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Sie verzichten dankend auf einen Arbeitsvertrag und verwirklichen den alten Traum vom selbstbestimmten Leben. Mittels neuer Technologien kreieren sie ihre eigenen Projekte, Labels und Betätigungsfelder. Das Internet ist für sie nicht nur Werkzeug und Spielwiese, sondern Einkommens- und Lebensader: die digitale Boheme. Ihre Ideen erreichen anders als bei der früheren Boheme vor allem über das Web ein großes Publikum und finanzieren sich damit. Ein zeitgemäßer Lebensstil, der sich zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor entwickelt.Auf Angestellten-Frust kann man mit der Entdeckung der Faulheit…mehr

Produktbeschreibung
Sie verzichten dankend auf einen Arbeitsvertrag und verwirklichen den alten Traum vom selbstbestimmten Leben. Mittels neuer Technologien kreieren sie ihre eigenen Projekte, Labels und Betätigungsfelder. Das Internet ist für sie nicht nur Werkzeug und Spielwiese, sondern Einkommens- und Lebensader: die digitale Boheme. Ihre Ideen erreichen anders als bei der früheren Boheme vor allem über das Web ein großes Publikum und finanzieren sich damit. Ein zeitgemäßer Lebensstil, der sich zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor entwickelt.Auf Angestellten-Frust kann man mit der Entdeckung der Faulheit reagieren, wie es Corinne Maier in ihrem Bestseller fordert: Arbeitszeit absitzen, sicheres Gehalt einstreichen. Die digitale Boheme repräsentiert die mutigere Alternative: Immer mehr junge Kreative entscheiden sich für das Leben in Freiheit. Ihr Hauptziel ist nicht das Geldverdienen, sondern ein selbstbestimmter Arbeitsstil, der den eigenen Motiven folgt in unsicheren Zeiten vielleicht die überlegene Strategie. Denn ihre enge Einbindung in soziale, künstlerische und digitale Netzwerke bringt ständig neue, teilweise überraschende Erwerbsmöglichkeiten mit sich. Sie schalten Werbebanner auf ihren Websites, handeln mit virtuellen Immobilien, lassen sich Projekte sponsern oder verkaufen eine Idee an einen Konzern. Ihre Produkte und ihre Arbeitsweise verändern den Charakter der Medien und des Internets, bald auch den der Gesellschaft.Holm Friebe und Sascha Lobo porträtieren die digitale Boheme: Sie stellen erfolgreiche Konzepte und innovative Ansätze vor und erklären wirtschaftliche, technische und soziale Entwicklungen und Hintergründe. Ihre spannende Analyse einer zukunftsgewandten Daseinsform inspiriert dazu, so zu arbeiten, wie man leben will.
Autorenporträt
Holm Friebe ist Volkswirt, Geschäftsführer der Zentralen Intelligenz Agentur (ZIA) in Berlin und Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste. Er ist Autor mehrerer Sachbücher.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.12.2006

Sie nennen es Arbeit

Die erste Auflage des Buches war nach wenigen Wochen weg. Es trifft eine Aufbruchsstimmung. Die beiden Autoren zählen sich selbst zur digitalen Bohème. "Wir nennen es Arbeit" ist ein vertrauenerweckender Aufruf, es mit der Unsicherheit und Freiheit fern des angestellten Lebens einmal zu versuchen.

Vorab: Zu Weihnachten werden alle Büros schließen. Na schön, denkt man, dann kann man ja völlig beruhigt nach dem Weihnachtsfest in den Winterurlaub fahren. Wollen Sie tatsächlich so weiterleben? Das Problem ist, wenn man nach dem Urlaub zurückkommt und nach alter Sitte und Gewohnheit ins Büro gehen möchte, wird man feststellen: Das Büro hat immer noch geschlossen, und das Büro bleibt geschlossen. Das wird jetzt eng, denkt man. Das wird jetzt ganz, ganz eng werden.

Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man holt einen Hammer, schlägt die Tür ein und setzt sich an seinen Schreibtisch, einfach weil man nicht mehr anders kann und nicht mehr anders mag. Man ist, man mag es drehen und wenden, wie man will, im Laufe der Jahre eine Art Buchhalter geworden, nicht so einer, wie ihn der große portugiesische Schriftsteller Fernando Pessoa einmal dargestellt hat. (Uns fehlt dessen Unruhe, die entscheidend dafür ist, einen Fernando-Pessoa-Gedanken, ob prosaisch oder poetisch, zu haben.) Da sitzt man nun am Schreibtisch und kommt nicht weiter, aber es beruhigt irgendwie.

