Die Occupy-Bewegung zeigt: Die europäische Öffentlichkeit ist zornig. Die Menschen wehren sich gegen die radikale Ökonomisierung der Politik und des öffentlichen Lebens. Sie sind viele und sie bestehen darauf: Das europäische Betriebssystem ist nicht der Euro, sondern die Demokratie. Heribert Prantl, Mitglied der SZ-Chefredaktion, klagt in "Wir sind viele" ein System an, das den Staat zum nützlichen Idioten macht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.12.2011Sind wir wütend genug?
Slavoj Zizek, Judith Butler und Heribert Prantl denken über Protestformen nach
Beim Boxen, sagt der Philosoph Slavoj Zizek, spricht man vom "Clinch", wenn der Gegner mit einem oder mit beiden Armen umklammert wird, um dessen Schläge zu erschweren oder zu verhindern. Zizek sagt das in der überarbeiteten Rede, die er am 9. Oktober im New Yorker Zucotti Park gehalten hat. In der "Occupy!"-Dokumentation bei Suhrkamp ist sie jetzt nachzulesen. Und er sagt dies natürlich, um auf das Feld der Politik zu verweisen. Genauer gesagt auf Bill Clinton: Die Reaktion des ehemaligen Präsidenten auf die Proteste an der Wall Street, stellt Zizek fest, sei ein perfektes Beispiel für "politisches Clinchen" gewesen.
Clinton hatte die Proteste "unterm Strich" als "eine gute Sache" bezeichnet und sich zugleich Sorgen über die Vagheit der ganzen Angelegenheit gemacht: "Sie müssen für etwas Bestimmtes eintreten und nicht immer nur dagegen sein", fand er. "Denn wenn man nur gegen etwas ist, wird jemand anderes das Vakuum ausfüllen, das man erzeugt." Also schlug er den Demonstranten vor, Obamas Plan zu unterstützen, Arbeitsplätze zu schaffen; ein Plan, der, wie er behauptete, "innerhalb der nächsten anderthalb Jahre ein paar Millionen neue Jobs" hervorbringen werde. Den Protest in eine Reihe "konkreter" Forderungen zu übersetzen - genau darin liegt für Zizek Clintons politische Praktik des "Clinchens", die zugleich ein Aufruf zu Mäßigung und zum Pragmatismus ist. Die Energie würde auf der Stelle verpuffen. Die Politik wäre zurück bei der Tagesordnung.
Im Herbst 2010 hörte sich das in Deutschland im Zusammenhang mit Stuttgart 21 ganz ähnlich an. Als da die Begriffe "Wutbürger" oder "Protest-Demokratie" entstanden, meinten die politischen Kommentatoren diese von ihnen erfundenen Begriffe nicht anerkennend, wie man zunächst vermuten konnte, sondern abfällig. Sie verteidigten die politische Klasse und riefen die "Entfesselten" dazu auf, "Contenance" zu wahren: "Wahrscheinlich können sich nur ganz wenige Menschen den barbarischen Druck vorstellen, unter dem Berufspolitiker ihre höchst folgenreichen Entscheidungen treffen müssen", schrieb Gustav Seibt in der "Süddeutschen Zeitung".
Und der "Spiegel" mahnte, der "Wutbürger" breche mit der bürgerlichen Tradition, dass zur politischen Mitte auch eine innere Mitte gehöre, also Gelassenheit, und empfahl ihm, mal wieder Thomas Manns "Buddenbrooks" zu lesen. Da lerne man "Contenance und tadellose Haltung". Seither geistert der "Wutbürger"-Begriff als diskreditierender auch im Zusammenhang mit den Protesten gegen den die Demokratie untergrabenden globalen Kapitalismus umher. Aber sind wir überhaupt wütend, sind wir zornig genug?
Für Zizek liegt die Chance des Protests grundsätzlich darin, dass er ein deutungsoffenes Vakuum erzeugt und die Öffnung für etwas Neues möglich macht. Oder, wie Heribert Prantl es in seiner gerade erschienen Streitschrift "Wir sind viele - Eine Anklage gegen den Finanzkapitalismus" formuliert: "Durch das ,Nein' hindurch schimmert mehr: die Suche nach Positivem, nach Perspektiven, nach anderen Leitlinien der Politik." Prantl plädiert für eine Stärkung der direkten, partizipativen Demokratie. "Eine Politik des öffentlichen Körpers", nennt das die Kulturtheoretikerin Judith Butler in ihrer Zucotti-Park-Rede, die ebenfalls im "Occupy!"-Band abgedruckt ist: "Wir wären nicht hier", sagt sie, "wenn die gewählten Funktionäre den Willen des Volkes repräsentieren würden. Wir stehen abseits des Wahlprozesses und seiner Verstrickungen in ausbeuterische Praktiken. Aber wir sind hier. Und wir bleiben hier und füllen die Formel ,We, the people', ,Wir, das Volk', mit Leben."
Das ist pathetisch, aber wirkungsvoll. Es gibt einen tollen Effekt, wenn man den "Occupy!"Band liest und die ersten (am Ende wird's sehr biblisch) Kapitel der Streitschrift von Prantl gleich hinterher. Eben noch wie lahmgelegt durch den täglichen Finanznachrichtenwahnsinn, gerät man wieder in Bewegung.
