Die Geschichte einer verführbaren jungen Frau in den turbulenten Jahren nach 1968
Die Welt steht Hilla Palm offen. Nach langem Suchen hat das Mädchen aus einfachem Hause endlich ihre Heimat gefunden: in der Literatur und Hugo, dem Mann, der Hilla mit all ihren bitteren Erfahrungen annimmt. Zusammen entdecken sie die Liebe und erleben die 68er Jahre, in denen alles möglich scheint.
Doch dann durchkreuzt das Schicksal ihre Pläne, und verzweifelt sucht Hilla Halt bei Menschen, die für eine friedvollere, gerechtere Welt kämpfen. Die marxistische Weltanschauung wird ihr zum neuen Zuhause. Beherzt folgt sie ihren Überzeugungen und muss am Ende doch schmerzlich erkennen, dass Freiheit ohne die Freiheit des Wortes nicht möglich ist.
"Wir werden erwartet" erzählt mitreißend die Geschichte einer suchenden jungen Frau in den turbulenten Jahren zwischen 1968 und dem Deutschen Herbst. Ein nachdenklich stimmendes Buch über den Mut, die Gesellschaft und sein Leben zu verändern - ein Buch über die Kraft der Versöhnung.
Die Welt steht Hilla Palm offen. Nach langem Suchen hat das Mädchen aus einfachem Hause endlich ihre Heimat gefunden: in der Literatur und Hugo, dem Mann, der Hilla mit all ihren bitteren Erfahrungen annimmt. Zusammen entdecken sie die Liebe und erleben die 68er Jahre, in denen alles möglich scheint.
Doch dann durchkreuzt das Schicksal ihre Pläne, und verzweifelt sucht Hilla Halt bei Menschen, die für eine friedvollere, gerechtere Welt kämpfen. Die marxistische Weltanschauung wird ihr zum neuen Zuhause. Beherzt folgt sie ihren Überzeugungen und muss am Ende doch schmerzlich erkennen, dass Freiheit ohne die Freiheit des Wortes nicht möglich ist.
"Wir werden erwartet" erzählt mitreißend die Geschichte einer suchenden jungen Frau in den turbulenten Jahren zwischen 1968 und dem Deutschen Herbst. Ein nachdenklich stimmendes Buch über den Mut, die Gesellschaft und sein Leben zu verändern - ein Buch über die Kraft der Versöhnung.
buecher-magazin.deNoch einmal ergreift Hilla Palm das Wort, "Arbeiterkind aus Dondorf am Rhein, katholisch getauft und erzogen". Doch jetzt, im vierten Band des Romanepos, hat sich die Glaubensbereitschaft der Romanheldin verlagert. Nach dem Unfalltod des geliebten Hugos, mit großer erzählerischer Meisterschaft dargestellt, fällt es Hilla schwer, an das Gute zu glauben, das bisher "Derdaoben" repräsentierte. Heil und Rettung für sich und die Welt glaubt Hilla, die nunmehr in Hamburg studiert und in einer Wohngemeinschaft lebt, in den Versprechungen sozialistischer Ideen zu erkennen. Sie tritt in die DKP ein, kämpft für Sandkisten und gegen Mietwucher und fühlt sich ganz auf der richtigen Seite - bis die Zweifel beginnen, die Ungereimtheiten nicht mehr zu leugnen sind. Nicht zuletzt eine Reise zu den wahren Genossen in der DDR und die Beobachtungen dort bringen Enttäuschung und Ernüchterung. Um die Frage sich selbst beantworten zu können, weshalb sie, Ulla Hahn, sich auf diesen Irrpfad begeben konnte, hat sie dieses Mammutprojekt begonnen. "Allerdings", so äußerte sie kürzlich, "hätte ich gewusst, dass es 20 Jahre in Anspruch nehmen würde, hätte ich die Finger davon gelassen." In diesem Fall: ein Segen für die Leser, dass nicht alles vorhersehbar ist. So entstand ein höchst anschauliches Panorama jener Jahre.
© BÜCHERmagazin, Jeanette Stickler
© BÜCHERmagazin, Jeanette Stickler
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.08.2017Zum letzten Mal geht es los - aber wie!
Ulla Hahn beschließt mit "Wir werden erwartet" ihren autobiographischen Romanzyklus um die junge Rheinländerin Hilla Palm. Die bricht auf in eine neue Welt, während ihre alte zerfällt.
Jetzt hat Ulla Hahn das Schreibtempo noch einmal forciert. Dauerte es nach "Das verborgene Wort", dem 2001 erschienenen Roman, der die zuvor vor allem als Lyrikerin berühmte Schriftstellerin auch zur Erfolgsprosaistin machte, immerhin acht Jahre, ehe der Nachfolgeband "Aufbruch" fertig war, verging dann nur noch ein halbes Jahrzehnt bis zur nächsten Fortsetzung, "Spiel der Zeit", und nun wird nach lediglich drei weiteren Jahren die insgesamt mehr als 2400 Seiten umfassende Tetralogie schon fertiggeschmiedet, und das auch noch mit dem umfangreichsten Teil. Dieser Abschlussband trägt den Titel "Wir werden erwartet" - als setzte er unmittelbar jenen Satz fort, mit dem 2001 alles anhob und der seitdem immer zu Beginn und Ende der anderen Bücher als Cantus firmus wiederaufgenommen wurde: "Lommer jonn" - los geht's.
