Sozialdemokraten haben vor dem Ersten Weltkrieg nicht nur eine ins Leere gerichtete Fundamentalkritik am wilhelminischen Militarismus geübt - wie die bisherige Forschung nahelegt - sondern auch ernsthaft konstruktive und reformorientierte Militärkritik. In der Absicht, dem konservativen Militarismus den Todesstoß zu versetzen, beteiligten sie sich vor 1914 zunehmend an dem öffentlichen "Kriegsmäßigkeits"-Diskurs, was sich angesichts der angespannten innen- wie außenpolitischen Lage als ein schwerer taktischer Fehler erweisen sollte. Das Buch leistet einen Beitrag zur Auflösung der vermeintlichen Widersprüchlichkeit zwischen unversöhnlicher Militarismuskritik der SPD einerseits und deren zunehmender Integration in das Kaiserreich andererseits.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.09.2005Nase vorn?
Die SPD und der preußisch-deutsche Militarismus vor 1914
Bernhard Neff: "Wir wollen keine Paradetruppe, wir wollen eine Kriegstruppe . . .". Die reformorientierte Militärkritik der SPD unter Wilhelm II. 1890-1913. SH-Verlag, Köln 2004. 284 Seiten, 24,80 [Euro].
Wenn man an das Verhältnis der SPD zur preußisch-deutschen Armee denkt, dann fällt einem spontan nur der fast gebetsmühlenartig wiederholte Slogan führender Sozialdemokraten ein: "Diesem System keinen Mann und keinen Groschen." Aus sozialdemokratischer Perspektive war diese Haltung verständlich, denn die Armee galt nicht nur als Instrument der Expansion nach außen, sondern auch als Mittel zur Verteidigung des Obrigkeitsstaats im Innern. Hinzu kamen viele Soldatenmißhandlungen, die regelmäßig im Reichstag thematisiert wurden, ohne daß die "Schule der Nation" daraus irgendwelche Konsequenzen zog. Daß das Bild einer in Fundamentalkritik verharrenden SPD nur bedingt zutrifft, war zwar bekannt, ist aber nie mit solcher Klarheit herausgearbeitet worden wie in der materialreichen Studie von Bernhard Neff.
August Bebel hat keinen Hehl daraus gemacht, daß er bei aller Kritik an der kaiserlichen Innen- und Außenpolitik bereit war, den Zarismus zu bekämpfen, um die erreichten Fortschritte im Kampf um eine bessere und gerechtere Gesellschaft zu schützen, Millionen Arbeiter marschierten schließlich 1914 ohne Protest in den Krieg. Anstatt zum Generalstreik aufzurufen, führten sie für das preußische Dreiklassenwahlrecht einen Krieg, wie der Anfang September 1914 gefallene Reichstagsabgeordnete Ludwig Frank notierte. Dieses Verhalten war, so Neff, im Grunde ein Ergebnis der allmählichen parlamentarischen Integration der SPD "in res militaribus". Zwar war die Partei weiterhin bestrebt, an Stelle des alten ein neues Haus zu errichten. Da sich dieser "Neubau" hinzog, wollte sie zugleich das existierende, als morsch und baufällig qualifizierte Haus erträglicher, wohnlicher gestalten.
Für den Bereich der Militärpolitik bedeutete dies einen allmählichen Wandel der bisherigen, vergleichsweise pauschalen, in erster Linie moralisch und ideologisch motivierten Kritik am preußisch-deutschen Militarismus. Sie gehörte weiterhin zum Standardrepertoire sozialdemokratischer Redner im Reichstag. Junge, eher pragmatisch orientierte "Fachleute" wie Gustav Noske, die sich intensiv mit Armee und Flotte und deren Aufgaben beschäftigt hatten, machten jedoch auch überraschend detaillierte und im Ergebnis konstruktive Bemerkungen, die sich zunächst gegen die Offiziere richteten. Diese verstanden sich als Vertreter eines geschlossenen Kriegerstandes, paradierten am liebsten in alten Uniformen und betrachteten die Kavallerie immer noch als das wichtigste Instrument in einer Schlacht. Den Erfordernissen des modernen Maschinenkrieges - der "Militärtechniker" und keine im Kugelhagel der Maschinengewehre sinnlos sterbenden "Helden" klassischen Typs verlangte - wurden derartig sozialisierte und ausgebildete Offiziere immer weniger gerecht, wie die Erfahrungen des Burenkrieges, des Russisch-Japanischen Krieges und der Balkan-Kriege lehrten. Damit einher ging eine grundlegende Auseinandersetzung mit überholten Formen der Ausbildung, unzureichenden taktischen Auffassungen, veralteten Ausrüstungsgegenständen und inneren Strukturen sowie dem als völlig überholt angesehenen Privileg der Einjährig-Freiwilligen.
