Diese Bildungsreise durch die Bundesrepublik führt in Städte, in denen sich Deutsch-Türken der zweiten und dritten Generation weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit seit 20 Jahren in Schule und Bildung engagieren. Eine besondere Rolle spielt dabei die Gülen-Bewegung. Mäzene, Schulgründer, Lehrer und Eltern kommen zu Wort. Dabei geht es u.a. um den Schulalltag, die Situation der Kinder, die Lehrinhalte und die Erfahrungen mit der Mehrheitsgesellschaft.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.07.2013Reifen hier die neuen Preußen heran?
Mit der Zahl der deutsch-türkischen Schulen wächst auch das Misstrauen gegen deren Gründer Fethullah Gülen: Jochen Thies hat sich die Bewegung genauer angesehen
Kinder aus türkischen Zuwandererfamilien sind an Gymnasien unterrepräsentiert. Sie zeigen insgesamt schlechtere Leistungen und beenden ihre Schullaufbahn überdurchschnittlich oft ohne Abschluss. Dabei verfügen gerade die Zuwanderer vom Bosporus laut Kinder-Migrationsreport des Deutschen Jugendinstituts (DJI) über "hohe Aufstiegsorientierung sowie einen hohen Aufstiegsoptimismus". Die Eltern begründen diese Diskrepanz mit mangelnder Chancengleichheit, "weil sie von Vorurteilen der Lehrer, zu wenig Förderung durch die Lehrkräfte und von einer schlechteren Beurteilung ihrer Kinder bei gleicher Leistung ausgehen". Mit anderen Worten: Türkischstämmige Eltern misstrauen dem deutschen Bildungssystem.
Die Gruppe derer, die das nicht mehr hinnehmen wollen, wächst. Schon in den neunziger Jahren entstanden Nachhilfeinstitute, inzwischen gibt es in Deutschland zwei Dutzend "türkische" Schulen, in der Mehrzahl Gymnasien. Mehr als dreihundert Bildungseinrichtungen bemühen sich inzwischen, den Nachkommen türkischer Zuwanderer dabei zu helfen, ihre Schulziele zu erreichen. Der Berliner Autor Jochen Thies nennt das "eine Bildungsrevolution im Stillen".
Doch diese "Revolution" behagt nicht allen. Denn deren Initiator ist Fethullah Gülen. Kritiker sehen in ihm den Anführer einer "Geheimorganisation", welche die Weltherrschaft des Islams anstrebt. "Der Spiegel" urteilte, Gülen sei "der Pate", der sich als der "Gandhi des Islams" inszeniere, in Wahrheit aber sei die Fethullah-Gülen-Bewegung "islamistisch". Sie sei Teil des "tiefen Staats" der AKP, eines dubiosen kriminellen Netzwerks von Politik, Justiz und organisiertem Verbrechen. Gülens "Einfluss auf die türkische Politik scheint ungebrochen", seine Gegner würden in der Türkei verhaftet, zuletzt der Journalist Ahmet Sik wegen seines Buchs "Die Armee des Imam", in dem Sik schreibe, "wie es der Gülen-Gemeinde gelungen ist, Polizei und Justiz zu unterwandern".
Die Publizistin Necla Kelek behauptete schon 2008 in dieser Zeitung, Gülen sei dabei, "ein weltweites Netz muslimischer Intelligenz heranzubilden, das einem machtbewussten islamischen Chauvinismus huldigt". Er habe "einen weltweiten Verbund von Stiftungen und Schulen gegründet, der vor allem die neue muslimische technische Intelligenz heranbilden soll und wie eine Art Geheimsekte agiert". Fethullahci, wie sich Gülens Anhänger nennen, hätten inzwischen Positionen bis in türkische Regierungskreise.