Das ist jenes Platt, das die junge Ulla Hahn in Monheim, einer rechtsrheinischen Kleinstadt zwischen Köln und Düsseldorf, kennen und sprechen gelernt hatte, und das sie in den letzten anderthalb Jahrzehnten einem nach Hunderttausenden zählenden Lesepublikum nahebrachte - so nahe, dass in "Wir werden erwartet" erstmals kein einziger Ausdruck oder Satz mehr in hochdeutsche Fußnoten übersetzt werden muss. Es ist aber auch der Band, in dem sich Hilla Palm - die nicht nur in Silbenzahl und Namensklang an Ulla Hahn erinnernde Protagonistin des "Lommer jonn"-Zyklus, wie man das nun vollendete Projekt nennen könnte - von ihrer rheinischen Herkunft emanzipiert und zur Promotion nach Hamburg aufbricht, wo ihre streng katholische Erziehung eine gravierende Umprägung erfährt: zur Kommunistin. "Ich brachte alles mit, was man für eine Religion braucht. Bindungswille, Ergebenheit. Den bereitwilligen Blick, die Wirklichkeit zu formen nach einer höheren Wahrheit. Der Wahrheit der Kirche. Der Wahrheit der Partei. Mich in den Dienst der Großen Sache stellen, den Eigen-Sinn aufgeben - Dat Kenk hätt ne eijene Kopp -, sich der Partei anvertrauen wie vormals dem lieben Gott." Damit war Hilla Palm in jener bundesdeutschen Zeit, um die es hier geht, den späten sechziger bis zu den mittleren siebziger Jahren, nicht allein.
Ulla Hahn erlebte es damals genauso, als sie selbst aus Köln nach Hamburg ging. Doch da es sich bei "Wir werden erwartet" um einen veritablen Roman handelt und nicht um Knausgardsches Kokettieren mit Wirklichkeit, ist hier kräftig verfremdet worden. Nicht nur Personen- und Ortsnamen (aus Monheim ist Dondorf geworden) sind anders als in Wirklichkeit, sondern auch die Konstellationen der Handlung. Man nehme nur etwa einen (realen) Hamburger Parteigenossen, mit dem, wie man aus dessen Autobiographie weiß, Ulla Hahn seinerzeit liiert war und das dortige "Traumpaar der DKP" bildete. Er kommt in "Wir werden erwartet" gar nicht vor; einzelne Aspekte des Parteilebens, an denen er beteiligt war, werden im Buch einer weiblichen Figur zugeordnet. Ulla Hahn löst sich also konsequent von der Wirklichkeit - ihr gutes Recht, ja ihre Pflicht in einem als Roman ausgewiesenen Text.
Andererseits entstammen die Gedichte aus der Feder Hilla Palms allesamt der veröffentlichten Poesie von Ulla Hahn. Dieses Wechselspiel von Ver- und Entbergen des autobiographischen Anteils macht gerade den Reiz der Lektüre aus - bis hin zum intertextuellen Spiel, das Ulla Hahn im dritten Teil, "Spiel der Zeit", begonnen hatte, als sie den Reiz des Schreibens für sich selbst als Autorin dezidiert so beschrieb: "Erfahrungen und Erfindungen so miteinander zu verschmelzen, dass jenseits von Erfahrung und Erfindung ein Drittes entsteht: die Erzählung, der Text." Dann führte sie das tatsächliche wieder ins erzählende Ich über. Und nun im vierten Teil wird auch die briefliche Mahnung explizit gemacht, die Hilla Palm schon viel früher als Schülerin von ihrem Biologielehrer bekommen hat, der die Arbeitertochter zum Schreiben ermutigte: "Du kannst Dich Dir selbst erzählen. Du bist Deine Geschichte. Lass nicht zu, dass andere Deine Geschichte schreiben."
So erwächst die inhaltliche Rechtfertigung des autobiographisch grundierten Romanzyklus aus sich selbst, ein Verfahren, das in der literarischen Moderne seit Proust nicht mehr neu ist, aber hier mit großer Lust noch einmal beherzigt wird: "Hörst du, Hilla, mein Kind? Ich weiß, du schreibst. Nein, nicht deine Doktorarbeit. Die auch. Schreib von dir, schreib von mir, ja, auch von mir wirst du schreiben, als wär's ein Stück von dir. Hörst du, Hilla, mein Kind?" Die wiederholte Anrede gibt nicht nur die unauflösbare Verquickung von Autorin und Protagonistin preis, sondern auch die Anregung zur Form der Tetralogie: In Wagners "Götterdämmerung", dem vierten und letzten Teil des "Rings des Nibelungen", ist es Alberich, der mehrfach anhebt: "Schläfst du, Hagen, mein Sohn?"
Aber keine Sorge, das ist kein Buch, das nur über die Form oder Referenzen lebte. Das, was erzählt wird, dürfte auch an solchen Fragen weniger Interessierte mühelos bei der Stange halten, denn zunächst setzt Ulla Hahn die im dritten Band begonnene Liebesgeschichte von Hilla Palm und Hugo Breidenbach fort, die erste, die rettende große Liebe nach der zuvor alles dominierenden Vergewaltigung, von der in "Aufbruch" erzählt wurde. Mit Hugo wird nicht nur der Glaube wieder glaubhaft, mit Hugo geht es zum ersten Mal aus der rheinischen Enge ins Weite hinaus, nach Rom, mit Hugo scheint alles zu gelingen. Doch der Zeit mit Hugo ist ein Ende gesetzt, und das enthüllt Ulla Hahn schon auf der ersten Seite des neuen Romans: "Die Zeit drängt. Drängt mich hinein in das Ende dieser Geschichte, ein Ende, vor dessen Anfang ich zurückschrecke wie der Arzt vor dem Schnitt. Ohne Betäubung." Es ist eine Rhetorik der Dringlichkeit, die dieses erste Buch im vierten Band - auch das ein Novum bei Ulla Hahn: die Unterteilung eines einzelnen Buchs in mehrere Teile - vorantreibt und dann nach dem Bruch, im zweiten Großkapitel, dem Hamburg-Strang, wieder zurückgenommen wird, als der unstillbare Schmerz die Protagonistin in die Partei führt, wo eine neue Gemeinschaftlichkeit zu winken scheint. Diese Illusion wird auf einer organisierten Reise mehrerer Hamburger DKP-Mitglieder in die DDR zerstört; dort wird Hilla Palm Zeugin eines Systems, das seine eigenen Werte verrät und die Kunst (der sie sich als Schriftstellerin längst intensiver verschrieben hat als der Politik) zur bloßen doktrinären Dienstleisterin degradieren will. Genossen erweisen sich als Spitzel, Freunde als Fanatiker. Hilla Palm wird nur durch die Treue zu den eigenen Idealen lange in der Partei gehalten, doch die Entscheidung für oder gegen sie ist unausweichlich.
