Evas Sohn Kevin hat eine furchtbare Gewalttat begangen: in der Schule hat er mehrere Menschen getötet. Von allen verurteilt und von jetzt an sich gestellt findet Eva den Mut, sich in aller Offenheit quälenden Fragen auszusetzen: Hätte sie ihre Ehe retten können? Hätte sie ihr Kind mehr lieben sollen? Hätte sie das Unglück verhindern können? 'Wir müssen über Kevin reden' ist ein außerordentlich mutiges Buch, das in Amerika und England zunächst durch Mundpropaganda ein Erfolg wurde. Lionel Shriver bekam für diesen Roman den Orange Prize, einen der wichtigsten internationalen Literaturpreise.
Lionel Shrivers Roman hinterfragt die unbedingte Mutterliebe
Mütter sind nicht gerade Mode als literarischer Topos. Eigentlich sind sie sogar erstaunlich unterrepräsentiert - jedenfalls jene Mütter, deren Kinder noch nicht alt genug sind, sich schreibend mit ihnen auseinanderzusetzen. Fürchten Autoren ihre lebenslange Macht? Ist ihr Geheimnis zu tief - oder erscheint es zu banal? Oder verströmt die Mutterrolle und -figur einen kittelschürzeligen Mief? Lionel Shriver selbst ist nicht Mutter. Aber sie hat einen Roman geschrieben, der nicht nur Müttern nahegeht. In Amerika hat er ebenso großes Aufsehen erregt und Debatten angestoßen wie in Großbritannien, wo der Autorin im vergangenen Jahr der Orange Prize zugesprochen wurde.
Der Roman enthält achtundzwanzig Briefe einer Verlegerin namens Eva an ihren entfremdeten Ehemann Franklin, freier Mitarbeiter von Werbeagenturen. Es sind achtundzwanzig Versuche, eine Erklärung zu finden für "Donnerstag", jenen Tag, an dem der fünfzehnjährige Sohn Kevin sieben Mitschüler, seine Englischlehrerin sowie einen Mitarbeiter der Cafeteria in der Turnhalle seiner Schule hinrichtet. Wann auch immer jugendliche Amokläufer die Nachrichten beherrschen, wird ausnahmslos gefragt: Warum haben die Eltern nicht rechtzeitig bemerkt, was sich anbahnte? Gab es keine Alarmsignale? Die naheliegende Vermutung lautet stets: Das Zuhause, die Mutter muß versagt haben.
Das Thema Mutterliebe wird so verknüpft mit einem Drama, für das Ortsnamen wie Columbine oder Erfurt stehen. Das machte die kinderlose Autorin, Fiktion hin, Jugendkriminalität her, kurzum zu einer Art Auskunftsperson. Darum dürfte es ihr allerdings kaum zu tun sein.
Das Postulat unbedingter Mutterliebe wird hier in Frage gestellt - mit radikaler, manchmal geradezu pathetischer Emphase. Als Vehikel dient Shriver die Lebensgeschichte von Kevin, von dem Moment an, als Eva das erste Mal über eine Schwangerschaft nachdenkt, bis hin zu den gespenstischen Besuchen bei ihrem Sohn in der Jugendstrafanstalt. Und selbst sanftmütigste Muttertiere werden sich bei der Lektüre fragen, ob sie an der Seite dieses Kindes nicht auch durchgedreht wären. Kevin ist ein Monster, sein Porträt nicht mehr und nicht weniger als eine Studie des Bösen.
"Alles hängt davon ab, wie sehr Menschen es mögen, hier zu sein, einfach am Leben zu sein. Ich glaube, Kevin haßte es." So steht es in einem der Briefe. Die Verweigerung erscheint als Movens von Kevins gesamter Entwicklung. Als Säugling wendet er sich angeekelt von der mütterlichen Brust ab. Im Krabbelalter bewegt er sich nicht. Als Vierjähriger macht er noch in die Windeln, als Siebenjähriger verfolgt er Mitschüler mit kleinen Gehässigkeiten. Als Zehnjähriger hat er sich bereits völlig in sich selbst zurückgezogen und zieht mit einem ihm weit unterlegenen Jungen, einer Art Zombie, umher, mit dem man Steine von der Brücke werfen kann. Mit fünfzehn schließlich ist der perfekte Zyniker vollendet; er heckt einen teuflischen Plan aus, der ihn zur Berühmtheit macht. In seiner Antwort auf die unvermeidliche Reporterfrage nach dem Motiv seines Mordanfalls gelingt es ihm, sein Handeln als eine Art Dienstleistung darzustellen: "Die Welt ist eingeteilt in Gaffer und Angegaffte, und es gibt immer mehr Publikum und immer weniger zu sehen, so sehe ich das. Die Menschen, die wirklich was unternehmen, gehören zu einer verdammt bedrohten Art."