Diese Kritik war mehr als nur Parteikalkül. Sieht man von den Auswirkungen der Sozialisation der jüngeren Generation in der Armee einmal ganz ab, so war die Ablehnung des "feudalen Militarismus" zunehmend Ausdruck der von einer beträchtlichen Russophobie genährten Sorge vor einem Welt- und Volkskrieg. Im Interesse einer effizienteren Verteidigung wollten die Sozialdemokraten daher im Einklang mit den Linksliberalen Reformen durchsetzen, die ein "kriegsmäßiges" Heer und eine demokratische Heeresreform zum Ergebnis hatten. Die Forderung nach Schaffung einer Miliz trat dabei allmählich in den Hintergrund. Es entbehrt freilich nicht einer gewissen Ironie, daß sich die SPD - ohne es überhaupt mit der entsprechenden Klarheit zu erkennen und zu thematisieren - damit kaum noch von jenen Kräften der neuen politischen Rechten unterschied, die die Armee modernisieren wollten, um nach dem Prinzip "je eher, desto besser" losschlagen zu können.
Die Unfähigkeit der SPD, das Wesen des "neuen" Militarismus zu begreifen, ihre tradierte Angst vor Rußland zu überwinden sowie die immanenten Schwächen des langjährigen "Praktizismus" in Militärfragen zu erkennen, machten - so der Autor - das Desaster des August 1914 nahezu unvermeidbar: "Teils kläglich, teils willentlich" habe sich die Mehrheit der SPD-Fraktion daher von der Reichsleitung an der Nase herumführen lassen und den Kriegskrediten zugestimmt - eine Deutung, die in vielerlei Hinsicht plausibel erscheint.
MICHAEL EPKENHANS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die SPD und der preußisch-deutsche Militarismus vor 1914
Bernhard Neff: "Wir wollen keine Paradetruppe, wir wollen eine Kriegstruppe . . .". Die reformorientierte Militärkritik der SPD unter Wilhelm II. 1890-1913. SH-Verlag, Köln 2004. 284 Seiten, 24,80 [Euro].
Wenn man an das Verhältnis der SPD zur preußisch-deutschen Armee denkt, dann fällt einem spontan nur der fast gebetsmühlenartig wiederholte Slogan führender Sozialdemokraten ein: "Diesem System keinen Mann und keinen Groschen." Aus sozialdemokratischer Perspektive war diese Haltung verständlich, denn die Armee galt nicht nur als Instrument der Expansion nach außen, sondern auch als Mittel zur Verteidigung des Obrigkeitsstaats im Innern. Hinzu kamen viele Soldatenmißhandlungen, die regelmäßig im Reichstag thematisiert wurden, ohne daß die "Schule der Nation" daraus irgendwelche Konsequenzen zog. Daß das Bild einer in Fundamentalkritik verharrenden SPD nur bedingt zutrifft, war zwar bekannt, ist aber nie mit solcher Klarheit herausgearbeitet worden wie in der materialreichen Studie von Bernhard Neff.
August Bebel hat keinen Hehl daraus gemacht, daß er bei aller Kritik an der kaiserlichen Innen- und Außenpolitik bereit war, den Zarismus zu bekämpfen, um die erreichten Fortschritte im Kampf um eine bessere und gerechtere Gesellschaft zu schützen, Millionen Arbeiter marschierten schließlich 1914 ohne Protest in den Krieg. Anstatt zum Generalstreik aufzurufen, führten sie für das preußische Dreiklassenwahlrecht einen Krieg, wie der Anfang September 1914 gefallene Reichstagsabgeordnete Ludwig Frank notierte. Dieses Verhalten war, so Neff, im Grunde ein Ergebnis der allmählichen parlamentarischen Integration der SPD "in res militaribus". Zwar war die Partei weiterhin bestrebt, an Stelle des alten ein neues Haus zu errichten. Da sich dieser "Neubau" hinzog, wollte sie zugleich das existierende, als morsch und baufällig qualifizierte Haus erträglicher, wohnlicher gestalten.