Hier schreibt Ulla Hahn ein großes Stück westdeutscher Ideologiegeschichte im kleinen Rahmen der Hamburger kommunistischen Zirkel mit all deren Rivalitäten. Aber auch mit ihren Heroen: Überlebenden der NS-Zeit, Überzeugte auch über die Jahre des KPD-Verbots hinweg. Die junge Hilla Palm erfährt all das durch Geschichten, und wie diese Erzählungen mit der eigenen verschränkt werden, ist ein Meisterstück. Die "Lommer jonn"-Tetralogie wird welthaltig, und gerade dadurch verliert Hilla Palm noch einmal den Boden unter den Füßen. Doch im Gegensatz zum Mädchen der beiden Auftaktbände, dessen Traumata und Träume auch hier immer wieder anklingen, hat sie nun einmal das Vertrauen zu einem anderen Menschen genossen und vertraut sich fortan selbst. Das wird bisweilen in hohem Pathos und tränenreichen Szenen beschworen, aber stets führt Ulla Hahn uns zurück in eine Beobachterhaltung, die von Hilla Palms neuem Reflexionsniveau profitiert. Und wenn dann das dritte Buch in "Wir werden erwartet" nur sechs Seiten umfasst, aber "Das Fest" heißt, dann löst sich dieser Titel in einer wunderbaren Coda ein, die dieses Romans und seiner drei Vorgänger würdig ist. Daran, dass es mit Hilla Palm nicht mehr weitergehen wird, besteht danach kein Zweifel. Von da an ist sie Ulla Hahn.
ANDREAS PLATTHAUS
Ulla Hahn: "Wir werden erwartet". Roman.
DVA, München 2017. 634 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ulla Hahn beschließt mit "Wir werden erwartet" ihren autobiographischen Romanzyklus um die junge Rheinländerin Hilla Palm. Die bricht auf in eine neue Welt, während ihre alte zerfällt.
Jetzt hat Ulla Hahn das Schreibtempo noch einmal forciert. Dauerte es nach "Das verborgene Wort", dem 2001 erschienenen Roman, der die zuvor vor allem als Lyrikerin berühmte Schriftstellerin auch zur Erfolgsprosaistin machte, immerhin acht Jahre, ehe der Nachfolgeband "Aufbruch" fertig war, verging dann nur noch ein halbes Jahrzehnt bis zur nächsten Fortsetzung, "Spiel der Zeit", und nun wird nach lediglich drei weiteren Jahren die insgesamt mehr als 2400 Seiten umfassende Tetralogie schon fertiggeschmiedet, und das auch noch mit dem umfangreichsten Teil. Dieser Abschlussband trägt den Titel "Wir werden erwartet" - als setzte er unmittelbar jenen Satz fort, mit dem 2001 alles anhob und der seitdem immer zu Beginn und Ende der anderen Bücher als Cantus firmus wiederaufgenommen wurde: "Lommer jonn" - los geht's.
Das ist jenes Platt, das die junge Ulla Hahn in Monheim, einer rechtsrheinischen Kleinstadt zwischen Köln und Düsseldorf, kennen und sprechen gelernt hatte, und das sie in den letzten anderthalb Jahrzehnten einem nach Hunderttausenden zählenden Lesepublikum nahebrachte - so nahe, dass in "Wir werden erwartet" erstmals kein einziger Ausdruck oder Satz mehr in hochdeutsche Fußnoten übersetzt werden muss. Es ist aber auch der Band, in dem sich Hilla Palm - die nicht nur in Silbenzahl und Namensklang an Ulla Hahn erinnernde Protagonistin des "Lommer jonn"-Zyklus, wie man das nun vollendete Projekt nennen könnte - von ihrer rheinischen Herkunft emanzipiert und zur Promotion nach Hamburg aufbricht, wo ihre streng katholische Erziehung eine gravierende Umprägung erfährt: zur Kommunistin. "Ich brachte alles mit, was man für eine Religion braucht. Bindungswille, Ergebenheit. Den bereitwilligen Blick, die Wirklichkeit zu formen nach einer höheren Wahrheit. Der Wahrheit der Kirche. Der Wahrheit der Partei. Mich in den Dienst der Großen Sache stellen, den Eigen-Sinn aufgeben - Dat Kenk hätt ne eijene Kopp -, sich der Partei anvertrauen wie vormals dem lieben Gott." Damit war Hilla Palm in jener bundesdeutschen Zeit, um die es hier geht, den späten sechziger bis zu den mittleren siebziger Jahren, nicht allein.
Ulla Hahn erlebte es damals genauso, als sie selbst aus Köln nach Hamburg ging. Doch da es sich bei "Wir werden erwartet" um einen veritablen Roman handelt und nicht um Knausgardsches Kokettieren mit Wirklichkeit, ist hier kräftig verfremdet worden. Nicht nur Personen- und Ortsnamen (aus Monheim ist Dondorf geworden) sind anders als in Wirklichkeit, sondern auch die Konstellationen der Handlung. Man nehme nur etwa einen (realen) Hamburger Parteigenossen, mit dem, wie man aus dessen Autobiographie weiß, Ulla Hahn seinerzeit liiert war und das dortige "Traumpaar der DKP" bildete. Er kommt in "Wir werden erwartet" gar nicht vor; einzelne Aspekte des Parteilebens, an denen er beteiligt war, werden im Buch einer weiblichen Figur zugeordnet. Ulla Hahn löst sich also konsequent von der Wirklichkeit - ihr gutes Recht, ja ihre Pflicht in einem als Roman ausgewiesenen Text.