Der Berliner Publizist Jochen Thies kennt die Gülen-Bewegung seit 2009. Er schätzt ihren "Beitrag zur Integration - durch Bildung" und ließ sich in den Beirat des Forums für interkulturellen Dialog einbinden. Zunächst, so Thies, habe er die Gülen-Bewegung mit den europäischen Bettelorden des Mittelalters verglichen, vielleicht sogar mit den Jesuiten. "Heute neige ich jedoch mehr der Auffassung des jüdischen Rabbiners Walter Homolka zu, dem Direktor des Potsdamer Abraham-Geiger-Kollegs, wonach die Bewegung an die Entwicklung des liberalen Judentums im neunzehnten Jahrhundert erinnere, an den Versuch, religiöse Identität mit Bildung und Integration in die säkulare Umwelt zu verbinden." Das Bild vom "Paten" ist für ihn "ein Hirngespinst".
Thies hat mehrere Schulen über einen längeren Zeitraum begleitet. Er stellt fest, dass deutschtürkische Familien für die Zukunft ihrer Kinder erhebliche finanzielle Opfer bringen - für Schulgeld, Bücher, Schulkleidung und Fahrtkosten für zum Teil stundenlange Schulwege. In den Klassenräumen von Schulen mit merkwürdigen Namen wie TÜDESB in Berlin oder BiL in Stuttgart beobachtete Thies: "Die Kinder sind nicht allzu laut. Es gibt keinen Vandalismus, keine Sachbeschädigung, keine Graffiti." In der Mensa hörte er "keine türkischen Laute", dafür stellte er eine große "Selbstdisziplin der Kinder" fest, die sogar beim Abräumen der Tische helfen. Die meist deutschen Lehrer und Schulleiter, so Thies, hielten sich an den vielbelächelten Satz: "Kleider machen Leute."
Unterrichtssprache ist Deutsch, erste Fremdsprache Englisch. Es gibt keinen Religionsunterricht - für den Autor "die größte Überraschung" -, sondern Ethikunterricht, während beispielsweise in Berlin evangelische wie katholische Schulen ausdrücklich Religionsunterricht anböten. Der Schulleiter des Kölner Dialog-Gymnasiums, Stefan Völker, erklärt, dass die Schule wie auch jene der katholischen Kirche junge Menschen über Bildung qualifizieren, aber "nicht missionieren" wolle. Es gibt keinen Gebetsraum. Die meisten Schulen bieten Ganztagsbetreuung an, in der Schule bei Paderborn sind neunzig Prozent der Schüler Internatskinder. Die treibende Kraft dieser Einrichtung, Emin Özel, ist Unternehmer, Mitglied im Rotary Club und Schützenkönig von Paderborn. "Spätestens dann", so Thies, "ist man bei den Westfalen angekommen."
Und diese erfolgreichen Deutschtürken werden bleiben, kündigt Thies an: "Wer eine Schule errichtet, plant in Zeiträumen von Generationen." Indem sie sich aus dem Unterschichten-Getto löse, nehme die Bedeutung der Religion ab. Thies sagt, die aufstiegswilligen Deutschtürken seien "von der Mentalität her ,Amerikaner'", weil sie die Dinge selbst in die Hand nähmen; deshalb wüchse bald eine "neue Teilelite der Bundesrepublik" heran, erfolgreiche Unternehmer, Politiker, Banker, Rechtsanwälte und Künstler. "Die erfolgreichen Deutschtürken", so Thies, "könnten die neuen Preußen des Landes werden."
Noch sind deutschstämmige Kinder an den "Gülen-Schulen" die Ausnahme. Thies diagnostiziert eine "Kluft zwischen theoretischer Bereitschaft zum Zusammenleben" und dem praktischen Leben, Berührungsangst, wenn nicht Abgrenzung. Aber im Kölner Dialog-Gymnasium hofft die Schulleitung dennoch, "dass der Tag kommen wird, an dem die Hälfte der Kinder von der Mehrheitsgesellschaft entsandt werden wird". Auch das setzt Bildung voraus - bei der Mehrheit der Bevölkerung. Das Buch dazu hat Jochen Thies geschrieben: ein Buch gegen das Misstrauen.
PETER KÖPF
Jochen Thies: "Wir sind Teil dieser Gesellschaft". Einblicke in die Bildungsinitiativen der Gülen-Bewegung.