Die andere Möglichkeit vor der verschlossenen Tür ist: Man macht kehrt und geht ins Café. Wenn man in Berlin wohnt, geht man sofort ins Café Sankt Oberholz am Rosenthaler Platz, Berlin-Mitte. Das ist bekannt dafür, daß hier Leute auftauchen, die nicht ins Büro gehen, weil sie dort nicht hingehen wollen, weil das Büro für sie geschlossen ist. Die sitzen hier rum, trinken einen Kaffee und schauen stundenlang in ihren Laptop hinein. Wenn ihnen die Birne rauscht, gehen sie wieder. Geht man zu denen hin und sagt: Läuft das so jeden Tag ab?, sagen die prompt: Wir nennen das Arbeit.

Zwei von diesen jungen Leuten, die nicht mehr brauchen als einen Laptop und einen Internetzugang, haben für alle anderen Leute, die in diesem Café und in allen anderen Cafés dieser Welt oder daheim oder sonstwo mit ihrem Laptop und dem Internetzugang sitzen, ein Wort gefunden, ein wahres Zeitschlüsselwort, mit dem von einem Moment auf den anderen alles klar und anders wird: "digitale Bohème". Jetzt weht ein anderes Lüftchen durch das Café: Paris, neunzehntes Jahrhundert, Berlin, zwanziger Jahre, Alfred Döblin (der auch das Café Sankt Oberholz aufsuchte): das war die analoge Bohème (Leute in Cafés ohne Festanstellung und ohne Internetzugang). Heute in Berlin, Zürich und überall hier und dort: das ist die digitale Bohème (Leute in Cafés ohne Festanstellung, aber mit Internetzugang). Es gibt kein Proletariat mehr, es gibt keine Bourgeoisie, dafür (raus aus dem Mittelstandsbau) gibt es eine kleine neue Bürgerlichkeit und eine kleine neue Bohème.

Das Buch, das die beiden jungen Leute von der digitalen Bohème geschrieben haben (sehr flott geschrieben haben, wahrscheinlich erledigen sie ihre Projekte ebenso flott, wahrscheinlich gehen sie auch flott durch die Welt), ist ein Manifest, in dem sie erklären, was mit der Welt, die ihre Welt ist, und was mit ihnen selbst los ist. Den beiden geht es offenbar gut, die Sätze sind rund. Sie machen unter allen guten Menschen in der Welt der Arbeit vor allem und zuerst einen Unterschied: Sag, gehst du ins Angestelltenland, oder gehst du nicht ins Angestelltenland? Das ist die stolze Gretchen-Frage, die beiden nennen es, als kämen sie durch die Prärie auf einem Mustang dahergeprescht, die Wie-willst-du-leben-Frage.

Vor der Lektüre dieses Buches konnte es völlig normal gewesen sein, ins Büro zu gehen. Nach der Lektüre dieses Buches ist das nicht mehr völlig normal, sondern mehr kraß (hoffen die Autoren). Draußen bewegt sich die Welt, drinnen bewegt man sich auf der Karriereleiter. Draußen steht man auf seinen eigenen schnellen Beinen, drinnen sitzt man auf seinem platten Hintern. Draußen erwarten einen tausend Netzwerke, drinnen erwarten einen tiefe Depressionen. Draußen arbeiten die Leute so, wie sie leben wollen, drinnen leben die Leute so, wie sie arbeiten müssen.

Die digitale Bohème lebt von der Hand in den Mund (sie kennt die Armut, aber dagegen kann man etwas machen, Bücher schreiben und in Verlagen mit festen Mitarbeitern herausbringen), und sie lebt von Projekten, wie die Angestellten vom Gehaltszettel und von den Aufstiegschancen zehren. Sie schmust mit den neuen WWW-Technologien und wohnt in allen Ecken der neuen WWW-Märkte wie mit Lebenspartnern auf engstem Raum zusammen, sie pfeift (in jungen Jahren) auf die Rente (die ist, bis sie alt sind, sagen sie, nichts mehr wert), sie pfeift aber nicht auf den Pool von Kontakten (nur noch Freunde werden einem helfen, wenn man alt und klapprig ist). Sie wirft sich in die Brust und versteht sich als Ausweg aus der Fixierung auf den Personalchef, den sie nicht persönlich kennenlernen möchte.