JULIA ENCKE
Heribert Prantl: "Wir sind viele - Eine Anklage gegen den Finanzkapitalismus". Süddeutsche Zeitung Edition Streitschrift, 47 Seiten, 5,10 Euro "Occupy! - Die ersten Wochen in New York. Eine Dokumentation". Edition Suhrkamp Digital, 94 Seiten, 6,20 Euro
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Slavoj Zizek, Judith Butler und Heribert Prantl denken über Protestformen nach
Beim Boxen, sagt der Philosoph Slavoj Zizek, spricht man vom "Clinch", wenn der Gegner mit einem oder mit beiden Armen umklammert wird, um dessen Schläge zu erschweren oder zu verhindern. Zizek sagt das in der überarbeiteten Rede, die er am 9. Oktober im New Yorker Zucotti Park gehalten hat. In der "Occupy!"-Dokumentation bei Suhrkamp ist sie jetzt nachzulesen. Und er sagt dies natürlich, um auf das Feld der Politik zu verweisen. Genauer gesagt auf Bill Clinton: Die Reaktion des ehemaligen Präsidenten auf die Proteste an der Wall Street, stellt Zizek fest, sei ein perfektes Beispiel für "politisches Clinchen" gewesen.
Clinton hatte die Proteste "unterm Strich" als "eine gute Sache" bezeichnet und sich zugleich Sorgen über die Vagheit der ganzen Angelegenheit gemacht: "Sie müssen für etwas Bestimmtes eintreten und nicht immer nur dagegen sein", fand er. "Denn wenn man nur gegen etwas ist, wird jemand anderes das Vakuum ausfüllen, das man erzeugt." Also schlug er den Demonstranten vor, Obamas Plan zu unterstützen, Arbeitsplätze zu schaffen; ein Plan, der, wie er behauptete, "innerhalb der nächsten anderthalb Jahre ein paar Millionen neue Jobs" hervorbringen werde. Den Protest in eine Reihe "konkreter" Forderungen zu übersetzen - genau darin liegt für Zizek Clintons politische Praktik des "Clinchens", die zugleich ein Aufruf zu Mäßigung und zum Pragmatismus ist. Die Energie würde auf der Stelle verpuffen. Die Politik wäre zurück bei der Tagesordnung.
Im Herbst 2010 hörte sich das in Deutschland im Zusammenhang mit Stuttgart 21 ganz ähnlich an. Als da die Begriffe "Wutbürger" oder "Protest-Demokratie" entstanden, meinten die politischen Kommentatoren diese von ihnen erfundenen Begriffe nicht anerkennend, wie man zunächst vermuten konnte, sondern abfällig. Sie verteidigten die politische Klasse und riefen die "Entfesselten" dazu auf, "Contenance" zu wahren: "Wahrscheinlich können sich nur ganz wenige Menschen den barbarischen Druck vorstellen, unter dem Berufspolitiker ihre höchst folgenreichen Entscheidungen treffen müssen", schrieb Gustav Seibt in der "Süddeutschen Zeitung".
Und der "Spiegel" mahnte, der "Wutbürger" breche mit der bürgerlichen Tradition, dass zur politischen Mitte auch eine innere Mitte gehöre, also Gelassenheit, und empfahl ihm, mal wieder Thomas Manns "Buddenbrooks" zu lesen. Da lerne man "Contenance und tadellose Haltung". Seither geistert der "Wutbürger"-Begriff als diskreditierender auch im Zusammenhang mit den Protesten gegen den die Demokratie untergrabenden globalen Kapitalismus umher. Aber sind wir überhaupt wütend, sind wir zornig genug?
Für Zizek liegt die Chance des Protests grundsätzlich darin, dass er ein deutungsoffenes Vakuum erzeugt und die Öffnung für etwas Neues möglich macht. Oder, wie Heribert Prantl es in seiner gerade erschienen Streitschrift "Wir sind viele - Eine Anklage gegen den Finanzkapitalismus" formuliert: "Durch das ,Nein' hindurch schimmert mehr: die Suche nach Positivem, nach Perspektiven, nach anderen Leitlinien der Politik." Prantl plädiert für eine Stärkung der direkten, partizipativen Demokratie. "Eine Politik des öffentlichen Körpers", nennt das die Kulturtheoretikerin Judith Butler in ihrer Zucotti-Park-Rede, die ebenfalls im "Occupy!"-Band abgedruckt ist: "Wir wären nicht hier", sagt sie, "wenn die gewählten Funktionäre den Willen des Volkes repräsentieren würden. Wir stehen abseits des Wahlprozesses und seiner Verstrickungen in ausbeuterische Praktiken. Aber wir sind hier. Und wir bleiben hier und füllen die Formel ,We, the people', ,Wir, das Volk', mit Leben."
Das ist pathetisch, aber wirkungsvoll. Es gibt einen tollen Effekt, wenn man den "Occupy!"Band liest und die ersten (am Ende wird's sehr biblisch) Kapitel der Streitschrift von Prantl gleich hinterher. Eben noch wie lahmgelegt durch den täglichen Finanznachrichtenwahnsinn, gerät man wieder in Bewegung.
JULIA ENCKE
Heribert Prantl: "Wir sind viele - Eine Anklage gegen den Finanzkapitalismus". Süddeutsche Zeitung Edition Streitschrift, 47 Seiten, 5,10 Euro "Occupy! - Die ersten Wochen in New York. Eine Dokumentation". Edition Suhrkamp Digital, 94 Seiten, 6,20 Euro
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