Gedächtnis - der Stoff, aus dem unsere Persönlichkeit gemacht ist
Genau 86 400 Sekunden hat ein Tag, und in jeder einzelnen verarbeiten wir Sinneswahrnehmungen, speichern neues Wissen, erinnern uns an Vergangenes, entwickeln viele kreative Ideen und planen unsere Zukunft. Dabei halten wir es für selbstverständlich, dass wir den Alltag meistern, ohne von der Informationsflut überwältigt zu werden. Dass uns dies gelingt, verdanken wir einer Meisterleistung der Natur: unserem Gedächtnis.
Der Hirnforscher Martin Korte nimmt Sie mit auf eine Reise ins Epizentrum Ihres Ich-Bewusstseins. Er zeigt, wie vielfältig das Gedächtnis unser Denken und Handeln bestimmt - und wie wandelbar unsere Erinnerungen sind, die bei jedem Abrufen neu konstruiert werden. Er erläutert die unbewussten Seiten des Gedächtnisses, die etwa unsere Intuition und Routinehandlungen steuern, und erklärt, warum Schlaf und Vergessen so essentiell für unsere Gedächtnisprozesse sind. Kortes These ist: Erinnerungen sind nicht nur eine Anhäufung von Wissen und Einzelheiten unserer Autobiographie, sondern der Stoff, aus dem unsere Identität gemacht Anders gesagt: Wir Menschen sind unser Gedächtnis - und unser Gedächtnis sind wir.
Genau 86 400 Sekunden hat ein Tag, und in jeder einzelnen verarbeiten wir Sinneswahrnehmungen, speichern neues Wissen, erinnern uns an Vergangenes, entwickeln viele kreative Ideen und planen unsere Zukunft. Dabei halten wir es für selbstverständlich, dass wir den Alltag meistern, ohne von der Informationsflut überwältigt zu werden. Dass uns dies gelingt, verdanken wir einer Meisterleistung der Natur: unserem Gedächtnis.
Der Hirnforscher Martin Korte nimmt Sie mit auf eine Reise ins Epizentrum Ihres Ich-Bewusstseins. Er zeigt, wie vielfältig das Gedächtnis unser Denken und Handeln bestimmt - und wie wandelbar unsere Erinnerungen sind, die bei jedem Abrufen neu konstruiert werden. Er erläutert die unbewussten Seiten des Gedächtnisses, die etwa unsere Intuition und Routinehandlungen steuern, und erklärt, warum Schlaf und Vergessen so essentiell für unsere Gedächtnisprozesse sind. Kortes These ist: Erinnerungen sind nicht nur eine Anhäufung von Wissen und Einzelheiten unserer Autobiographie, sondern der Stoff, aus dem unsere Identität gemacht Anders gesagt: Wir Menschen sind unser Gedächtnis - und unser Gedächtnis sind wir.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2017Jetzt nur nicht den Kopf verlieren
Wir sind, woran wir uns erinnern. Verändern wir uns also, wenn digitale Speicher unser Gedächtnis immer weiter entlasten? Der Hirnforscher Martin Korte sucht nach Antworten.
Von Joachim Müller-Jung
Plötzlich zerbröckelt mein Ich." So beschrieb Luis Buñuel, deutlich über achtzig und kurz vor seinem Tod, dem Drehbuchautor Jean-Claude Carrière, wie er angesichts seines eigenen Gedächtnisschwunds und der Demenz seiner Mutter an nichts anderes mehr denken konnte als an den Verlust jener Fähigkeit, die uns nicht zuletzt als Menschen ausmacht: "Man muss erst beginnen, sein Gedächtnis zu verlieren, und sei's nur stückchenweise, um sich darüber klarzuwerden, dass das Gedächtnis unser ganzes Leben ist. Ein Leben ohne Gedächtnis wäre kein Leben, wie eine Intelligenz ohne Ausdrucksmöglichkeit keine Intelligenz wäre."