Herder Verlag, Freiburg 2013. 184 S., br., 9,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit der Zahl der deutsch-türkischen Schulen wächst auch das Misstrauen gegen deren Gründer Fethullah Gülen: Jochen Thies hat sich die Bewegung genauer angesehen
Kinder aus türkischen Zuwandererfamilien sind an Gymnasien unterrepräsentiert. Sie zeigen insgesamt schlechtere Leistungen und beenden ihre Schullaufbahn überdurchschnittlich oft ohne Abschluss. Dabei verfügen gerade die Zuwanderer vom Bosporus laut Kinder-Migrationsreport des Deutschen Jugendinstituts (DJI) über "hohe Aufstiegsorientierung sowie einen hohen Aufstiegsoptimismus". Die Eltern begründen diese Diskrepanz mit mangelnder Chancengleichheit, "weil sie von Vorurteilen der Lehrer, zu wenig Förderung durch die Lehrkräfte und von einer schlechteren Beurteilung ihrer Kinder bei gleicher Leistung ausgehen". Mit anderen Worten: Türkischstämmige Eltern misstrauen dem deutschen Bildungssystem.
Die Gruppe derer, die das nicht mehr hinnehmen wollen, wächst. Schon in den neunziger Jahren entstanden Nachhilfeinstitute, inzwischen gibt es in Deutschland zwei Dutzend "türkische" Schulen, in der Mehrzahl Gymnasien. Mehr als dreihundert Bildungseinrichtungen bemühen sich inzwischen, den Nachkommen türkischer Zuwanderer dabei zu helfen, ihre Schulziele zu erreichen. Der Berliner Autor Jochen Thies nennt das "eine Bildungsrevolution im Stillen".
Doch diese "Revolution" behagt nicht allen. Denn deren Initiator ist Fethullah Gülen. Kritiker sehen in ihm den Anführer einer "Geheimorganisation", welche die Weltherrschaft des Islams anstrebt. "Der Spiegel" urteilte, Gülen sei "der Pate", der sich als der "Gandhi des Islams" inszeniere, in Wahrheit aber sei die Fethullah-Gülen-Bewegung "islamistisch". Sie sei Teil des "tiefen Staats" der AKP, eines dubiosen kriminellen Netzwerks von Politik, Justiz und organisiertem Verbrechen. Gülens "Einfluss auf die türkische Politik scheint ungebrochen", seine Gegner würden in der Türkei verhaftet, zuletzt der Journalist Ahmet Sik wegen seines Buchs "Die Armee des Imam", in dem Sik schreibe, "wie es der Gülen-Gemeinde gelungen ist, Polizei und Justiz zu unterwandern".
Die Publizistin Necla Kelek behauptete schon 2008 in dieser Zeitung, Gülen sei dabei, "ein weltweites Netz muslimischer Intelligenz heranzubilden, das einem machtbewussten islamischen Chauvinismus huldigt". Er habe "einen weltweiten Verbund von Stiftungen und Schulen gegründet, der vor allem die neue muslimische technische Intelligenz heranbilden soll und wie eine Art Geheimsekte agiert". Fethullahci, wie sich Gülens Anhänger nennen, hätten inzwischen Positionen bis in türkische Regierungskreise.
Der Berliner Publizist Jochen Thies kennt die Gülen-Bewegung seit 2009. Er schätzt ihren "Beitrag zur Integration - durch Bildung" und ließ sich in den Beirat des Forums für interkulturellen Dialog einbinden. Zunächst, so Thies, habe er die Gülen-Bewegung mit den europäischen Bettelorden des Mittelalters verglichen, vielleicht sogar mit den Jesuiten. "Heute neige ich jedoch mehr der Auffassung des jüdischen Rabbiners Walter Homolka zu, dem Direktor des Potsdamer Abraham-Geiger-Kollegs, wonach die Bewegung an die Entwicklung des liberalen Judentums im neunzehnten Jahrhundert erinnere, an den Versuch, religiöse Identität mit Bildung und Integration in die säkulare Umwelt zu verbinden." Das Bild vom "Paten" ist für ihn "ein Hirngespinst".
