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Wurde je bedingungsloser ans Glück geglaubt als im New York des 20. Jahrhunderts? Matthew Thomas Epos einer irisch-amerikanischen Einwandererfamilie - international schon eine literarische Sensation - umspannt drei Generationen und zeichnet das Porträt von Eileen Tumulty, vielleicht eine der kompromisslosesten Träumerinnen der Literaturgeschichte. Ob in dem kleinen Apartment in Queens, in dem Eileen in den 1940er- und 50er-Jahren aufwächst, gelacht oder geweint wird, kommt ganz darauf an, wer gerade zu Besuch ist oder wieviel getrunken wird. Nicht ihre Eltern möchten, dass sie es einmal besser…mehr

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Produktbeschreibung
Wurde je bedingungsloser ans Glück geglaubt als im New York des 20. Jahrhunderts? Matthew Thomas Epos einer irisch-amerikanischen Einwandererfamilie - international schon eine literarische Sensation - umspannt drei Generationen und zeichnet das Porträt von Eileen Tumulty, vielleicht eine der kompromisslosesten Träumerinnen der Literaturgeschichte.
Ob in dem kleinen Apartment in Queens, in dem Eileen in den 1940er- und 50er-Jahren aufwächst, gelacht oder geweint wird, kommt ganz darauf an, wer gerade zu Besuch ist oder wieviel getrunken wird. Nicht ihre Eltern möchten, dass sie es einmal besser hat, sie selbst will dieser Enge unbedingt entfliehen.
Als sie Ed Leary begegnet, einem jungen Wissenschaftler voller Sanftmut, scheint das Ersehnte so nah: ein schönes Haus, eine kleine Karriere, eine glückliche Familie. Doch was, wenn Träume in Erfüllung gehen, das Glück sich aber nicht hinzugesellt?
Thomas erzählt nicht von Tellerwäschern und Millionären, sondern von ganz gewöhnlichen Menschen. Denn sie, die Mittelschicht, sind es, die Amerika zu einem mythischen Ort der Freiheit und Selbstverwirklichung gemacht haben.
Aber so, wie wir längst wissen, dass dieser Mythos nur eine Chimäre war, erfahren auch Eileen, Ed und ihr Sohn Connell, wie schnell Sichergeglaubtes ins Wanken gerät. Dann stellen sich die drängenden Fragen: Was ist wirklich wichtig im Leben? Hat man ein Recht auf Glück? Und wer sind wir, wenn wir nicht mehr wir selbst sind?

Wir sind nicht wir von Matthew Thomas:


Wir sind nicht wir,

wenn die Natur, im Druck, die Seele zwingt,

zu leiden mit dem Körper.

William Shakespeare, "König Lear"


"Wir sind nicht wir" heißt Matthew Thomas' erster Roman. In den USA ist er der "Million-Dollar-Debütant" und wird mit Jonathan Franzen in einem Zug genannt. Zehn Jahre hat der Highschool-Lehrer Thomas, Familienvater, in der Bronx geboren, an diesen knapp 900 Seiten geschrieben. Er umkreist in seinem Buch die großen Fragen nach dem Glück, dem Leben, der Liebe und dem amerikanischen Traum. Und er hat einen fantastischen und berührenden Familienroman zu Papier gebracht, in dem eine seiner Hauptfiguren mit Anfang 50 an Alzheimer erkrankt. Ed Leary heißt der Mann und er ist verheiratet mit der "Heldin" des Romans, Eileen Leary, geborene Tumulty.

Eileen fühlt sich immer, als würde sie nicht dazugehören, als gälten andere Regeln für sie

Eileens Vater, Big Mike, pflegt seine irische Pub-Autorität als "Beichtvater" und Ausschenker auch in Queens, New York, weiter. In der Kneipe lebt er auf, gibt sich großzügig und jovial, zu Hause muss sich die Familie in Acht nehmen, wenn er dem Whiskey zugesprochen hat. Auch Eileens Mutter trinkt und verschwindet für Monate im Krankenhaus - die Verantwortung für den Haushalt bleibt bei der kleinen Eileen. Sie wird jung erwachsen. Sie muss. Erwachsen, streng gegen sich selbst und andere. Und sie hält verzweifelt fest an ihrem amerikanischen Traum: Wer hart arbeitet, der schafft es auch, macht Karriere samt Haus und Swimmingpool. "Sie wäre lieber Anwältin oder Ärztin geworden, glaubte aber, dies seien Berufe für Privilegiertere." So entscheidet sie sich für eine Ausbildung als Krankenschwester, steigt auf zur Pflegedienstleiterin. Immer sehnt sie sich danach, zu denen zu gehören, die es geschafft haben, den Begüterten und ihren Villen, den Frauen im Pelz. Doch wie sehr sie der Erfüllung dieser Sehnsucht auch nahekommt, sie fühlt sich immer, als würde sie nicht dazugehören. Als gälten für sie andere Regeln als für alle anderen ...