Andererseits entstammen die Gedichte aus der Feder Hilla Palms allesamt der veröffentlichten Poesie von Ulla Hahn. Dieses Wechselspiel von Ver- und Entbergen des autobiographischen Anteils macht gerade den Reiz der Lektüre aus - bis hin zum intertextuellen Spiel, das Ulla Hahn im dritten Teil, "Spiel der Zeit", begonnen hatte, als sie den Reiz des Schreibens für sich selbst als Autorin dezidiert so beschrieb: "Erfahrungen und Erfindungen so miteinander zu verschmelzen, dass jenseits von Erfahrung und Erfindung ein Drittes entsteht: die Erzählung, der Text." Dann führte sie das tatsächliche wieder ins erzählende Ich über. Und nun im vierten Teil wird auch die briefliche Mahnung explizit gemacht, die Hilla Palm schon viel früher als Schülerin von ihrem Biologielehrer bekommen hat, der die Arbeitertochter zum Schreiben ermutigte: "Du kannst Dich Dir selbst erzählen. Du bist Deine Geschichte. Lass nicht zu, dass andere Deine Geschichte schreiben."
So erwächst die inhaltliche Rechtfertigung des autobiographisch grundierten Romanzyklus aus sich selbst, ein Verfahren, das in der literarischen Moderne seit Proust nicht mehr neu ist, aber hier mit großer Lust noch einmal beherzigt wird: "Hörst du, Hilla, mein Kind? Ich weiß, du schreibst. Nein, nicht deine Doktorarbeit. Die auch. Schreib von dir, schreib von mir, ja, auch von mir wirst du schreiben, als wär's ein Stück von dir. Hörst du, Hilla, mein Kind?" Die wiederholte Anrede gibt nicht nur die unauflösbare Verquickung von Autorin und Protagonistin preis, sondern auch die Anregung zur Form der Tetralogie: In Wagners "Götterdämmerung", dem vierten und letzten Teil des "Rings des Nibelungen", ist es Alberich, der mehrfach anhebt: "Schläfst du, Hagen, mein Sohn?"
Aber keine Sorge, das ist kein Buch, das nur über die Form oder Referenzen lebte. Das, was erzählt wird, dürfte auch an solchen Fragen weniger Interessierte mühelos bei der Stange halten, denn zunächst setzt Ulla Hahn die im dritten Band begonnene Liebesgeschichte von Hilla Palm und Hugo Breidenbach fort, die erste, die rettende große Liebe nach der zuvor alles dominierenden Vergewaltigung, von der in "Aufbruch" erzählt wurde. Mit Hugo wird nicht nur der Glaube wieder glaubhaft, mit Hugo geht es zum ersten Mal aus der rheinischen Enge ins Weite hinaus, nach Rom, mit Hugo scheint alles zu gelingen. Doch der Zeit mit Hugo ist ein Ende gesetzt, und das enthüllt Ulla Hahn schon auf der ersten Seite des neuen Romans: "Die Zeit drängt. Drängt mich hinein in das Ende dieser Geschichte, ein Ende, vor dessen Anfang ich zurückschrecke wie der Arzt vor dem Schnitt. Ohne Betäubung." Es ist eine Rhetorik der Dringlichkeit, die dieses erste Buch im vierten Band - auch das ein Novum bei Ulla Hahn: die Unterteilung eines einzelnen Buchs in mehrere Teile - vorantreibt und dann nach dem Bruch, im zweiten Großkapitel, dem Hamburg-Strang, wieder zurückgenommen wird, als der unstillbare Schmerz die Protagonistin in die Partei führt, wo eine neue Gemeinschaftlichkeit zu winken scheint. Diese Illusion wird auf einer organisierten Reise mehrerer Hamburger DKP-Mitglieder in die DDR zerstört; dort wird Hilla Palm Zeugin eines Systems, das seine eigenen Werte verrät und die Kunst (der sie sich als Schriftstellerin längst intensiver verschrieben hat als der Politik) zur bloßen doktrinären Dienstleisterin degradieren will. Genossen erweisen sich als Spitzel, Freunde als Fanatiker. Hilla Palm wird nur durch die Treue zu den eigenen Idealen lange in der Partei gehalten, doch die Entscheidung für oder gegen sie ist unausweichlich.
Hier schreibt Ulla Hahn ein großes Stück westdeutscher Ideologiegeschichte im kleinen Rahmen der Hamburger kommunistischen Zirkel mit all deren Rivalitäten. Aber auch mit ihren Heroen: Überlebenden der NS-Zeit, Überzeugte auch über die Jahre des KPD-Verbots hinweg. Die junge Hilla Palm erfährt all das durch Geschichten, und wie diese Erzählungen mit der eigenen verschränkt werden, ist ein Meisterstück. Die "Lommer jonn"-Tetralogie wird welthaltig, und gerade dadurch verliert Hilla Palm noch einmal den Boden unter den Füßen. Doch im Gegensatz zum Mädchen der beiden Auftaktbände, dessen Traumata und Träume auch hier immer wieder anklingen, hat sie nun einmal das Vertrauen zu einem anderen Menschen genossen und vertraut sich fortan selbst. Das wird bisweilen in hohem Pathos und tränenreichen Szenen beschworen, aber stets führt Ulla Hahn uns zurück in eine Beobachterhaltung, die von Hilla Palms neuem Reflexionsniveau profitiert. Und wenn dann das dritte Buch in "Wir werden erwartet" nur sechs Seiten umfasst, aber "Das Fest" heißt, dann löst sich dieser Titel in einer wunderbaren Coda ein, die dieses Romans und seiner drei Vorgänger würdig ist. Daran, dass es mit Hilla Palm nicht mehr weitergehen wird, besteht danach kein Zweifel. Von da an ist sie Ulla Hahn.
ANDREAS PLATTHAUS
Ulla Hahn: "Wir werden erwartet". Roman.