Die digitalen Bohemiens hängen nicht rum, sondern entwickeln Konzepte, Blogs, Labels, Marken, Ideen (die beiden Autoren sind großzügig und halten sich nicht allzu lange bei Inhalten auf). Sie arbeiten nicht an einer Gegenkultur, weil man mit der Kultur den Kapitalismus nicht umhaut (vor allem wenn man nebenbei für Werbeagenturen arbeiten muß, damit Geld in die Kasse kommt). Sie bewegen sich mit ihren Angeboten und Nachfragen in dem riesigen kleinteiligen Mark des digitalen Netzes (gleich Händlern und Handwerkern auf einem Basar in Istanbul). Sie finden Bürgergeld sinnvoll, Revolution übertrieben. Sie haben das starke Gefühl, einen Zipfel der Zukunft in der (oft leeren) Hand zu halten und neue Formen der Arbeit zu antizipieren, von denen der amerikanische Philosoph Frithjof Bergmann schwärmt. Geld spielt nicht die erste Rolle in ihrem Leben, sondern Autonomie. Wenn es ein Motto für sie gibt, dann halten sie es mit dem Schriftsteller Rainald Goetz und sagen: Don't cry - work. Bessere Mitarbeiter findet unsere Gesellschaft nicht wieder.

Für sie gibt es keinen Feierabend, sie trennen nicht streng zwischen privat und beruflich. Sie möchten aufs Ganze gehen. (Auch Nomaden in der Wüste gehen, wenn sie losgehen, aufs Ganze.) Ohne das World Wide Web und die technologischen Errungenschaften der letzten Jahre gäbe es sie nicht. Und es wird ihnen, wenn die Technik der Datenströme sich weiter so rasant entwickelt, immer besser gehen. Sie sitzen auf dem richtigen Zweig, wenn sie auch nicht Millionäre werden. Während man das Buch der beiden digitalen Bohemiens liest, scheint die Sonne gelb, und der Himmel ist frisch blau, und man wird völlig neugierig, man möchte sofort ins Café Sankt Oberholz gehen und Konzepte, Labels, Programme, Ideen entwickeln. Am besten man verschenkt das Buch zu Weihnachten an die jungen Leute rund um einen herum, die noch nicht wissen, was sie später werden wollen, aber mitbekommen haben, daß alle Bürostühle schon besetzt sind und es sehr langweilig sein kann, sich davor in einer Warteschlange anzustellen.

Wann hat ein Buch der Jugend so viel Hoffnung auf gutes Gelingen gemacht? Im Grunde ist das ein Hesse-Buch fürs digitale Zeitalter. Ein prosaischer "Steppenwolf". Eine Anleitung zum selbständigen Glücklichwerden. Eine Aufforderung zum Ausstieg aus dem alten schleppenden Alltag, der um 9 Uhr beginnt und um 18 Uhr endet. Man muß sich nur technisch in Schwung bringen und eine Art Hippieleben führen mit ganz viel High-Tech - und wissen, was da draußen im WWW, im zweiten Leben, passiert, das dem ersten Leben häufig sagt, wo es langgehen soll.

Man darf von der digitalen Bohème nicht zu viel erwarten. Auch die alte, die analoge Bohème hatte ihre Macken und Grenzen. Aber sie hat Leute angezogen, die eine Vorstellung vom Leben hatten und eine Vorstellung davon, was sie dort machen wollten beziehungsweise was sie dort auf keinen Fall machen wollten. Ein Bohemien, ob analog oder digital, steht morgens auf und sagt: Wieder ein Tag, an dem ich versuchen werde, so zu leben, wie ich leben möchte. Eines ist klar: Aus diesem Pool der vernetzten Kreativen und Freiberufler wird kein neuer Jürgen Habermas kommen, auch wenn sie sich Gedanken über die Strukturen der neuen Öffentlichkeit machen, auch wenn sie in den Röhren der Kommunikation stecken.

