Ein fünfzehnjähriges Mädchen, das um jeden Preis geliebt werden will, sich aber den Falschen aussucht. Ein Geschwisterpaar, das seit frühester Jugend auf sich gestellt ist und sich mit Gaunereien über Wasser hält. Ein alleinerziehender Vater, der der Spielsucht verfällt und bald seine Kinder nicht mehr ernähren kann. Vom Schicksal gezeichnete Figuren, die in einem Strudel aus Brutalität, Humor, Tragik und Liebe aufeinandertreffen und gegen alle Unbill um ihr Glück kämpfen. Wir sehen uns morgen ist ein sprachlich herausragender Roman über Existenzangst, Überleben und die Suche nach Liebe.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.08.2017Es geht ihnen schlecht, und sie suchen das Glück
Helden der Metamoderne: Tore Renbergs hemmungsloser, lebendiger Roman erzählt vom Gefühl der Gefühle in seiner Heimatstadt Stavanger
Gleich auf der ersten Seite dieses großen Romans stehen drei Sätze hintereinander, die sich zu widersprechen scheinen: "Vielleicht gar nicht so schlecht. Davon kann einem echt übel werden. Es wird nie im Leben hinhauen, oder?" Drei Sätze, die sofort den gesprochenen, teils selbstbewussten, teils selbstzweifelnden Ton anklingen lassen, besonders aber das Paradoxe der folgenden 730 Seiten. Hier spricht einer, der verzweifelt ist, aber nicht aufgibt, der keine Zukunft sieht, aber die Hoffnung noch nicht begraben will. Das Paradoxe wird einem auf jeder Seites dieses Buches begegnen, das hemmungslos und depressiv, draufgängerisch und nachdenklich, brutal und feinfühlig ist - und frisch und leidenschaftlich übersetzt.
Zwei von Renbergs Büchern sind bislang auf Deutsch erschienen; sie fielen nicht weiter auf. Das eine, "Das Wunder im Erdbeerfeld" (btb, 2002), war die Geschichte einer religiösen Verblendung. Das andere, "Und zum Frühstück heller Sirup" (dtv, 2011), erzählte von einem Mann, dem unvermutet eine siebenjährige Tochter präsentiert wird. Letzteres war übrigens der dritte von bislang fünf Romanen über einen gewissen Jarle Klepp, deren erster, "Der Mann, der Yngve liebte", Renberg berühmt machte; in Deutschland kennen wir nur die Verfilmung. "Wir sehen uns morgen" wird sicher mehr auffallen, und zwar nicht nur, weil ein Lob des Freundes Karl Ove Knausgård auf dem Umschlag steht.
Knausgård und Renberg verbindet das Interesse für die Widersprüche im Leben und im Menschen, das Interesse für Dinge, die "hässlich und schön, edel und gemein sind", wie Knausgård gesagt hat. Aber im Unterschied zu diesem schreibt Renberg fiktionale Romane, seine Figuren sind freie Schöpfungen - wenn auch nicht zeitlos, denn sie sind ganz Helden unserer "metamodernen" Zeit: Sie haben die romantische Sehnsucht wiederentdeckt und bewahren die postmoderne Skepsis, sie pendeln zwischen Zuversicht und Wehmut, Begeisterung und Ironie.
Der Roman spielt an drei schönen Spätsommertagen in Stavanger (wo Renberg 1972 zur Welt kam), einer durch die Ölvorkommen in der Nordsee reichen Stadt. Pål ist ein alleinerziehender, etwas verpeilter Vater mit zwei halbwüchsigen Töchtern, Malene und Tiril. Das ist schon nicht einfach, schlimmer aber ist, dass er immense Spielschulden angehäuft hat und diesen großen Fehler durch einen noch größeren ausbügeln will. Ausgerechnet ein kleinkriminelles Trio, das er noch aus alten Tagen kennt, soll ihn aus dem Schlamassel holen. Das Hirn dieser drei ist Jan Inge, ein Fettkloß von 120 Kilo. Seine Schwester Cecilie wurde als Dreizehnjährige von ihm an Jungs "verliehen". Einer ihrer Freier damals war Rudi, mit dem sie nun seit 27 Jahren zusammen ist. Ohne ihn leben kann sie nicht, aber will sie noch mit ihm leben? Malenes bibelfeste Klassenkameradin Sandra ist zum ersten Mal verliebt, dafür gibt sie alles hin, auch sich selbst. Nur leider ist ihr Auserwählter Daniel nicht der Richtige für sie, denn er hat offenbar etwas Schreckliches erlebt, über das er nicht reden will.
Alle diese Personen haben also ein Problem, vielleicht sogar ein Trauma, und trotzdem versuchen sie, das Beste daraus zu machen. Oder eher: Sie versuchen, etwas aus dem zu machen, wozu die Welt sie gemacht hat. Selbstsicher sind sie deshalb nicht unbedingt, immer wieder müssen sie sich vergewissern, wer sie eigentlich sind. Einmal denkt zum Beispiel der gutaussehende geheimnisvolle Daniel: Sandra kennt mich, aber sie weiß nicht, wer ich bin. Ein paar Sätze weiter muss er sich eingestehen, dass er eigentlich selbst nicht weiß, wer er ist.