DVA, München 2017. 634 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.09.2017Ein Millimeter Zweifel
Mit dem Roman „Wir werden erwartet“ über die Siebzigerjahre und die desillusionierende
Erfahrung kommunistischer Parteiarbeit schließt Ulla Hahn ihre autobiografische Tetralogie ab
VON MARTIN EBEL
Richard Wagner hatte drei Musikdramen für die Vorgeschichte gebraucht, ehe er in der vierten endlich von Siegfrieds Tod und dem Untergang der alten Götterwelt erzählen konnte. Auch Ulla Hahns Hilla-Palm-Saga ist eine Tetralogie geworden, und man wird den Eindruck nicht los, dass die vorangehenden drei Romane – „Das verborgene Wort“, „Aufbruch“ und „Spiel der Zeit“ – notwendig waren, um überhaupt zur Frage zu gelangen: „Wie konnte ich nur?“ Ja, wie konnte eine so kluge und sensible Person wie diese Hilla Palm, Alter Ego der Autorin, 1971 in die DKP eintreten! In die Partei der moskautreuen Kommunisten, die jeden ideologischen Schwenk der Mutterpartei mitmachten und die DDR in stolzer Ignoranz der Realitäten für den besseren deutschen Staat hielten? Eine Splitter- und Sektiererpartei, die bei den Bundestagswahlen 1972 gerade 0,3 Prozent der Zweitstimmen erhielt?
Fünf Jahre, bis 1976, hat Hilla (wie ihre Erfinderin Ulla) Plakate geklebt und vor Werkstoren agitiert – einmal wurde das schmächtige Persönchen dabei von einer hünenhaften Sekretärin niedergeschlagen. Hat Parteiversammlungen abgesessen und Basisarbeit im Viertel betrieben, den Abriss von Häusern verhindert, einen „Sandkasten für die Kegelhofstrasse“ erkämpft. Hat für ein Krankenhaus in Nordvietnam gesammelt und für chilenische Flüchtlinge ihre Perlenkette verkauft. Hat ihre Hilfskraftstelle an der Uni und ihren Doktorvater verloren, das vertraute Köln für das noble Hamburg aufgeben müssen und ein Berufsverbot riskiert – es war die Zeit des Radikalenerlasses, vom eigentlich verehrten Bundeskanzler Brandt verabschiedet, um den Marsch der Systemveränderer in die Institutionen zu stoppen.
Wenn das Schreiben einer Autobiografie dazu dient, sich über das eigene Leben Klarheit zu verschaffen – und das gilt für die autobiografisch inspirierte Romanform, die Ulla Hahn gewählt hat, ebenso –, dann ist die fünfjährige Aktivität für die DKP der erklärungsbedürftigste Abschnitt im Lebensweg der Autorin, die zu den bedeutendsten und beliebtesten deutschen Dichterinnen der Gegenwart gehört. Die Erklärung, die sich auf vier Bände und 2500 Seiten ausgewachsen hat, ist für sie wie für die Leser von größtem Interesse: psychologisch, soziologisch, zeithistorisch und literarisch. Denn „Wir werden erwartet“ schließt eine Bildungs-, Emanzipations- und Aufstiegsgeschichte ab, die in der neueren deutschen Literatur ihresgleichen sucht, und liefert zugleich ein Panorama der 50er- bis 70er-Jahre aus einer Perspektive, die den meisten Lesern, an „Generation Golf“ und ähnliche Mittelstandsprosa gewöhnt, so unvertraut sein wird wie Geschichten aus dem fernen China.
Hilla Palm – wie Ulla Hahn, die Parallelsetzung kann künftig entfallen – ist „dat Kenk von nem Prolete“, wie es im heimisch-rheinischen Tonfall heißt. Tochter des Hilfsarbeiters Josef Palm, aufgewachsen in Dondorf (recte: Monheim) am Rhein, in finanziell, geistig und emotional äußerst engen Verhältnissen. In den vergangenen Bänden konnte man verfolgen, wie sie sich durchbiss und durchkämpfte, dem prügelnden Vater, der neidischen Mutter den weiteren Schulbesuch abtrotzte, nach Köln zum Studieren ging und sich am Ende des dritten Bandes mit Hugo verlobte, einem Sohn aus wohlhabendem Hause: Finale und Happy End.
Aber da war ja noch was. Ein Fremdkörper in der Biografie einer Frau, die heute zum Hamburger Großbürgertum gehört, verheiratet mit Klaus von Dohnanyi, einst Bürgermeister der Stadt Hamburg und Staatsminister unter Helmut Schmidt. „Wir werden erwartet“, der wirkliche Finalband des autobiografischen Vierteilers, macht aus dem Fremdkörper einen Fluchtpunkt, auf den das bisher Erlebte und Erlittene zuläuft.
Jede Emanzipations- ist auch eine Verlustgeschichte. In dem Maße, in dem sich Hilla aus Beschränkungen befreit, verliert sie zugleich Bindungen, Vertrautheit und Geborgenheit, entfremdet sich von den Eltern, der Verwandtschaft, der Heimat. Den größten Verlust erleidet sie, als der geliebte Hugo bei einem Autounfall stirbt. Diese den dritten Band beherrschende, fast penetrant positive Begleiterfigur hatte Hilla Halt und Orientierung gegeben, gemeinsam hatten sie sich ihren Weg durch Religion und Literatur und auch die oft karnevaleske Polit-Szene von 1968 gebahnt.