Für alle, die schon jetzt Stunden vor dem Computer verbringen und dabei das Gefühl haben, daß sie an etwas teilhaben, was da und doch nicht ganz da ist, für all diese Leute ist dieses Buch genau das richtige (siehe "www.wirnennenesarbeit.de"). Wer lieber den ganzen Tag Fontane liest (auch sehr schön), wird sich wahrscheinlich etwas wundern über das, was er hier über die erste und zweite (die WWW-)Welt der digitalen Bohemiens erfährt.

Werden aus ihnen gute Väter und Mütter? Die beiden Autoren halten nicht viel von der bürgerlichen Kleinfamilie. Ihre liebste Kategorie für das kleine soziale Zusammensein ist "der Schwarm". Das klingt nach Frank Schätzing, meint aber eine Art freier Kommune (serielle Monogamie und Patchworkstrukturen, sagten die beiden in einem Interview) mit ernstgenommenen elterlichen Verpflichtungen. Sie fordern vom Staat Kindereinrichtungen, die rund um die Uhr aufhaben. (Die Kinder werden sich bedanken, wenn sie abends um neun Uhr in solche Einrichtungen abgeschoben werden, damit Papa und Mama ihren Projekten hinterherhechten können.)

Ohne die Leute im Büro, ohne die Leute mit den festen Arbeitszeiten würden die Bohemiens von dem Zweig plumpsen, den die beiden Autoren grün anmalen. Ohne die Leute im Büro, ohne die Leute mit den festen Arbeitszeiten, das wissen die beiden Autoren, stünden die Chancen für ein aufregendes Leben ohne bezahlten Winterurlaub und 13. Monatsgehalt schlecht.

Aber: Ein Bohemien wäre kein Bohemien, wenn er sich deswegen ein schlechtes Gewissen machen würde. In ihm summt der Refrain (und immer mehr summen mit): Etwas Besseres als die Festanstellung finden wir allemal.

Holm Friebe, Sascha Lobo: "Wir nennen es Arbeit". Die digitale Bohème oder Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung. Heyne Verlag, München 2006. 303 S., br., 17,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2012