Der Traum vom amerikanischen Traum - und was dabei auf der Strecke bleibt

Ed, ihr Mann, kann mit materiellen Dingen wenig anfangen. Der Hirnforscher lebt für seine Wissenschaft und lehnt - unverständlich für Eileen - ein lukratives Angebot der Pharmaindustrie ab, um als Professor zu forschen und zu unterrichten. Doch Eileen gibt trotz des nun geringeren Familieneinkommens ihren Traum nicht auf. Zuerst kauft sie das Mehrparteienhaus in Jackson Heights, in dem die Familie schon länger zur Miete in einer der gemütlichen Wohnungen lebt. Später dann muss es eine Villa im schicken Bronxville sein - obwohl das Geld dafür nur unter Entbehrungen aufzubringen und das Haus massiv renovierungsbedürftig ist. Als Leser ist man hin- und hergerissen von dieser Eileen:Mal rührt sie uns, wenn sie der Maklerin die reiche Dame vorspielt, die sich Häuser aus einer ganz anderen Liga leisten kann, um dann, nach ein paar Besichtigungen, zerknirscht zu gestehen, dass ihr Budget um ein paar 100.000 Dollar niedriger liegt. Oft aber bleibt das Gefühl, dass Eileen mit ihrer fixen Idee, diesen heruntergekommenen Kasten zu kaufen, die Familie ruinieren könnte. Ihr Tunnelblick lässt sie zudem ausblenden, wie schlimm es um Ed, ihren Mann, steht.

Das Viertel verändert sich, überall Inder und Latinos - Eileen will weg

Sie will weg aus Jackson Heights, dem Viertel, das früher "weiß" war und heute dominiert wird von Einwanderern aus Indien, Korea oder Lateinamerika, wo Straßengangs die Gegend unsicher machen. Ed kämpft einen ganz anderen Kampf. Seine Abende verbringt er anfangs auf dem Sofa liegend, abgeschottet durch Kopfhörer, und er lauscht klassischer Musik. Er ist extrem ruhebedürftig, weigert sich, auszugehen, entfernt sich von Eileen und seinem Sohn Connell. Der verbrachte schon als kleiner Junge gern Zeit bei einer impulsiven und warmherzigen italienischen Großfamilie, den Nachbarn im Haus in Jackson Heights. Hier fühlt er sich wohler als mit seiner Mutter, die ihn nicht umarmt, wohler als mit seinem Vater, der immer etwas anders ist als die anderen Väter, sich seltsam anzieht, altmodische Witze macht ... eine starke Verbindung allerdings gibt es zwischen Vater und Sohn: die Leidenschaft für Baseball.

Diagnose Alzheimer mit 51: Hirnforscher Ed und das Chaos in seinem Kopf

Als Ed sein Leben immer mehr entgleitet, will auch Connell das lange nicht wahrhaben. Doch die Anzeichen dafür werden immer massiver. Die einfachsten Dinge überfordern Ed, alles, was einer für ihn wichtigen Ordnung entgegenläuft, bringt ihn aus der Fassung. Der Alltag lässt ihn fast schon kapitulieren, er schafft es z. B. kaum noch, Auto zu fahren, und als Connell seinen Vater wegen eines Unterrichtsprojektes an die Uni begleitet, entgleist Ed die Vorlesung komplett. Die Studenten protestieren, Connell windet sich vor Scham. Je stärker sich das Chaos in Eds Kopf ausbreitet, desto verzweifelter versucht er, dem von außen durch zigfache Kontrolle entgegenzuwirken. Doch der Verfall ist nicht zu stoppen, die Beschwerden der Studenten mehren sich und der brillante Ed scheitert irgendwann schon an der simplen Übertragung von Noten in eine Liste. Es vergehen qualvolle Monate, als endlich, nach einem Arztbesuch, die Diagnose Alzheimer ausgesprochen wird.

"Ich wusste gar nicht, was ich bisher verpasst habe."

