"Wir wollen mehr Demokratie wagen." Dieser Satz von Willy Brandt ist zum legendären Leitspruch für die Reformen in der Bundesrepublik am Übergang von den 1960er- zu den 1970er-Jahren geworden. Der Sammelband analysiert die Hintergründe und die gewollten sowie die ungewollten Folgen und Wirkungen jenes Versprechens und ordnet die Demokratisierungs- und Liberalisierungsbestrebungen der Ära Brandt in den internationalen Kontext ein.Willy Brandt weckte 1969 hohe Erwartungen, die von der sozial-liberalen Koalition aber nur zum Teil erfüllt wurden. Zunächst beschleunigten sich gesellschaftliche Demokratisierungsprozesse von unten, deren Akteure die Forderung nach "mehr Demokratie" häufig viel radikaler auslegten, als es den Regierungsparteien lieb war. Was Umfang und Tempo der Reformen anging, lag die Bundesrepublik im internationalen Vergleich gleichwohl mit an der Spitze. In der bundesdeutschen Außenpolitik der 1970er- und 1980er-Jahre spielte das Konzept der Demokratie dagegen eine überraschend geringe Rolle.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.07.2019Wagnis
und Wirkung
Ein Sammelband erkundet
Willy Brandts Demokratie-Slogan
Der Satz „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ kam in Willy Brandts erster Regierungserklärung im Oktober 1969 recht unaufgeregt daher. Erst später nahm die Rede an Fahrt auf. Die Aufbruchsstimmung im Zuge des Regierungswechsels (und bald dann die Wehmut nach Brandts Rücktritt) ließ in den Hintergrund treten, dass die Veränderungen, die mit der sozialliberalen Koalition zwischen 1969 und 1974 verbunden werden, Ausdruck bereits früher einsetzender Entwicklungen und Debatten waren. Schon seit den späten Fünfzigerjahren habe sich ein Wandel der politischen Kultur abgezeichnet; gerade Mitte der Sechziger sei die gesellschaftliche Demokratisierung vorangeschritten, gibt Detlef Siegfried in einem von Wolfgang Schmidt und dem im April verstorbenen Historiker Axel Schildt herausgegebenen Sammelband zu bedenken. Darin bildet Brandts Versprechen den Ausgangspunkt für Überlegungen zur Modernisierung und Demokratisierung der Bundesrepublik. Die Autorinnen und Autoren blicken aus verschiedenen, immer interessanten Perspektiven auf dieses inzwischen „recht hohl“ (Dietmar Süß) klingende „Zeitwort“ (Martin Sabrow) und seinen Kontext. Sie überprüfen Antriebskräfte, Umsetzung und Wirkung und suchen auch den internationalen Vergleich.
Während Brandt einerseits auf staatliche Planung setzte, waren andererseits Mitverantwortung und Mitbestimmung die für ihn zentralen Begriffe. Die Regierung senkte das Wahlalter, erhöhte die Bildungschancen und dehnte die betriebliche Mitbestimmung aus. Dabei mag Brandt auch auf die Studentenbewegung reagiert haben, doch meinte er mit Demokratisierung etwas anderes als die Protestler. Der Kanzler habe, wie Jens Hacke schreibt, „an die Ausschöpfung der klassischen Beteiligungsformen im Rahmen der bestehenden Parteiendemokratie“ gedacht. Und nicht, so Philipp Gassert, an die „für die Neue Linke zentrale Idee einer ‚partizipatorischen Demokratie’“. Die Gesellschaft lernte, „Politik als Aushandlungsprozess zu verstehen“, resümiert Knud Andresen. Von konservativer Seite wurde Brandts Vorstellung einer gesellschaftlichen Demokratisierung, wie Martina Steber ausführt, allerhand entgegengehalten; die Demokratie solle doch schlicht eine Organisationsform des Staates sein. So wurde hier wie dort um die Frage gerungen, wie weit die Demokratisierung reichen solle.
Als „Gegenstück“ zur angekündigten Politik der Beteiligung versteht Alexandra Jäger den Radikalenerlass von 1972, der Mitglieder „verfassungsfeindlicher“ Organisationen aus dem öffentlichen Dienst fernhalten sollte. Mindestens ambivalent fällt die Bilanz auch in anderen Bereichen aus: Im Umgang mit der NS-Vergangenheit habe Brandt, so Kristina Meyer in ihrem abwägenden Text, nicht nur eine gesellschaftliche Selbstbefragung befördert, sondern auch eine „zukunftsorientierte Distanz“ zur Vergangenheit. Die Wandlungsprozesse dieser Jahrzehnte waren eben, das zeigt dieser lesenswerte Band, nach innen wie nach außen widersprüchlich und konflikthaft.