Es geht Eva nicht darum, ihren Anteil an dieser grauenvollen Geschichte zu übertünchen. Für ihre Selbstsüchtigkeit, ihre Launen, ihre mangelnde Zuwendung übernimmt sie Verantwortung. Aber nicht für den Rest, "nicht für den ganzen Kevin". Die Briefe geraten daher auch kaum zur Verteidigungsschrift. Vielmehr sind sie Zeugnis einer quälenden Selbstbefragung: Was habe ich versäumt? Hätten wir unsere Ehe retten können? Hätten wir professionelle Unterstützung suchen müssen, als wir unsere Hilflosigkeit erkannten? Wie konnte uns dieses Kind in seiner befremdlichen, unkindlichen Leidenschaftslosigkeit so entgleiten? Warum war er ebensowenig zu begeistern wie zu bestrafen und dabei doch erkennbar intelligent?
"Ich hatte es mir leichter vorgestellt, Mutter zu sein", gibt sie schließlich zu. Und wahrscheinlich wäre sie besser nie eine geworden. Der Entwurf von Mutterschaft als harmonischer Erweiterung einer großen Liebe zwischen Mann und Frau erweist sich als verhängnisvolle Illusion. Als Kevin gerade geboren ist und sie ihn ansieht, wird sie nicht etwa von Zärtlichkeit überwältigt, sondern spürt - nichts. Diese Verweigerung wird sowohl von der Außenwelt als auch von ihr selbst als peinliches Versagen gewertet.
Und so gerät der Briefroman zur Dekonstruktion des Mythos von glücklichen Beziehungen zwischen Mutter und Kind, getragen von Wärme, Liebe und Geduld. Vater Franklin geht jedem Konflikt aus dem Weg, nicht ganz untypisch für enorm beschäftigte Väter, entschuldigt sämtliche Fehler des Knaben, ignoriert seine Verhaltensauffälligkeit und gibt sich als allverständiger Daddy-Buddy, der seinen "Kev" gegen mütterliche An- und Ausfälle in Schutz nimmt. Kevin ignoriert ihn, während er die Mutter immerhin noch als Haßobjekt wahrnimmt: "Soweit ich es beurteilen kann, ist das einzige, was dich von anderen strohdummen Amerikanern unterscheidet, daß du nicht dick bist", läßt er sie wissen. "Ich weiß nicht, wie er so geworden ist, aber er ist der Horror", resümiert sie. Mag sein, daß sie Kevins Eigenschaften, seinen Charakter ab und an überzeichnet. Seine Einfälle immerhin bergen durchweg eine gewisse Realitätsnähe.
Eine Frage, die Lionel Shriver nicht explizit stellt, sich dem Leser jedoch aufdrängt: Könnte es sein, daß die Bedingungen und Umstände, unter denen Kindheit heute in vielen Fällen stattfindet, ein, zwei, viele Kevins heranwachsen lassen? Könnte es sein, daß es an der Zeit ist, darüber nachzudenken, warum sich Mütter häufig überfordert fühlen? Warum so viele Frauen ihren Lebensentwurf mit der Mutterrolle nicht mehr in Einklang bringen? Wenn wir anfingen, darüber nachzudenken, hätte Lionel Shriver sehr viel mehr erreicht, als einfach einen guten Roman geschrieben zu haben.
ANNA VON MÜNCHHAUSEN
Lionel Shriver: "Wir müssen über Kevin reden". Aus dem Englischen übersetzt von Gesine Strempel und Christine Frick-Gerke. List Verlag, Berlin 2006. 560 S., geb., 19,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Anna von Münchhausen zeigt sich beeindruckt von diesem nicht gerade bequemen Buch, mit dem Lionel Shriver in den USA und Großbritannien einige Debatten angestoßen hat. Im Zentrum steht die geistige Auseinandersetzung einer Mutter mit ihrem Sohn, der wegen eines Amoklaufs im Gefängnis sitzt. Der Autorin gelinge es, notiert die Rezensentin angetan, mehr als nur deren individuelles Schicksal zu reflektieren. Vielmehr stellt Shriver den Mythos in Frage, der Mutter-Kind-Beziehungen umrankt und damit auch das "Postulat unbedingter Mutterliebe - und das "mit radikaler, manchmal geradezu pathetischer Emphase". Auch wenn die Mutter die Eigenschaften ihres entfremdeten Sohns manchmal überspitzt darstelle, zeichnen sich die dargestellten Situationen und Gefühle durchweg durch eine "gewisse Realitätsnähe" aus, wie Münchhausen lobt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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