Das Haus in Bronxville wird dennoch gekauft. Irgendwann sitzt Eileen dort allein, Ed ist schon längst im Pflegeheim und Connell studiert an einer Uni, weit weg von all den Anforderungen der Familie. "Sie hatte keine Dynastie begründet. Sie war noch nicht einmal sicher, dass ihr Zweig der Familie nicht aussterben würde." Und dann fährt Eileen vom betuchten Bronxville zurück in ihr altes Viertel, zurück zu "ihrem" Haus. Das bewohnt nun eine indische Großfamilie - und die lädt Eileen zum Essen ein. Ein Schrecken, denn sie verabscheut indisches Essen: "Wie konnte sie ihnen erklären, dass sie ihr Essen verabscheute? Dann hätte sie alles erklären müssen - was sie irgendwann einmal über das Viertel gedacht hatte, über ihr Leben, über die Welt, wie sie sie hätte haben wollen: einfach, vorhersehbar, vertraut."

Doch Eileen hat noch nie indisches Essen gekostet. "Es war leichter gewesen zu sagen: ,Ich mag es nicht', statt: ,Ich bin zu wütend, um es zu probieren.'" Als die Gerichte auf dem Tisch stehen, gibt es kein Zurück für Eileen. Sie greift zu, isst: "Sie hätte nie gedacht, dass sie diesen Tag erleben würde. ,Es ist gut', sagte sie und versuchte, nicht allzu begeistert zu klingen, doch dann ging es nicht mehr anders. ,Es ist wirklich sehr gut.' [...] ,Ich wusste gar nicht, was ich bisher verpasst habe', sagte sie."

Autorenporträt
Matthew Thomas, in der New Yorker Bronx geboren und in Queens aufgewachsen, studierte an der Universität Chicago und Kalifornien. Er lebt mit seiner Frau und Zwillingen in New Jersey. 10 Jahre schrieb der ehemalige Highschool-Lehrer an seinem ersten Roman, »Wir sind nicht Wir«, und wurde über Nacht zum umworbensten Autor des Jahres.
Rezensionen
"Ja, man sollte als Soundtrack zur Lektüre vielleicht Neil Young in Erwägung ziehen, all seine Lieder über die "Ordinary People", diese Otto-Normal-Menschen, die weder Lichtgestalt sind, noch einen Heiligenschein tragen. [...] Geschöpfen, denen Matthew Thomas in seinem Familienepos ein Denkmal setzt.", Heilbronner Stimme, Michaela Adick, 09.01.2016

Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension

Wieland Freund hat dergleichen noch nicht gelesen. Dass Matthew Thomas zehn Jahre lang an diesem Romandebüt gearbeitet hat, merkt er auf jeder Seite. Und mit etwas Geduld (des Autors und des Lesers) entwickeln sich die Figuren im Text laut Freund auch in all ihrer Tiefe. Das Tastende und Zurückhaltende des Romans steht der Geschichte und ihren Figuren gut, versichert der Rezensent und bringt die ihn an Jonathan Franzens "Korrekturen" erinnernde Familiengeschichte schließlich in Gang. Spätestens im dritten Teil des Buches, in dem Thomas der Demenzerkrankung als dem Verfall eines Ich folgt, scheint Freund der Autor auf der Höhe seiner Kunst angelangt. Die Schilderung des inneren wie des äußeren Kampfes gegen die Krankheit, die schleichende Veränderung des Alltags, das Wegbrechen der Erinnerung - all das erzählt der Autor laut Rezensent meisterhaft einfühlsam und gnadenlos zugleich.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.08.2015

Wie jemand, der sich verfahren hat und das Lenkrad nicht mehr kennt
Der Amerikaner Matthew Thomas hat mit "Wir sind nicht wir" einen eindringlichen und wahrhaftigen Roman über Demenz geschrieben

Literarische Tragik wurde in früheren Jahrhunderten aus der Historie oder von äußeren Schicksalsschlägen bezogen. Auch rächende Götter und moralische Konflikte taten ihre Wirkung. Über das Körperliche hat man sich eher ausgeschwiegen. Seit längerem aber sind es die inneren Feinde aus dem Körper, die für große Geschichten und Spannungsbögen sorgen.