Bitte nicht brüllen
Weder Technik noch Aufklärung werden alle Konflikte lösen: In der anstrengenden Debatte um die digitale Zukunft
weisen Kathrin Passig und Sascha Lobo den Weg – mit ihrem Buch „Internet – Segen oder Fluch“
VON JENS BISKY
In einer Fernseh-Talkshow behauptete Helmut Schmidt vor Kurzem, wir seien „eine Welt von Twitterern geworden, von Internetnutzern und Fernsehzuschauern. Wir sind eine oberflächlichere Gesellschaft als noch vor zwanzig Jahren.“ Das dürfe nicht sein. In dieser Klage mischt sich Sorge mit Klischees. Da werden sehr verschiedene Formen, miteinander zu kommunizieren, über einen Kamm geschoren. Manches stimmt einfach nicht. Twitter zählt in Deutschland rund 2,4 Millionen aktive Nutzer, das ist dann doch eine Minderheit, verglichen mit der Zahl derer, die eine Tageszeitung abonniert haben. Und waren wir nicht bereits vor zwanzig Jahren eine Gesellschaft der Fernsehzuschauer? Trägt man bereits durch Verfassen von E-Mails zur Kultur der Oberflächlichkeit bei? Und was meint das überhaupt, „oberflächlicher“? Wie wird die Tiefe gemessen, wer eicht den Maßstab? Besonders tief geht diese Art der Kulturkritik nicht, dennoch wäre es ein Trugschluss, so zu tun, als sei die digitale Welt ohne Probleme, zumindest für die, die sich auskennen in ihr.
  Die formelhafte Verbindung von Twitter und Oberflächlichkeit taugt nicht zur Beschreibung, aber das will sie auch nicht. Sie soll ein Unbehagen artikulieren, Verunsicherung ausdrücken, da schon wieder Gewissheiten schwinden. Dieses Unbehagen wäre ernst zu nehmen, denn es wird den Umgang mit dem Internet prägen. Der Bestseller „Digitale Demenz“ des Psychologen Manfred Spitzer mag alle Schwächen alarmistischer Streitschriften in sich vereinen. Der Hinweis darauf beantwortet jedoch die Frage nicht, wie man Kinder erziehen soll, damit sie inmitten der digitalen Revolution souverän agieren und ihr Glück finden können. Revolutionen erhöhen nun einmal den Deutungsbedarf. Der bleibt, auch wenn man erst einmal wenig Lust verspürt, einer Debatte zu folgen, in der Schwarz-Weiß-Malerei vorherrscht und in der die Diffamierung Andersmeinender oft Argumente ersetzen muss.
  Nach dem Zank um Zensursula, Acta, das Urheberrecht und unsere allgemeine Oberflächlichkeit scheint ein griechisches Wirtschaftswunder wahrscheinlicher als eine Versachlichung des Streits zwischen Netzoptimisten und Skeptikern. Aber wer weiß? Immerhin liegt nun ein Wegweiser durch die Untiefen der Diskussion vor. Verfasst haben ihn Kathrin Passig und Sascha Lobo. Beide arbeiten dort, wo die interessanteren Gegenwartsfragen auftreten, im Grenzverkehr zwischen digitaler und analoger Welt. Beide sind gleichermaßen netz- wie buchaffin, erfahrene Blogger, Twitterer und erfolgreiche Sachbuchautoren. Kathrin Passig hat obendrein 2006 in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen, in dem Jahr also, in dem Sascha Lobo gemeinsam mit Holm Friebe die Lage der digitalen Bohème beschrieb. Das neue Buch von Passig und Lobo, „Internet – Segen oder Fluch“, taugt zur Austreibung des Unproduktiven, bloß Reflexhaften. Sie beginnen mit einer kleinen, angewandten Diskursethik. Fragt mich einer in einer fremden Sprache nach dem Weg zum Bahnhof und ich verstehe die Frage, kann ihm aber nur auf Deutsch antworten, was er nicht versteht, dann hat es wenig Sinn, die Antwort immer lauter zu wiederholen und dann ins Brüllen überzugehen. An diese Szene erinnern die Autoren viele Auseinandersetzungen um das Netz und die Folgen. Was dagegen tun? Erstens wäre zu begreifen, dass wir ein uraltes Stück wieder aufführen, es heißt „Das Alte und das Neue“, manche würden es „Die Natur des Menschen und der Fortschritt“ oder „Wir und die da“ nennen. Zweitens kann man sich von der Illusion verabschieden, dass Technik oder Aufklärung die Probleme lösen werden oder die nächste wissenschaftliche Studie. Drittens ist davon auszugehen, dass „Weltanschauung oder Lebensweise anderer Menschen“ nicht dadurch falsch werden „dass diese Menschen einsam, gestresst, frustriert, introvertiert, ängstlich, schlecht frisiert, arm oder hässlich sind“. Es hat also keinen Zweck zu behaupten, „wer was anderes behauptet, ist dick!“. Auch wäre der trügerischen Evidenz von Metaphern zu misstrauen.
  Was also tun? Passig und Lobo zerlegen die großen Erzählungen vom unaufhaltsamen Fortschritt durch die digitale Revolution oder vom notwendigen Rückzug auf das ewig Gute, Wahre, Menschen Angemessene und ersetzen sie durch die Beschreibung von Konfliktfeldern, auf denen es um Interessen geht. Sie erinnern daran, dass „online“ und „offline“ temporäre Zustände bezeichnen. Jeder, der sich neugierig in der Gegenwart bewegt, ist mal Nutzer, mal Urheber, mal datengierig, mal privatheitsschutzversessen, mal oberschlau und mal oberflächlich, will heute im Netz anonym kommentieren und morgen als Person, die er ist, Freunde und Geliebte finden.
  Der Leser merkt dem Ton des Buches an, wie sehr weltanschauliche Verhärtungen, Einseitigkeiten und Dummheiten in der Debatte die Autoren nerven. Dagegen bieten sie Listen nicht so guter Argumente und möglicher Szenarien, Spott und einige Pointen auf, von denen nicht jede zündet. Aber dem Streit um Oberflächlichkeit mit dem Wort „Unterflächlichkeit“ zu begegnen, das hat Witz. Am besten sind Passig und Lobo dort, wo sie informieren. Ein Professor für Arbeitsorganisation ließ die Facebook-Profile von Berufseinsteigern analysieren, um herauszufinden, wie geeignet sie für ihren Job waren. Die Anfänger hatten auch die seit Jahrzehnten vervollkommneten üblichen Tests absolviert. Nach einem halben Jahr wurden die Personalchefs über die tatsächlichen Leistungen befragt. Und siehe da: „Die Einschätzungen anhand der Facebook-Profile erwiesen sich als signifikant treffsicherer als die standardisierten Tests“. Mit dem Gegensatz von „Oberfläche“ und „Tiefe“ ist das nicht angemessen zu beschreiben.
  Die Vielfalt im digitalen Wandel wird noch eine ganze Weile anstrengend bleiben, wer da behauptet, er besitze den Überblick, schummelt, um es milde zu sagen. Das Netz ist für Lobo und Passig ein Motor der „schöpferischen Zerstörung“, der Disruption. Der Zwang zur Veränderung, zum Neuentwurf von Geschäftsmodellen, Karriere- und Lebensplänen wächst, Zeitungsgewerbe oder Verlagswesen werden in zwanzig Jahren mit hoher Wahrscheinlichkeit sehr anders aussehen als heute. Wer da nicht in der Nostalgienische verschwinden will, sollte seine Kraft nicht im Gezänk zwischen „Contentmafia“ und „Raubkopierern“ vergeuden. Statt von „geistigem Eigentum“, so Passig und Lobo, wäre besser von „Immaterialgütern“ zu sprechen, statt über „Besitz“ besser über „Zugang“: „Ein Lied ist kein Fahrrad“. Wer dieses Buch kauft, findet auf dem Schutzumschlag auch einen Download-Code für die E-Book-Version. Die kann auf den verschiedensten Geräten genutzt werden. Wer weiter uninformiert und verbiestert argumentiert, hat also keine gute Ausrede mehr.
  In der Gutenberg-Welt wurden viele Anstrengungen zur Kultivierung der Bewohner unternommen: Zahlreiche Bücher gibt es über die Kunst des Verlegens, des Lesens, des Schreibens, des Kritisierens. Wäre es nicht sinnvoller, statt unter Aufgeregten über Entweder-Oder-Fragen zu plappern, mehr über eine vernünftige Gestaltung der digitalen Welt zu streiten? Auch da wird es unvereinbare Wünsche geben, aber das Schöne an der digitale Revolution ist, dass sie noch läuft. Dieses Buch zeigt, wie man gut gelaunt die Chancen wahrnimmt, ohne die destruktive Seite der schöpferischen Zerstörung klein zu reden.    
Kathrin Passig, Sascha Lobo: Internet. Segen oder Fluch. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2012. 320 Seiten, 19,99 Euro.
„Online“ und „offline“ sind nur Daseinszustände, und durch Berlin kann man in jedem Zustand fahren.
FOTO: DPA
  