Hier beobachtete, an sich selbst leidend und doch offenbar völlig klar, ein großer Regisseur des letzten Jahrhunderts seinen eigenen Zerfall - und kommentierte damit ungewollt einen gesellschaftlichen Prozess, den der Braunschweiger Hirnforscher Martin Korte in seinem Buch "Wir sind Gedächtnis" zweieinhalb Dekaden nach Buñuels Tod mit einer Mischung aus wissenschaftlicher Nüchternheit und unerbittlicher Dringlichkeit aufgreift.
Es geht nicht um Alzheimer, das muss vorausgeschickt werden, jedenfalls nicht nur und nicht vordergründig. Alle drei Sekunden bekommt zwar ein Mensch irgendwo auf der Welt die Diagnose Alzheimer gestellt, jedes Jahr werden es viele Millionen mehr. Das allein ist Grund genug, sich ernsthaft Gedanken über pathologischen Gedächtnisverlust zu machen, wie es viele Autoren tun.
Doch es kommt beim Thema Gedächtnis aus neurobiologischer Perspektive noch anderes in den Blick, nämlich das Gedächtnis als unser eigentliches Selbst, unsere Identität: "Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist, wir nehmen sie auch nicht wahr, wie sie scheint, wir erleben sie so, wie unsere Verschaltungen in unserem Gehirn dies vorgeben - und diese Verschaltungen sind viel mehr von unserem Gedächtnis als von unseren Genen geprägt."
Welche Rolle die Prozesse des Sicherinnerns in der Bewältigung nicht nur der Vergangenheit, sondern eben auch bei der Zukunftsplanung spielen, wird im ersten Teil des Buches ananotomisch und teilweise bis auf die molekulare Ebene durchbuchstabiert. Erinnerung, das lässt sich damit gut zeigen, gehört zu unseren zentralen kognitiven Werkzeugen. Sie sind elementar, aber eben auch veränderlich, sie sind unzuverlässig und unerlässlich zugleich, sie werden ständig abgerufen und überschrieben, sie liefern zugleich die Entlastung, die mit unseren Gewohnheiten einhergeht, und sie sind der Grundstock unserer Kreativität. Zugleich können sie aber auch ins Verderben führen, Süchte generieren oder in die Tristesse fehlender Phantasie führen. Kurz, der Erinnerungsapparat in unserem Kopf ist so anfällig und menschlich, wie wir selbst es eben sind.
Gelegentlich fragt man sich, wieso eigentlich das menschliche Gehirn mit all diesen Macken von Teilen des neurotechnischen Hochadels heute oft als wünschenswerte Vorlage für die Konstruktion künstlicher Intelligenzen angesehen wird. Korte gibt da einige Hinweise: Es mag an der unglaublichen energetischen Effizienz liegen, mit der unser Gehirn die angeblich 400 000 Sinnesreize filtert und verarbeitet, die es in jeder Sekunde erreichen. Voller Hochachtung steht man auch vor der schier unerschöpflichen Speicherkapazität, die unser Gehirn auszeichnet; auf hundert Millionen CDs wird das theoretisch mögliche Datenvolumen im Hirn geschätzt.
Praktisch gesehen, stoßen wir allerdings jeden Tag schnell an dessen Grenzen. Wir können uns noch so bemühen, von ein paar Erinnerungsgenies abgesehen, die ihr autobiographisches Gedächtniskapital bis zum Äußersten auszureizen vermögen und darunter nicht selten leiden, erleben wir Gedächtnisarbeit als einen äußerst mühevollen, lückenhaften Prozess. Erleichterung sollen da nun digitale Geräte bringen. Doch ist es nicht so, wie der Autor diagnostiziert, dass unseren Erfindungen, Informationen extern zu speichern, uns selbst längst schon überholt haben? Soll das Gedächtnis künftig damit überflüssig werden? Das erste Tablet bestand noch aus getrocknetem Lehm. Das ist keine dreihundert Generationen her. Ganze 67 000 Generationen soll es aber schon her sein, dass unsere Vorfahren anfingen, Werkzeuge zu benutzen. Die jüngste Explosion des Informationsaustauschs von Papyrus und Papier bis hin zu Big Data, Internet und Smartphone ist deshalb für Korte Grund genug, vor einer "Vertreibung aus dem Paradies der Gedanken" zu warnen. Korte reiht sich damit ein in die Phalanx der populären Kassandrarufer, die vor einer digitalen Amnesie der Menschheit warnen. Die empirischen Befunde dafür sind zwar dürftig, aber das verhindert nicht die professoralen Ratschläge: "Ich warne ausdrücklich vor dem zu frühen Einsatz von Expertensystemen in der Ausbildung, sei es ein trivialer Taschenrechner oder vorgefertigte Antworten aus dem Internet."