Der Tod Hugos und die folgende Trauerarbeit – sie ist bei Hilla auch eine Wut- und Hass-Arbeit – gehört zu den stärksten Partien des Buches. Die DKP bietet der Verstörten, Vereinsamten, Desorientierten eine neue Heimat. Vor allem eine, die ihr eine Annäherung an ihre Herkunft ermöglicht, ja wie eine logische Konsequenz ihres bisherigen Lebens erscheinen muss: „Jetzt wollte ich die Tochter meiner Eltern werden.“ Wenn man die Hilla-Palm-Saga als die große Liebesgeschichte mit dem Vater liest, die sie zweifellos ist, dann erhält sie mit der Entscheidung für den Kommunismus – und sei es in seiner borniertesten Ausprägung – gewissermaßen ein politisches Dach. Hilla kennt die „bedrückenden Auswirkungen proletarischer Lebensverhältnisse“ gut genug, nun will sie dafür kämpfen, dass sich niemand mehr, wie ihr Vater, an der „Maschin“ kaputtschaffen muss. Nach der ersten Lektüre des „Kommunistischen Manifests“ träumt sie – beziehungsweise inszeniert die Autorin für sie – einen Traum, in dem ihr der „Baron von der Burg“ Schweinebraten serviert, während ihre Mutter sich von der Fabrikantengattin schön machen lässt.
Parteiarbeit, das ist auch der Sprung von den Büchern und der Wissenschaft ins Leben, der Einsatz „für eine Sache, größer als man selbst“. Hinzu kommen die intensive Überzeugungsarbeit einer Freundin und der zerschundene Rücken eines Altgenossen, der noch unter den Nazis gelitten hat. Zweifellos: Der Parteieintritt ist überdeterminiert. Und doch ist die Frage „Wie konnte ich nur?“ nicht zum Schweigen zu bringen. Zumal der „Millimeter Zweifel“ nie ganz verschwunden ist. Immer wieder meldet sich das Sprachgefühl Hillas, ihre Empfindlichkeit für Phrasen, Parolen und die Hässlichkeit des „Genitivgedonners“. Intellektuelle und moralische Beschränktheit stoßen ihr auf.
Und dann kommt, spät aber entscheidend, die Konfrontation mit der realsozialistischen Wirklichkeit. 1975 fährt sie auf Einladung des Kulturbundes der DDR mit einer Delegation nach Ostberlin und Dresden. Ihr wird die heile Funktionärswelt vorgeführt, mit Reden aus vorgestanztem Blech, Solidaritäts-Besäufnissen und Lesungen gut gemeinter Parteilyrik, sie trifft aber in einer illegalen Disco auch auf junge Leute, die von Zensur, Druck, Verfolgung erzählen. Der Vortrag eines Morgenstern-Gedichtes bei einer Abiturfeier, erfährt sie, hat einen Eklat verursacht, weil darin das Wort „Mauer“ vorkam! Auch in der DDR haben nicht die Arbeiter das Sagen, begreift sie, sondern die Bonzen. Bald nach der Rückkehr gibt sie das Parteibuch zurück. Die Episode ist ein Glanzstück des Buches.
„Du bist auf einem Umweg. Aber den musst du wohl machen“, hatte ihr eine geheimnisvolle Frau in dunkler Kleidung, die ihren Weg gelegentlich kreuzt, zugeraunt. Eine Biografie ist keine Gleichung, in der x = a+b-c schön aufgeht. Ein Roman schon eher. Ulla Hahn gelingt in „Wir werden erwartet“ die schwierige Balance zwischen Erlebtem und Erfundenem, auch das Zusammenspiel von damaligem und heutigem Ich, noch besser als im vorigen Band. Sie erlaubt sich, der eifrigen Parteigenossin immer mal wieder skeptisch über die Schulter zu schauen und deren Beobachtungen mit ironischen Spitzen zu versehen, etwa wenn sie den Vorzeige-Plattenbau spontan „scheußlich“ findet, bis ihr „sozialistischer Auto-Korrektur-Automat“ auf „praktisch“ umschaltet.
Scharf beobachtet und voller sprechender Details ist dieser vierte Band. Und wie in seinen Vorgängern zeigt sich auch hier die Lyrikerin, im Sinn für treffende Bilder, im Drang zur Verdichtung, in der Verspieltheit vor allem. Immer wieder wird eine Formulierung, die ihr wie zufällig unterläuft, aufgenommen, gewogen und für gut (oder zu leicht) befunden, lässt sie „Sätze wie Eidechsen durch ihren Kopf schlüpfen“. Zu poetischen Aufschwüngen kommt es immer, wenn der Rhein ins Spiel kommt, der Dondorfer Rhein, „unberühmt und unbesungen“, jener unauffällige, „gewöhnliche“ Flussabschnitt, der sie an den Großvater erinnert, den großen Tröster der Kindheit, der sie mit den Worten „Lommer jonn“ zum Aufbruch rief – mit diesen Worten beginnt und endet jeder der vier Romane, auch dieser.
„Wir werden erwartet“ erzählt schließlich auch von der Geburt der Lyrikerin Ulla Hahn. Gedichte, die sie später schrieb, waren schon in die ersten Bände eingeflossen. Nun lesen wir vom Auftauchen der Poesie aus der Frustration wissenschaftlicher Prosa. Die ersten Fingerübungen, auf die Rückseite von Exzerpten zu ihrer Dissertation gekritzelt, sind „eine Erlösung nach dem wissenschaftlich verdrehten Deutsch, das ich mir abverlangte“. Die Fortsetzung des vierbändigen Entwicklungsromans der Ulla Hahn sind ihre Gedichtbände, sie sind das Gegenüber eines epischen Werks von hohem literarischen Rang und zeithistorischer Bedeutung.
Ulla Hahn: Wir werden erwartet. Roman. DVA, München 2017. 634 Seiten, 28 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Die DKP bietet der
Verstörten, Vereinsamten,
Desorientierten eine neue Heimat
Parteiarbeit im Herbst 1972, ein Sprung von den Büchern ins Leben: Wahlkampf in der alten Bundesrepublik, unter Einschluss der DKP, der die Heldin von Ulla Hahns Roman zu diesem Zeitpunkt angehört.
Foto: AP
Ulla Hahn, geboren 1945 im Sauerland,mit der Heldin ihrer Roman-Tetralogie nicht nur weitläufig verwandt.