Krankheit als Schicksal, Metapher und Obsession. Dabei prägen die Zeiten ihre je eigenen Befunde aus. Einst waren die Lungen federführend: Tuberkulose ereilte die sensiblen Seelen in der Blüte ihrer Jahre. Heute machen Alzheimer und Demenz Epoche, die paradigmatischen Krankheitsbilder überalterter Gesellschaften. Meist ist es die Sohn-Vater-Perspektive, die den Demenz-Roman bestimmt: der Vater als ergreifend schwache Person und Ruine eines Mannes, was auch in Sachen Geschlechterdominanz ein Statement ist. Man denke an Jonathan Franzens "Korrekturen", wo der an Parkinson und Demenz erkrankte Familienpatriarch Alfred Lambert in allen Phasen seines Persönlichkeitszerfalls gezeigt wird.

In den Vereinigten Staaten ist Matthew Thomas' ähnlich umfangreicher Roman "Wir sind nicht wir" immer wieder mit den "Korrekturen" verglichen worden. Weibliche Hauptfigur ist Eileen Tumulty, 1941 geboren, aufgewachsen im New Yorker Stadtbezirk Queens. Mit ihrer beflissenen Aufsteigermentalität ist sie eine sehr amerikanische Romanfigur. Sie entstammt einer Familie irischer Einwanderer, ihre Kindheit ist überschattet von Armut und dem Alkoholismus der Mutter. Früh lernt Eileen, nach außen die Fassaden der Normalität zu wahren. Sie arbeitet als leitende Krankenschwester - pragmatisch, praktisch, gut und immer zu Überstunden bereit.

Kein Spaßvogel ist auch der Mann, den sie heiratet. Ed Leary ist Hirnforscher mit dem Fachgebiet Psychopharmakologie. Seine Charakterstärke und Hartnäckigkeit bringen ihn früh auf eine Professur. Grund zur Freude für die ambitionierte Gattin; aber als ein lukratives Angebot aus der Industrie kommt, tritt Ed zu ihrem Leidwesen auf die Karrierebremse. Die Freuden der Forschung sind ihm wichtiger als das Geld.

Ungewöhnlich früh schleicht sich die Krankheit ein, mit kleinen Irritationen und Fehlleistungen, mit ungewöhnlichen, aber nicht unplausiblen Verhaltensweisen. Da fühlt sich Ed überfordert von der wirbeligen Party zu seinem fünfzigsten Geburtstag und meint, einige Gäste nicht zu kennen. Da liegt er nach zwei Jahrzehnten unermüdlicher Lehrtätigkeit plötzlich ganze Tage auf dem Sofa und hört Opern: "Ich muss zurück zu den wesentlichen Dingen." Er findet Verständnis, weil die Angehörigen noch nicht ahnen, dass dieses Verhalten der zunehmenden Überforderung durch den Berufsalltag geschuldet ist. Verzweifelt müht Ed sich, die korrekten Noten für seine Studenten zu ermitteln. Eileen denkt an Burn-out und Midlife-Crisis und hilft ihm beim Ausrechnen und Eintragen der Noten. Beschönigungen sind noch zu haben: "Es gab ja einen Oberbegriff für Männer wie ihn, einen, der seit Generationen mit Hochachtung verwendet wurde: zerstreuter Professor."

Eine große, beklemmende Szene zeigt dem Sohn Connell dann in aller Deutlichkeit, dass mit dem Vater etwas nicht in Ordnung ist. Der Vierzehnjährige, einziges Kind des Paares, begleitet Ed zu einer Vorlesung und wird Zeuge einer peinigenden Vorstellung. Den irritierten Studenten versucht der hirnkranke Hirnforscher mit einem Wirrwarr von Notizzetteln den Stoff über das zentrale Nervensystem darzubieten, mit peinlichen Wiederholungen und mühsam überspielten Aussetzern, wie jemand, der sich komplett verfahren hat und zwischenzeitlich gar nicht mehr weiß, was ein Lenkrad überhaupt ist.

Während sich die Fremde im Inneren ihres Mannes ausbreitet, wächst sie auch in der Nachbarschaft. Eileen, die Tochter irischer Einwanderer, leidet darunter, dass sich das Lebensgefühl in Jackson Heights durch Migration verändert. In paranoiden Momenten sieht sie sich mit den Augen der jungen Latinos als "alte weiße Schlampe", auch wenn die Nachbarn eigentlich freundlich und hilfsbereit sind. Eileen aber verkauft das Haus an eine indische Großfamilie; die Learys ziehen in eine pittoreske, allerdings ziemlich abgewohnte und reparaturbedürftige Vorortvilla - eine riskante Transaktion, zu der bald die explodierenden Pflegekosten kommen. So dass die Familie fortan in doppeltem Sinn ein beschädigtes Leben führt und Eileens pingeliger Perfektionismus einer harten Probe nach der anderen ausgesetzt ist.