"Alle wissen wir von allem nur wenig", hat der polnische Reporter Ryszard Kapuscinski gesagt. Aber genau deswegen machte er sich auf den Weg, und genau deswegen schrieb Renberg wohl auch seinen Roman. Er will es wissen: Was geht in uns vor, wenn wir lieben? Wie dieses Gefühl der Gefühle beschreiben, bei dem wir sagen können: "Wir sehen uns morgen. Wenn nicht, sterbe ich." Bei dem wir nicht mehr Herr unserer selbst sind und das wir eigentlich nicht begründen können? Sind sie normal, all diese Widersprüche, dieses himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt? Die Liebe ist kompliziert. Und wahrhaftig. "Die Liebe lügt nicht, das tut sie doch nicht, oder?", lautet einer der vielen scheinbar naiven, doch so bewegenden Sätze in diesem Roman.
Nein, Renberg kann das Gefühl der Gefühle nicht begründen, aber er kann es schildern wie kaum ein Zweiter. Versucht er nicht damit, den Unterschied zwischen Leben und Schreiben zu überwinden? Das reißt einen unwiderstehlich mit: Wie Renberg diese Desperados zwischen vierzehn und vierzig in ihrem Spagat zwischen Appetit (auf die Welt) und Abscheu (gegen das Dasein) lebendig macht; wie er uns an ihren Gedanken, Phantasien, Enttäuschungen teilhaben lässt; und wie diese Menschen mit all ihren Verletzungen das Glück und die Liebe suchen, unverdrossen.
Der Roman besteht oft aus kurzen, unvollständigen Sätzen, staccatohaft fast. Aber der Inhalt ist ausschweifend, Renbergs Phantasie grenzenlos, die Geschichten seiner Figuren werden auf ungeahnte Weise zusammengeführt. Manche dieser Geschichten sind nicht zu Ende erzählt, manche Figuren nur angetippt. Aber in Norwegen, hören wir, ist schon ein zweiter Band erschienen. Vielleicht erfahren wir dann, warum der verführerische David so ein abweisender Bursche geworden ist oder wie Pål sich seiner Spielschulden entledigt oder wie Tirils seltsame Beziehung zum Klebstoff schnüffelnden Shaun verläuft. Wir wollen es wissen.
PETER URBAN-HALLE
Tore Renberg: "Wir sehen uns morgen". Roman.
Aus dem Norwegischen von Elke Ranzinger. Heyne Verlag, München 2017. 735 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Helden der Metamoderne: Tore Renbergs hemmungsloser, lebendiger Roman erzählt vom Gefühl der Gefühle in seiner Heimatstadt Stavanger
Gleich auf der ersten Seite dieses großen Romans stehen drei Sätze hintereinander, die sich zu widersprechen scheinen: "Vielleicht gar nicht so schlecht. Davon kann einem echt übel werden. Es wird nie im Leben hinhauen, oder?" Drei Sätze, die sofort den gesprochenen, teils selbstbewussten, teils selbstzweifelnden Ton anklingen lassen, besonders aber das Paradoxe der folgenden 730 Seiten. Hier spricht einer, der verzweifelt ist, aber nicht aufgibt, der keine Zukunft sieht, aber die Hoffnung noch nicht begraben will. Das Paradoxe wird einem auf jeder Seites dieses Buches begegnen, das hemmungslos und depressiv, draufgängerisch und nachdenklich, brutal und feinfühlig ist - und frisch und leidenschaftlich übersetzt.
Zwei von Renbergs Büchern sind bislang auf Deutsch erschienen; sie fielen nicht weiter auf. Das eine, "Das Wunder im Erdbeerfeld" (btb, 2002), war die Geschichte einer religiösen Verblendung. Das andere, "Und zum Frühstück heller Sirup" (dtv, 2011), erzählte von einem Mann, dem unvermutet eine siebenjährige Tochter präsentiert wird. Letzteres war übrigens der dritte von bislang fünf Romanen über einen gewissen Jarle Klepp, deren erster, "Der Mann, der Yngve liebte", Renberg berühmt machte; in Deutschland kennen wir nur die Verfilmung. "Wir sehen uns morgen" wird sicher mehr auffallen, und zwar nicht nur, weil ein Lob des Freundes Karl Ove Knausgård auf dem Umschlag steht.
Knausgård und Renberg verbindet das Interesse für die Widersprüche im Leben und im Menschen, das Interesse für Dinge, die "hässlich und schön, edel und gemein sind", wie Knausgård gesagt hat. Aber im Unterschied zu diesem schreibt Renberg fiktionale Romane, seine Figuren sind freie Schöpfungen - wenn auch nicht zeitlos, denn sie sind ganz Helden unserer "metamodernen" Zeit: Sie haben die romantische Sehnsucht wiederentdeckt und bewahren die postmoderne Skepsis, sie pendeln zwischen Zuversicht und Wehmut, Begeisterung und Ironie.