Foto: Julia Braun
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Mit dem Roman „Wir werden erwartet“ über die Siebzigerjahre und die desillusionierende
Erfahrung kommunistischer Parteiarbeit schließt Ulla Hahn ihre autobiografische Tetralogie ab
VON MARTIN EBEL
Richard Wagner hatte drei Musikdramen für die Vorgeschichte gebraucht, ehe er in der vierten endlich von Siegfrieds Tod und dem Untergang der alten Götterwelt erzählen konnte. Auch Ulla Hahns Hilla-Palm-Saga ist eine Tetralogie geworden, und man wird den Eindruck nicht los, dass die vorangehenden drei Romane – „Das verborgene Wort“, „Aufbruch“ und „Spiel der Zeit“ – notwendig waren, um überhaupt zur Frage zu gelangen: „Wie konnte ich nur?“ Ja, wie konnte eine so kluge und sensible Person wie diese Hilla Palm, Alter Ego der Autorin, 1971 in die DKP eintreten! In die Partei der moskautreuen Kommunisten, die jeden ideologischen Schwenk der Mutterpartei mitmachten und die DDR in stolzer Ignoranz der Realitäten für den besseren deutschen Staat hielten? Eine Splitter- und Sektiererpartei, die bei den Bundestagswahlen 1972 gerade 0,3 Prozent der Zweitstimmen erhielt?
Fünf Jahre, bis 1976, hat Hilla (wie ihre Erfinderin Ulla) Plakate geklebt und vor Werkstoren agitiert – einmal wurde das schmächtige Persönchen dabei von einer hünenhaften Sekretärin niedergeschlagen. Hat Parteiversammlungen abgesessen und Basisarbeit im Viertel betrieben, den Abriss von Häusern verhindert, einen „Sandkasten für die Kegelhofstrasse“ erkämpft. Hat für ein Krankenhaus in Nordvietnam gesammelt und für chilenische Flüchtlinge ihre Perlenkette verkauft. Hat ihre Hilfskraftstelle an der Uni und ihren Doktorvater verloren, das vertraute Köln für das noble Hamburg aufgeben müssen und ein Berufsverbot riskiert – es war die Zeit des Radikalenerlasses, vom eigentlich verehrten Bundeskanzler Brandt verabschiedet, um den Marsch der Systemveränderer in die Institutionen zu stoppen.
Wenn das Schreiben einer Autobiografie dazu dient, sich über das eigene Leben Klarheit zu verschaffen – und das gilt für die autobiografisch inspirierte Romanform, die Ulla Hahn gewählt hat, ebenso –, dann ist die fünfjährige Aktivität für die DKP der erklärungsbedürftigste Abschnitt im Lebensweg der Autorin, die zu den bedeutendsten und beliebtesten deutschen Dichterinnen der Gegenwart gehört. Die Erklärung, die sich auf vier Bände und 2500 Seiten ausgewachsen hat, ist für sie wie für die Leser von größtem Interesse: psychologisch, soziologisch, zeithistorisch und literarisch. Denn „Wir werden erwartet“ schließt eine Bildungs-, Emanzipations- und Aufstiegsgeschichte ab, die in der neueren deutschen Literatur ihresgleichen sucht, und liefert zugleich ein Panorama der 50er- bis 70er-Jahre aus einer Perspektive, die den meisten Lesern, an „Generation Golf“ und ähnliche Mittelstandsprosa gewöhnt, so unvertraut sein wird wie Geschichten aus dem fernen China.
Hilla Palm – wie Ulla Hahn, die Parallelsetzung kann künftig entfallen – ist „dat Kenk von nem Prolete“, wie es im heimisch-rheinischen Tonfall heißt. Tochter des Hilfsarbeiters Josef Palm, aufgewachsen in Dondorf (recte: Monheim) am Rhein, in finanziell, geistig und emotional äußerst engen Verhältnissen. In den vergangenen Bänden konnte man verfolgen, wie sie sich durchbiss und durchkämpfte, dem prügelnden Vater, der neidischen Mutter den weiteren Schulbesuch abtrotzte, nach Köln zum Studieren ging und sich am Ende des dritten Bandes mit Hugo verlobte, einem Sohn aus wohlhabendem Hause: Finale und Happy End.
Aber da war ja noch was. Ein Fremdkörper in der Biografie einer Frau, die heute zum Hamburger Großbürgertum gehört, verheiratet mit Klaus von Dohnanyi, einst Bürgermeister der Stadt Hamburg und Staatsminister unter Helmut Schmidt. „Wir werden erwartet“, der wirkliche Finalband des autobiografischen Vierteilers, macht aus dem Fremdkörper einen Fluchtpunkt, auf den das bisher Erlebte und Erlittene zuläuft.
Jede Emanzipations- ist auch eine Verlustgeschichte. In dem Maße, in dem sich Hilla aus Beschränkungen befreit, verliert sie zugleich Bindungen, Vertrautheit und Geborgenheit, entfremdet sich von den Eltern, der Verwandtschaft, der Heimat. Den größten Verlust erleidet sie, als der geliebte Hugo bei einem Autounfall stirbt. Diese den dritten Band beherrschende, fast penetrant positive Begleiterfigur hatte Hilla Halt und Orientierung gegeben, gemeinsam hatten sie sich ihren Weg durch Religion und Literatur und auch die oft karnevaleske Polit-Szene von 1968 gebahnt.
Der Tod Hugos und die folgende Trauerarbeit – sie ist bei Hilla auch eine Wut- und Hass-Arbeit – gehört zu den stärksten Partien des Buches. Die DKP bietet der Verstörten, Vereinsamten, Desorientierten eine neue Heimat. Vor allem eine, die ihr eine Annäherung an ihre Herkunft ermöglicht, ja wie eine logische Konsequenz ihres bisherigen Lebens erscheinen muss: „Jetzt wollte ich die Tochter meiner Eltern werden.“ Wenn man die Hilla-Palm-Saga als die große Liebesgeschichte mit dem Vater liest, die sie zweifellos ist, dann erhält sie mit der Entscheidung für den Kommunismus – und sei es in seiner borniertesten Ausprägung – gewissermaßen ein politisches Dach. Hilla kennt die „bedrückenden Auswirkungen proletarischer Lebensverhältnisse“ gut genug, nun will sie dafür kämpfen, dass sich niemand mehr, wie ihr Vater, an der „Maschin“ kaputtschaffen muss. Nach der ersten Lektüre des „Kommunistischen Manifests“ träumt sie – beziehungsweise inszeniert die Autorin für sie – einen Traum, in dem ihr der „Baron von der Burg“ Schweinebraten serviert, während ihre Mutter sich von der Fabrikantengattin schön machen lässt.