  
  
  
Sascha Lobo ist Strategieberater. Gemeinsam
mit Holm Friebe verfasste er 2006 das Buch „Wir nennen es Arbeit“.
FOTO: STEFAN BONESS/IPON
  
Kathrin Passig gewann 2006 den Bachmann-Preis in Klagenfurt. Gemeinsam mit Sascha Lobo schrieb sie zuvor das Buch „Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin“.
FOTO: JAN BÖLSCHE
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Richtig interessant wird es für Rezensent Lenz Jacobsen erst, wenn die Autoren auf die realen Internetplattformen wie YouTube und MySpace zu sprechen kommen. Die intellektuelle Unterfütterung hingegen mit vielen Zitaten von Marx bis Bordieu hält er für "gut lesbar", aber letztlich Papier. Wichtigste Währungen für die anfangs immer unbezahlte Arbeit im Netz sei den Autoren zufolge "Aufmerksamkeit" und "Respekt". Wenn sie daraus für die Zukunft mögliche reale Verdienstquellen ableiteten, ist dies für den Rezensenten nicht mehr als eine "diffuse Hoffnung". Und ihrem Credo, lieber unabhängig und kreativ zu werkeln als angestellt und verblödet, begegnet er mit dem Hinweis auf die Bloggerin Mercedes Bunz, für die digitale Bohemiens nur die unterbezahlten Hilfszwerge der Kulturindustrie darstellten.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Viele Eltern erleben diesen Schock: Ihre Kinder, gut ausgebildet und motiviert, finden keine feste Arbeitsstelle mehr. Was tun? "Schluß mit diesem Irrsinn!", fordern Sascha Lobo, 31, und Holm Friebe, 34, in ihrem Buch "Wir nennen es Arbeit" - und sorgen damit bundesweit für Schlagzeilen." Bunte