhängende Entfremdung zwischen orthodoxem und Reformjudentum.
Weihnachten muß sein
Milton Cranes Vorfahren kommen aus dem Milieu der Jiddisch sprechenden Schtetl-Bewohner; als Milton Sibylle heiratet, erscheint der sonst ihn fördernde Onkel nicht: War Sibylle den Nazis als "Halbjüdin" zu sehr Jüdin, so ist sie nach den Begriffen des Onkels nicht jüdisch genug. Fast sentimental wirkt, aber als Unterpfand der Erinnerung an die Berliner Heimat eben unentbehrlich geworden ist Evas und Sibylles Anhänglichkeit an das deutsche Weihnachtsfest. Nie vergessen hat Sibylle ihre Dankesschuld an das Exilland Amerika, nie aber auch die an England, dessen Widerstand gegen Hitler "ohne nationalen Rausch" auskam. Was die Desillusionierte am Ende störte, war eine gefährliche amerikanische Bewunderung für den Stärkeren. Damit blieb sie ihren altruistischen Grundsätzen treu.
Große Verdienste um die Sammlung dieser Brieftexte und ihre detaillierte Kommentierung hat sich kein Historiker oder Philologe erworben, sondern der zeitweilige juristische Berater der amerikanischen Regierung Peter Crane. Es ist der Sohn Sibylle Ortmann-Cranes. Ein hochgradiger Experte, der auch das Vorwort geschrieben hat, Walter Laqueur, sieht im Band ein einmaliges Dokument der Zeit. Nicht vergessen sei Rolf Bulangs geschmeidige Übersetzung der nichtdeutschen Texte. Bei der Fülle der Namen, auch vieler emigrierter Autoren und Künstler, wäre bei einer Neuauflage ein Register dringend erwünscht. Unfair erscheint mir, daß im Titel Herausgeber, Vorwortschreiber und Übersetzer genannt werden, nicht jedoch Sibylle Ortmann-Crane, die diesem Briefwerk den Geist und die Seele eingehaucht hat.
Aber was soll's? Das Erscheinen dieses Buches ist, auch für den, der sich seit Jahren mit autobiographischer und Erinnerungsliteratur vertraut gemacht hat, ein Ereignis. In den ersten Nachkriegsjahren ging das "Tagebuch der Anne Frank", eines dreizehn, vierzehn Jahre alten holländischen Mädchens, durch die Buchhandlungen der Welt. Bewegend war die Unschuld eines tagebuch schreibenden Kindes, das bald darauf ein Opfer des Holocaust wurde. Das Eindringliche, den Leser Bannende und Bewegende schon an den Briefen der fünfzehnjährigen Sibylle ist der unerschrockene, auf Freiheit bestehende Lebenswille einer jungen Frau, etwas, was Hilde Domin die Lebenshaltung des "Dennoch" genannt hat.
WALTER HINCK
Peter Crane: "Wir leben nun mal auf einem Vulkan". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Rolf Bulang. Vorwort von Walter Laqueur. Weidle Verlag, Bonn 2005. 704 S., geb., 35,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Walter Hinck ist gebannt, bewegt und begeistert von diesen Briefen, deren Edition für ihn ein Ereignis ist: wegen des "exemplarischen Gewichts" der darin reflektierten Lebensgeschichte der Briefautorin sowie des "unerschrockenen, auf Freiheit beharrenden Lebenswillens". Selten ist Hinck in der Literatur eine Figur "mit einer ähnlichen Mischung von humanistischer Tatkraft und realistischer Skepsis" begegnet, wie diese junge Frau, die von den Nazis als "Halbjüdin" eingestuft worden ist und Deutschland über England Richtung Amerika verlässt. Mit bewundernswerter Deutlichkeit schildere Sibylle Ortmann den aufkommenden Nationalsozialismus in Berlin und die Stationen ihrer Emigration. Damit bot sie dem Rezensenten einen "unerhörten Reichtum" an Beobachtungen zum Zeitgeschehen , mutige, vorausschauende Urteile und Zeugnisse tiefer Menschlichkeit. Ungerecht findet Hinck allerdings, dass nicht der Name Sibylle Ortmann-Cranes auf dem Cover steht, deren Briefe für Hinck den Kern des Buches bilden und ihm "Geist und Seele eingehaucht" haben, sondern der ihres herausgebenden Sohnes. Auch vermisst er ein Register mit den in den Korrespondenzen erwähnten Künstlern und Autoren.
© Perlentaucher Medien GmbH
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