Parteiarbeit, das ist auch der Sprung von den Büchern und der Wissenschaft ins Leben, der Einsatz „für eine Sache, größer als man selbst“. Hinzu kommen die intensive Überzeugungsarbeit einer Freundin und der zerschundene Rücken eines Altgenossen, der noch unter den Nazis gelitten hat. Zweifellos: Der Parteieintritt ist überdeterminiert. Und doch ist die Frage „Wie konnte ich nur?“ nicht zum Schweigen zu bringen. Zumal der „Millimeter Zweifel“ nie ganz verschwunden ist. Immer wieder meldet sich das Sprachgefühl Hillas, ihre Empfindlichkeit für Phrasen, Parolen und die Hässlichkeit des „Genitivgedonners“. Intellektuelle und moralische Beschränktheit stoßen ihr auf.
Und dann kommt, spät aber entscheidend, die Konfrontation mit der realsozialistischen Wirklichkeit. 1975 fährt sie auf Einladung des Kulturbundes der DDR mit einer Delegation nach Ostberlin und Dresden. Ihr wird die heile Funktionärswelt vorgeführt, mit Reden aus vorgestanztem Blech, Solidaritäts-Besäufnissen und Lesungen gut gemeinter Parteilyrik, sie trifft aber in einer illegalen Disco auch auf junge Leute, die von Zensur, Druck, Verfolgung erzählen. Der Vortrag eines Morgenstern-Gedichtes bei einer Abiturfeier, erfährt sie, hat einen Eklat verursacht, weil darin das Wort „Mauer“ vorkam! Auch in der DDR haben nicht die Arbeiter das Sagen, begreift sie, sondern die Bonzen. Bald nach der Rückkehr gibt sie das Parteibuch zurück. Die Episode ist ein Glanzstück des Buches.
„Du bist auf einem Umweg. Aber den musst du wohl machen“, hatte ihr eine geheimnisvolle Frau in dunkler Kleidung, die ihren Weg gelegentlich kreuzt, zugeraunt. Eine Biografie ist keine Gleichung, in der x = a+b-c schön aufgeht. Ein Roman schon eher. Ulla Hahn gelingt in „Wir werden erwartet“ die schwierige Balance zwischen Erlebtem und Erfundenem, auch das Zusammenspiel von damaligem und heutigem Ich, noch besser als im vorigen Band. Sie erlaubt sich, der eifrigen Parteigenossin immer mal wieder skeptisch über die Schulter zu schauen und deren Beobachtungen mit ironischen Spitzen zu versehen, etwa wenn sie den Vorzeige-Plattenbau spontan „scheußlich“ findet, bis ihr „sozialistischer Auto-Korrektur-Automat“ auf „praktisch“ umschaltet.
Scharf beobachtet und voller sprechender Details ist dieser vierte Band. Und wie in seinen Vorgängern zeigt sich auch hier die Lyrikerin, im Sinn für treffende Bilder, im Drang zur Verdichtung, in der Verspieltheit vor allem. Immer wieder wird eine Formulierung, die ihr wie zufällig unterläuft, aufgenommen, gewogen und für gut (oder zu leicht) befunden, lässt sie „Sätze wie Eidechsen durch ihren Kopf schlüpfen“. Zu poetischen Aufschwüngen kommt es immer, wenn der Rhein ins Spiel kommt, der Dondorfer Rhein, „unberühmt und unbesungen“, jener unauffällige, „gewöhnliche“ Flussabschnitt, der sie an den Großvater erinnert, den großen Tröster der Kindheit, der sie mit den Worten „Lommer jonn“ zum Aufbruch rief – mit diesen Worten beginnt und endet jeder der vier Romane, auch dieser.
„Wir werden erwartet“ erzählt schließlich auch von der Geburt der Lyrikerin Ulla Hahn. Gedichte, die sie später schrieb, waren schon in die ersten Bände eingeflossen. Nun lesen wir vom Auftauchen der Poesie aus der Frustration wissenschaftlicher Prosa. Die ersten Fingerübungen, auf die Rückseite von Exzerpten zu ihrer Dissertation gekritzelt, sind „eine Erlösung nach dem wissenschaftlich verdrehten Deutsch, das ich mir abverlangte“. Die Fortsetzung des vierbändigen Entwicklungsromans der Ulla Hahn sind ihre Gedichtbände, sie sind das Gegenüber eines epischen Werks von hohem literarischen Rang und zeithistorischer Bedeutung.
Ulla Hahn: Wir werden erwartet. Roman. DVA, München 2017. 634 Seiten, 28 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Die DKP bietet der
Verstörten, Vereinsamten,
Desorientierten eine neue Heimat
Parteiarbeit im Herbst 1972, ein Sprung von den Büchern ins Leben: Wahlkampf in der alten Bundesrepublik, unter Einschluss der DKP, der die Heldin von Ulla Hahns Roman zu diesem Zeitpunkt angehört.
Foto: AP
Ulla Hahn, geboren 1945 im Sauerland,mit der Heldin ihrer Roman-Tetralogie nicht nur weitläufig verwandt.
Foto: Julia Braun
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Wie diese Erzählungen mit der eigenen verschränkt werden, ist ein ein Meisterstück. Die 'Lommer jonn'-Tetralogie wird welthaltig.« FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung, Andreas Platthaus