Für den Bereich der Militärpolitik bedeutete dies einen allmählichen Wandel der bisherigen, vergleichsweise pauschalen, in erster Linie moralisch und ideologisch motivierten Kritik am preußisch-deutschen Militarismus. Sie gehörte weiterhin zum Standardrepertoire sozialdemokratischer Redner im Reichstag. Junge, eher pragmatisch orientierte "Fachleute" wie Gustav Noske, die sich intensiv mit Armee und Flotte und deren Aufgaben beschäftigt hatten, machten jedoch auch überraschend detaillierte und im Ergebnis konstruktive Bemerkungen, die sich zunächst gegen die Offiziere richteten. Diese verstanden sich als Vertreter eines geschlossenen Kriegerstandes, paradierten am liebsten in alten Uniformen und betrachteten die Kavallerie immer noch als das wichtigste Instrument in einer Schlacht. Den Erfordernissen des modernen Maschinenkrieges - der "Militärtechniker" und keine im Kugelhagel der Maschinengewehre sinnlos sterbenden "Helden" klassischen Typs verlangte - wurden derartig sozialisierte und ausgebildete Offiziere immer weniger gerecht, wie die Erfahrungen des Burenkrieges, des Russisch-Japanischen Krieges und der Balkan-Kriege lehrten. Damit einher ging eine grundlegende Auseinandersetzung mit überholten Formen der Ausbildung, unzureichenden taktischen Auffassungen, veralteten Ausrüstungsgegenständen und inneren Strukturen sowie dem als völlig überholt angesehenen Privileg der Einjährig-Freiwilligen.
Diese Kritik war mehr als nur Parteikalkül. Sieht man von den Auswirkungen der Sozialisation der jüngeren Generation in der Armee einmal ganz ab, so war die Ablehnung des "feudalen Militarismus" zunehmend Ausdruck der von einer beträchtlichen Russophobie genährten Sorge vor einem Welt- und Volkskrieg. Im Interesse einer effizienteren Verteidigung wollten die Sozialdemokraten daher im Einklang mit den Linksliberalen Reformen durchsetzen, die ein "kriegsmäßiges" Heer und eine demokratische Heeresreform zum Ergebnis hatten. Die Forderung nach Schaffung einer Miliz trat dabei allmählich in den Hintergrund. Es entbehrt freilich nicht einer gewissen Ironie, daß sich die SPD - ohne es überhaupt mit der entsprechenden Klarheit zu erkennen und zu thematisieren - damit kaum noch von jenen Kräften der neuen politischen Rechten unterschied, die die Armee modernisieren wollten, um nach dem Prinzip "je eher, desto besser" losschlagen zu können.
Die Unfähigkeit der SPD, das Wesen des "neuen" Militarismus zu begreifen, ihre tradierte Angst vor Rußland zu überwinden sowie die immanenten Schwächen des langjährigen "Praktizismus" in Militärfragen zu erkennen, machten - so der Autor - das Desaster des August 1914 nahezu unvermeidbar: "Teils kläglich, teils willentlich" habe sich die Mehrheit der SPD-Fraktion daher von der Reichsleitung an der Nase herumführen lassen und den Kriegskrediten zugestimmt - eine Deutung, die in vielerlei Hinsicht plausibel erscheint.
MICHAEL EPKENHANS
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Überzeugend findet Michael Epkenhans diese "materialreiche" Studie über das Verhältnis von SPD und preußisch-deutschem Militarismus vor 1914. Zwar war nach Epkenhans bekannt, dass das Bild einer in Fundamentalkritik zur preußisch-deutschen Armee verharrenden SPD nur bedingt zutrifft. Nie aber sei dies "mit solcher Klarheit" herausgearbeitet worden wie in Bernhard Neffs Studie. Ausführlich referiert Epkenhans über den allmählichen Wandel der Kritik seitens der SPD am preußischen Militarismus, die zunächst vor allem moralisch und ideologisch motiviert war, zunehmend aber sachlich und reformorientiert auf die Bildung eines modernen Heeres mit einer demokratischen Struktur zielte. Nichtsdestoweniger habe sich die SPD 1914 von der Reichsleitung an der Nase herumführen lassen und den Kriegskrediten zugestimmt, berichtet Epkenhans. Der Autor führt das auf die Unfähigkeit der SPD zurück, das Wesen des "neuen" Militarismus zu begreifen, ihre tradierte Angst vor Russland zu überwinden sowie die immanenten Schwächen des langjährigen "Praktizismus" in Militärfragen zu erkennen. "Eine Deutung", urteilt Epkenhans, "die in vielerlei Hinsicht plausibel erscheint".
© Perlentaucher Medien GmbH
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