Thies hat mehrere Schulen über einen längeren Zeitraum begleitet. Er stellt fest, dass deutschtürkische Familien für die Zukunft ihrer Kinder erhebliche finanzielle Opfer bringen - für Schulgeld, Bücher, Schulkleidung und Fahrtkosten für zum Teil stundenlange Schulwege. In den Klassenräumen von Schulen mit merkwürdigen Namen wie TÜDESB in Berlin oder BiL in Stuttgart beobachtete Thies: "Die Kinder sind nicht allzu laut. Es gibt keinen Vandalismus, keine Sachbeschädigung, keine Graffiti." In der Mensa hörte er "keine türkischen Laute", dafür stellte er eine große "Selbstdisziplin der Kinder" fest, die sogar beim Abräumen der Tische helfen. Die meist deutschen Lehrer und Schulleiter, so Thies, hielten sich an den vielbelächelten Satz: "Kleider machen Leute."
Unterrichtssprache ist Deutsch, erste Fremdsprache Englisch. Es gibt keinen Religionsunterricht - für den Autor "die größte Überraschung" -, sondern Ethikunterricht, während beispielsweise in Berlin evangelische wie katholische Schulen ausdrücklich Religionsunterricht anböten. Der Schulleiter des Kölner Dialog-Gymnasiums, Stefan Völker, erklärt, dass die Schule wie auch jene der katholischen Kirche junge Menschen über Bildung qualifizieren, aber "nicht missionieren" wolle. Es gibt keinen Gebetsraum. Die meisten Schulen bieten Ganztagsbetreuung an, in der Schule bei Paderborn sind neunzig Prozent der Schüler Internatskinder. Die treibende Kraft dieser Einrichtung, Emin Özel, ist Unternehmer, Mitglied im Rotary Club und Schützenkönig von Paderborn. "Spätestens dann", so Thies, "ist man bei den Westfalen angekommen."
Und diese erfolgreichen Deutschtürken werden bleiben, kündigt Thies an: "Wer eine Schule errichtet, plant in Zeiträumen von Generationen." Indem sie sich aus dem Unterschichten-Getto löse, nehme die Bedeutung der Religion ab. Thies sagt, die aufstiegswilligen Deutschtürken seien "von der Mentalität her ,Amerikaner'", weil sie die Dinge selbst in die Hand nähmen; deshalb wüchse bald eine "neue Teilelite der Bundesrepublik" heran, erfolgreiche Unternehmer, Politiker, Banker, Rechtsanwälte und Künstler. "Die erfolgreichen Deutschtürken", so Thies, "könnten die neuen Preußen des Landes werden."
Noch sind deutschstämmige Kinder an den "Gülen-Schulen" die Ausnahme. Thies diagnostiziert eine "Kluft zwischen theoretischer Bereitschaft zum Zusammenleben" und dem praktischen Leben, Berührungsangst, wenn nicht Abgrenzung. Aber im Kölner Dialog-Gymnasium hofft die Schulleitung dennoch, "dass der Tag kommen wird, an dem die Hälfte der Kinder von der Mehrheitsgesellschaft entsandt werden wird". Auch das setzt Bildung voraus - bei der Mehrheit der Bevölkerung. Das Buch dazu hat Jochen Thies geschrieben: ein Buch gegen das Misstrauen.
PETER KÖPF
Jochen Thies: "Wir sind Teil dieser Gesellschaft". Einblicke in die Bildungsinitiativen der Gülen-Bewegung.
Herder Verlag, Freiburg 2013. 184 S., br., 9,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Freundlich hat Peter Köpf dieses Buch über die deutsch-türkischen Schulen in Deutschland von Jochen Thies aufgenommen. Der Autor ermöglicht seines Erachtens einen informativen und genauen Einblick in das Schulleben, den Unterricht und das Niveau dieser Schulen. Überrascht hat ihn etwa, dass es keinen Religionsunterricht, sondern nur Ethikunterricht gibt. Deutlich wird für ihn, dass es hier nicht um Missionierung, sondern um Bildung und Qualifikation geht. Thies halte die Skepsis von Teilen der Medien gegen den Gründer der Schulen, Fethullah Gülen, für nicht berechtigt. Das Fazit des Rezensenten: ein Buch "gegen das Misstrauen".
© Perlentaucher Medien GmbH
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