Was in Kortes Augen offenbar fehlt in der gegenwärtigen Debatte um Risiken und Chancen der Digitalkultur, ist der erkennbare Wille, das eigenständige Denken, Zweifeln und kritische Nachfragen zu fördern. Wir würden vielmehr von einer grenzenlos wachsenden Industrie "dazu verführt, unsere Zeit mehrfach zu überbuchen", und dabei die evolutionären Grundlagen unserer Gedächtniskunst in einem Wimpernschlag der Menschheitsgeschichte verspielen. Das Internet habe "bereits heute unsere Denkstrukturen verändert", was immer das genauer heißen soll.
Immerhin neigt der Neurobiologe eher selten zu solchen Verallgemeinerungen und Spekulationen, die wegen des naturgemäß noch kurzen Beobachtungszeitraums kaum gedeckt sind. Dass beispielsweise der sogenannte Flynn-Effekt, der eine Steigerung des gemessenen Intelligenzquotienten um gut drei Punkte alle zehn Jahre im zwanzigsten Jahrhundert auswies, seit zehn Jahren stagnieren soll, ist sicher noch kein Beweis für einen allgemeinen digitalen Gedächtnisverlust. Und auch unsere Kinder sind nicht per se schon Digitaljunkies.
Aber vielleicht stimmt es ja, was Korte mutmaßt: dass wir wie manche erfolgverwöhnte Fußballmannschaft irgendwann angefangen haben, die falschen Trainer anzuheuern. Was also, wenn uns die digitalen Trainer endgültig abgewöhnen, Wissen in unseren eigenen Gehirnen abzulegen?
Ein solcher - immer noch fiktiver - Verlust lässt sich ausmalen. Zum Beispiel im Hinblick auf unsere Kreativität. Im menschlichen Gehirn ist es, was Korte sehr anschaulich schildert, gerade die weitverzweigte und langsame, sogar ineffiziente Aktivierung vieler neuronaler Netzwerke über unsere beiden Hirnhälften, die kreative und assoziative Prozesse in Gang bringt. Mit dem Resultat einer kognitiven Flexibilität, die offensichtlich nur dem menschlichen Gehirn eigen ist und die mit dem Maximierungsstreben der Digitalindustrie schwer vereinbar scheint.
Korte bleibt deshalb bei der Warnung, dass mit einer Kapitulation vor den digitalen Geräten eine "Gedächtnisverformung" und somit emotionale Verflachung unausweichlich sei. Folgerichtig bekommt man in einigen Kapiteln Tipps, wie man seine kognitiven Werkzeuge agil halten kann. Schlafen und träumen gehören glücklicherweise ganz zentral dazu. Verloren geben müssen wir unser Gedächtnis also doch noch nicht.
Martin Korte: "Wir sind Gedächtnis". Wie unsere Erinnerungen bestimmen, wer wir sind.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2017. 384 S., Abb., geb., 20,- [Euro]
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wir sind, woran wir uns erinnern. Verändern wir uns also, wenn digitale Speicher unser Gedächtnis immer weiter entlasten? Der Hirnforscher Martin Korte sucht nach Antworten.
Von Joachim Müller-Jung
Plötzlich zerbröckelt mein Ich." So beschrieb Luis Buñuel, deutlich über achtzig und kurz vor seinem Tod, dem Drehbuchautor Jean-Claude Carrière, wie er angesichts seines eigenen Gedächtnisschwunds und der Demenz seiner Mutter an nichts anderes mehr denken konnte als an den Verlust jener Fähigkeit, die uns nicht zuletzt als Menschen ausmacht: "Man muss erst beginnen, sein Gedächtnis zu verlieren, und sei's nur stückchenweise, um sich darüber klarzuwerden, dass das Gedächtnis unser ganzes Leben ist. Ein Leben ohne Gedächtnis wäre kein Leben, wie eine Intelligenz ohne Ausdrucksmöglichkeit keine Intelligenz wäre."