Eine akribische Krankheitsschilderung ist allein noch kein Roman; dazu wird sie erst, wenn erzählt wird, wie der Betroffene und seine Angehörigen mit dem Monster der Krankheit zu Rande kommen, welche Leiden, Erschöpfungen, Depressionen und Veränderungen ihres Alltags sie durchmachen. Das geschieht in diesem Roman über eine restlos durchgerüttelte Mittelstandsfamilie mit aller Gründlichkeit. Bei Eileen wechseln Momente, in denen sie den aggressiven Kranken "am liebsten umgebracht hätte", mit einer Liebe und einem intensiven "Hunger nach Zärtlichkeit", der ihr "Carpe diem" aus der Schnelligkeit bezieht, mit der Eds Persönlichkeit hinschwindet.

Den Sohn erwischt der Verfall des Vaters in einer sensiblen Phase seines Lebens. Vom dicklichen, verspotteten Jungen wird Connell zum durchtrainierten, sportbesessenen jungen Mann, der dann - unter dem Eindruck des Familiendesasters - den Football von einem Tag auf den anderen liegenlässt und sich der Literatur zuwendet, was mit Melancholie und Muskelschwund einhergeht. Voller Selbstzweifel bricht er später das Studium ab und stagniert zum Entsetzen der Mutter in einem Pförtnerjob. Vorher aber liest man noch ein ironisch funkelndes Kapitel über seinen Studienaufenthalt in Deutschland. Connell ist beeindruckt von der Gründlichkeit, mit der die Deutschen die nationalsozialistische Vergangenheit bewältigen: "Sie geben sich jede erdenkliche Mühe, als das kollektive Gedächtnis oder eher das zermarterte Gewissen der Welt zu fungieren ... Mit einer unbeirrten Disziplin lassen sie keine Ermüdungserscheinungen ihres historischen Gewissens zu." Die Erinnerungspotenz der Deutschen ist ein merkwürdiges Kontrastmotiv in einem Demenz-Roman.

"Wir sind nicht wir, / wenn die Natur, im Druck, die Seele zwingt, / zu leiden mit dem Körper", heißt es in Shakespeares "König Lear". War die Tragödie des erhabenen Starrsinns in Wahrheit das archetypische Demenz-Drama? Jedenfalls stellt nicht nur Arno Geiger in seinem Bericht über seinen an Alzheimer erkrankten Vater ("Der alte König in seinem Exil") den Bezug her, auch Matthew Thomas tut es schon im Titel. Bei Geiger findet sich allerdings eine gewisse Poetisierung der Krankheit. "Es waren Sätze, die auch ein Held von Franz Kafka oder Thomas Bernhard gesagt haben könnte", heißt es über die reduzierten Äußerungen des Vaters. Solche Sätze sagt Ed Leary nicht. "Wir sind nicht wir" wirkt viel krasser als Arno Geigers Buch, schon deshalb, weil hier ein Mann in mittleren Jahren von der Krankheit zerstört wird. Es gibt Szenen, die schockieren in ihren unerbittlichen Details, wenn etwa der Sohn den eingekoteten, schreienden, wütend um sich tretenden Vater unter die Dusche zu stellen versucht. Die erzählerische Umständlichkeit - neunhundert Seiten für eine überschaubare Handlung und eine Geschichte, deren Verlauf sich früh abzeichnet - schafft jedoch das humane Klima dieses autobiographisch grundierten Krankheitsromans.

Matthew Thomas verarbeitet die Geschichte seines eigenen Vaters. Man wird durch seine hartnäckig realistische Erzählkunst so involviert in das Drama der Familie, dass man die schlimmsten Momente, die in einer Fernsehdokumentation bestimmt voyeuristisch wirken würden, fast schon als Angehöriger erlebt. Deshalb verzeiht man dem Roman seine Längen, auch wenn sie ein Grund dafür sind, dass er den Rang von Jonathan Franzens thematisch reichhaltigerem, gekonnter perspektiviertem Familienpanorama dann doch nicht erreicht. Zum Thema Demenz aber dürfte es kaum einen eindringlicheren, wahreren Roman geben.

WOLFGANG SCHNEIDER

Matthew Thomas: "Wir sind nicht wir". Roman.

Aus dem Englischen von Astrid Becker und Karin Betz. Berlin Verlag, Berlin 2015. 896 S., geb., 18,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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