Der Roman spielt an drei schönen Spätsommertagen in Stavanger (wo Renberg 1972 zur Welt kam), einer durch die Ölvorkommen in der Nordsee reichen Stadt. Pål ist ein alleinerziehender, etwas verpeilter Vater mit zwei halbwüchsigen Töchtern, Malene und Tiril. Das ist schon nicht einfach, schlimmer aber ist, dass er immense Spielschulden angehäuft hat und diesen großen Fehler durch einen noch größeren ausbügeln will. Ausgerechnet ein kleinkriminelles Trio, das er noch aus alten Tagen kennt, soll ihn aus dem Schlamassel holen. Das Hirn dieser drei ist Jan Inge, ein Fettkloß von 120 Kilo. Seine Schwester Cecilie wurde als Dreizehnjährige von ihm an Jungs "verliehen". Einer ihrer Freier damals war Rudi, mit dem sie nun seit 27 Jahren zusammen ist. Ohne ihn leben kann sie nicht, aber will sie noch mit ihm leben? Malenes bibelfeste Klassenkameradin Sandra ist zum ersten Mal verliebt, dafür gibt sie alles hin, auch sich selbst. Nur leider ist ihr Auserwählter Daniel nicht der Richtige für sie, denn er hat offenbar etwas Schreckliches erlebt, über das er nicht reden will.
Alle diese Personen haben also ein Problem, vielleicht sogar ein Trauma, und trotzdem versuchen sie, das Beste daraus zu machen. Oder eher: Sie versuchen, etwas aus dem zu machen, wozu die Welt sie gemacht hat. Selbstsicher sind sie deshalb nicht unbedingt, immer wieder müssen sie sich vergewissern, wer sie eigentlich sind. Einmal denkt zum Beispiel der gutaussehende geheimnisvolle Daniel: Sandra kennt mich, aber sie weiß nicht, wer ich bin. Ein paar Sätze weiter muss er sich eingestehen, dass er eigentlich selbst nicht weiß, wer er ist.
"Alle wissen wir von allem nur wenig", hat der polnische Reporter Ryszard Kapuscinski gesagt. Aber genau deswegen machte er sich auf den Weg, und genau deswegen schrieb Renberg wohl auch seinen Roman. Er will es wissen: Was geht in uns vor, wenn wir lieben? Wie dieses Gefühl der Gefühle beschreiben, bei dem wir sagen können: "Wir sehen uns morgen. Wenn nicht, sterbe ich." Bei dem wir nicht mehr Herr unserer selbst sind und das wir eigentlich nicht begründen können? Sind sie normal, all diese Widersprüche, dieses himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt? Die Liebe ist kompliziert. Und wahrhaftig. "Die Liebe lügt nicht, das tut sie doch nicht, oder?", lautet einer der vielen scheinbar naiven, doch so bewegenden Sätze in diesem Roman.
Nein, Renberg kann das Gefühl der Gefühle nicht begründen, aber er kann es schildern wie kaum ein Zweiter. Versucht er nicht damit, den Unterschied zwischen Leben und Schreiben zu überwinden? Das reißt einen unwiderstehlich mit: Wie Renberg diese Desperados zwischen vierzehn und vierzig in ihrem Spagat zwischen Appetit (auf die Welt) und Abscheu (gegen das Dasein) lebendig macht; wie er uns an ihren Gedanken, Phantasien, Enttäuschungen teilhaben lässt; und wie diese Menschen mit all ihren Verletzungen das Glück und die Liebe suchen, unverdrossen.
Der Roman besteht oft aus kurzen, unvollständigen Sätzen, staccatohaft fast. Aber der Inhalt ist ausschweifend, Renbergs Phantasie grenzenlos, die Geschichten seiner Figuren werden auf ungeahnte Weise zusammengeführt. Manche dieser Geschichten sind nicht zu Ende erzählt, manche Figuren nur angetippt. Aber in Norwegen, hören wir, ist schon ein zweiter Band erschienen. Vielleicht erfahren wir dann, warum der verführerische David so ein abweisender Bursche geworden ist oder wie Pål sich seiner Spielschulden entledigt oder wie Tirils seltsame Beziehung zum Klebstoff schnüffelnden Shaun verläuft. Wir wollen es wissen.
PETER URBAN-HALLE
Tore Renberg: "Wir sehen uns morgen". Roman.
Aus dem Norwegischen von Elke Ranzinger. Heyne Verlag, München 2017. 735 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Hemmungslos und depressiv, draufgängerisch und nachdenklich, brutal und feinfühlig - und frisch und leidenschaftlich übersetzt.« Frankfurter Allgemeine Zeitung