Hier beobachtete, an sich selbst leidend und doch offenbar völlig klar, ein großer Regisseur des letzten Jahrhunderts seinen eigenen Zerfall - und kommentierte damit ungewollt einen gesellschaftlichen Prozess, den der Braunschweiger Hirnforscher Martin Korte in seinem Buch "Wir sind Gedächtnis" zweieinhalb Dekaden nach Buñuels Tod mit einer Mischung aus wissenschaftlicher Nüchternheit und unerbittlicher Dringlichkeit aufgreift.
Es geht nicht um Alzheimer, das muss vorausgeschickt werden, jedenfalls nicht nur und nicht vordergründig. Alle drei Sekunden bekommt zwar ein Mensch irgendwo auf der Welt die Diagnose Alzheimer gestellt, jedes Jahr werden es viele Millionen mehr. Das allein ist Grund genug, sich ernsthaft Gedanken über pathologischen Gedächtnisverlust zu machen, wie es viele Autoren tun.
Doch es kommt beim Thema Gedächtnis aus neurobiologischer Perspektive noch anderes in den Blick, nämlich das Gedächtnis als unser eigentliches Selbst, unsere Identität: "Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist, wir nehmen sie auch nicht wahr, wie sie scheint, wir erleben sie so, wie unsere Verschaltungen in unserem Gehirn dies vorgeben - und diese Verschaltungen sind viel mehr von unserem Gedächtnis als von unseren Genen geprägt."
Welche Rolle die Prozesse des Sicherinnerns in der Bewältigung nicht nur der Vergangenheit, sondern eben auch bei der Zukunftsplanung spielen, wird im ersten Teil des Buches ananotomisch und teilweise bis auf die molekulare Ebene durchbuchstabiert. Erinnerung, das lässt sich damit gut zeigen, gehört zu unseren zentralen kognitiven Werkzeugen. Sie sind elementar, aber eben auch veränderlich, sie sind unzuverlässig und unerlässlich zugleich, sie werden ständig abgerufen und überschrieben, sie liefern zugleich die Entlastung, die mit unseren Gewohnheiten einhergeht, und sie sind der Grundstock unserer Kreativität. Zugleich können sie aber auch ins Verderben führen, Süchte generieren oder in die Tristesse fehlender Phantasie führen. Kurz, der Erinnerungsapparat in unserem Kopf ist so anfällig und menschlich, wie wir selbst es eben sind.
Gelegentlich fragt man sich, wieso eigentlich das menschliche Gehirn mit all diesen Macken von Teilen des neurotechnischen Hochadels heute oft als wünschenswerte Vorlage für die Konstruktion künstlicher Intelligenzen angesehen wird. Korte gibt da einige Hinweise: Es mag an der unglaublichen energetischen Effizienz liegen, mit der unser Gehirn die angeblich 400 000 Sinnesreize filtert und verarbeitet, die es in jeder Sekunde erreichen. Voller Hochachtung steht man auch vor der schier unerschöpflichen Speicherkapazität, die unser Gehirn auszeichnet; auf hundert Millionen CDs wird das theoretisch mögliche Datenvolumen im Hirn geschätzt.
Praktisch gesehen, stoßen wir allerdings jeden Tag schnell an dessen Grenzen. Wir können uns noch so bemühen, von ein paar Erinnerungsgenies abgesehen, die ihr autobiographisches Gedächtniskapital bis zum Äußersten auszureizen vermögen und darunter nicht selten leiden, erleben wir Gedächtnisarbeit als einen äußerst mühevollen, lückenhaften Prozess. Erleichterung sollen da nun digitale Geräte bringen. Doch ist es nicht so, wie der Autor diagnostiziert, dass unseren Erfindungen, Informationen extern zu speichern, uns selbst längst schon überholt haben? Soll das Gedächtnis künftig damit überflüssig werden? Das erste Tablet bestand noch aus getrocknetem Lehm. Das ist keine dreihundert Generationen her. Ganze 67 000 Generationen soll es aber schon her sein, dass unsere Vorfahren anfingen, Werkzeuge zu benutzen. Die jüngste Explosion des Informationsaustauschs von Papyrus und Papier bis hin zu Big Data, Internet und Smartphone ist deshalb für Korte Grund genug, vor einer "Vertreibung aus dem Paradies der Gedanken" zu warnen. Korte reiht sich damit ein in die Phalanx der populären Kassandrarufer, die vor einer digitalen Amnesie der Menschheit warnen. Die empirischen Befunde dafür sind zwar dürftig, aber das verhindert nicht die professoralen Ratschläge: "Ich warne ausdrücklich vor dem zu frühen Einsatz von Expertensystemen in der Ausbildung, sei es ein trivialer Taschenrechner oder vorgefertigte Antworten aus dem Internet."
Was in Kortes Augen offenbar fehlt in der gegenwärtigen Debatte um Risiken und Chancen der Digitalkultur, ist der erkennbare Wille, das eigenständige Denken, Zweifeln und kritische Nachfragen zu fördern. Wir würden vielmehr von einer grenzenlos wachsenden Industrie "dazu verführt, unsere Zeit mehrfach zu überbuchen", und dabei die evolutionären Grundlagen unserer Gedächtniskunst in einem Wimpernschlag der Menschheitsgeschichte verspielen. Das Internet habe "bereits heute unsere Denkstrukturen verändert", was immer das genauer heißen soll.
Immerhin neigt der Neurobiologe eher selten zu solchen Verallgemeinerungen und Spekulationen, die wegen des naturgemäß noch kurzen Beobachtungszeitraums kaum gedeckt sind. Dass beispielsweise der sogenannte Flynn-Effekt, der eine Steigerung des gemessenen Intelligenzquotienten um gut drei Punkte alle zehn Jahre im zwanzigsten Jahrhundert auswies, seit zehn Jahren stagnieren soll, ist sicher noch kein Beweis für einen allgemeinen digitalen Gedächtnisverlust. Und auch unsere Kinder sind nicht per se schon Digitaljunkies.
Aber vielleicht stimmt es ja, was Korte mutmaßt: dass wir wie manche erfolgverwöhnte Fußballmannschaft irgendwann angefangen haben, die falschen Trainer anzuheuern. Was also, wenn uns die digitalen Trainer endgültig abgewöhnen, Wissen in unseren eigenen Gehirnen abzulegen?
Ein solcher - immer noch fiktiver - Verlust lässt sich ausmalen. Zum Beispiel im Hinblick auf unsere Kreativität. Im menschlichen Gehirn ist es, was Korte sehr anschaulich schildert, gerade die weitverzweigte und langsame, sogar ineffiziente Aktivierung vieler neuronaler Netzwerke über unsere beiden Hirnhälften, die kreative und assoziative Prozesse in Gang bringt. Mit dem Resultat einer kognitiven Flexibilität, die offensichtlich nur dem menschlichen Gehirn eigen ist und die mit dem Maximierungsstreben der Digitalindustrie schwer vereinbar scheint.
Korte bleibt deshalb bei der Warnung, dass mit einer Kapitulation vor den digitalen Geräten eine "Gedächtnisverformung" und somit emotionale Verflachung unausweichlich sei. Folgerichtig bekommt man in einigen Kapiteln Tipps, wie man seine kognitiven Werkzeuge agil halten kann. Schlafen und träumen gehören glücklicherweise ganz zentral dazu. Verloren geben müssen wir unser Gedächtnis also doch noch nicht.
Martin Korte: "Wir sind Gedächtnis". Wie unsere Erinnerungen bestimmen, wer wir sind.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2017. 384 S., Abb., geb., 20,- [Euro]
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Korte schreibt unangestrengt und lockert immer wieder mit Beispielen auf. Wer an dem Thema interessiert ist, dem kann ich dieses Buch tatsächlich nur sehr empfehlen." hr2-kultur, Bianca Schwarz