ISABELL TROMMER
Axel Schildt und Wolfgang Schmidt (Hg.): „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ Antriebskräfte, Realität und Mythos eines Versprechens. Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2019. 296 Seiten, 32 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
und Wirkung
Ein Sammelband erkundet
Willy Brandts Demokratie-Slogan
Der Satz „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ kam in Willy Brandts erster Regierungserklärung im Oktober 1969 recht unaufgeregt daher. Erst später nahm die Rede an Fahrt auf. Die Aufbruchsstimmung im Zuge des Regierungswechsels (und bald dann die Wehmut nach Brandts Rücktritt) ließ in den Hintergrund treten, dass die Veränderungen, die mit der sozialliberalen Koalition zwischen 1969 und 1974 verbunden werden, Ausdruck bereits früher einsetzender Entwicklungen und Debatten waren. Schon seit den späten Fünfzigerjahren habe sich ein Wandel der politischen Kultur abgezeichnet; gerade Mitte der Sechziger sei die gesellschaftliche Demokratisierung vorangeschritten, gibt Detlef Siegfried in einem von Wolfgang Schmidt und dem im April verstorbenen Historiker Axel Schildt herausgegebenen Sammelband zu bedenken. Darin bildet Brandts Versprechen den Ausgangspunkt für Überlegungen zur Modernisierung und Demokratisierung der Bundesrepublik. Die Autorinnen und Autoren blicken aus verschiedenen, immer interessanten Perspektiven auf dieses inzwischen „recht hohl“ (Dietmar Süß) klingende „Zeitwort“ (Martin Sabrow) und seinen Kontext. Sie überprüfen Antriebskräfte, Umsetzung und Wirkung und suchen auch den internationalen Vergleich.
Während Brandt einerseits auf staatliche Planung setzte, waren andererseits Mitverantwortung und Mitbestimmung die für ihn zentralen Begriffe. Die Regierung senkte das Wahlalter, erhöhte die Bildungschancen und dehnte die betriebliche Mitbestimmung aus. Dabei mag Brandt auch auf die Studentenbewegung reagiert haben, doch meinte er mit Demokratisierung etwas anderes als die Protestler. Der Kanzler habe, wie Jens Hacke schreibt, „an die Ausschöpfung der klassischen Beteiligungsformen im Rahmen der bestehenden Parteiendemokratie“ gedacht. Und nicht, so Philipp Gassert, an die „für die Neue Linke zentrale Idee einer ‚partizipatorischen Demokratie’“. Die Gesellschaft lernte, „Politik als Aushandlungsprozess zu verstehen“, resümiert Knud Andresen. Von konservativer Seite wurde Brandts Vorstellung einer gesellschaftlichen Demokratisierung, wie Martina Steber ausführt, allerhand entgegengehalten; die Demokratie solle doch schlicht eine Organisationsform des Staates sein. So wurde hier wie dort um die Frage gerungen, wie weit die Demokratisierung reichen solle.
Als „Gegenstück“ zur angekündigten Politik der Beteiligung versteht Alexandra Jäger den Radikalenerlass von 1972, der Mitglieder „verfassungsfeindlicher“ Organisationen aus dem öffentlichen Dienst fernhalten sollte. Mindestens ambivalent fällt die Bilanz auch in anderen Bereichen aus: Im Umgang mit der NS-Vergangenheit habe Brandt, so Kristina Meyer in ihrem abwägenden Text, nicht nur eine gesellschaftliche Selbstbefragung befördert, sondern auch eine „zukunftsorientierte Distanz“ zur Vergangenheit. Die Wandlungsprozesse dieser Jahrzehnte waren eben, das zeigt dieser lesenswerte Band, nach innen wie nach außen widersprüchlich und konflikthaft.
ISABELL TROMMER
Axel Schildt und Wolfgang Schmidt (Hg.): „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ Antriebskräfte, Realität und Mythos eines Versprechens. Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2019. 296 Seiten, 32 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.11.2019Gegen Mythen und Verklärung
Vor 50 Jahren kam Willy Brandt mit einem wortgewaltigen Versprechen ins Kanzleramt
Zum Pathos des Neuanfangs, das die Bildung der sozialliberalen Koalition und die Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler vor 50 Jahren begleitete, gehört ohne Frage der Satz "Wir wollen mehr Demokratie wagen" aus der ersten Regierungserklärung Brandts am 28. Oktober 1969. Längst ist die Formulierung zum geflügelten Wort geworden, aus dem politischen Zitatenschatz der Bundesrepublik ist sie nicht wegzudenken. Die historische Forschung hat den Satz dankbar aufgegriffen und an ihm jene Prozesse der Fundamentalliberalisierung festgemacht, welche die politische und soziale Entwicklung in Westdeutschland im Übergang von den 1960er zu den 1970er Jahren charakterisierten und für die die sozialliberale Reformpolitik der Regierung Brandt/Scheel eine entscheidende Rolle spielten. Sogar von einer "Umgründung der Republik" ist mit Blick auf den "Machtwechsel" von 1969 gesprochen worden, wobei selten klar ausgeführt worden ist, was der Begriff der "Umgründung" eigentlich meint und ob er einem demokratischen Regierungswechsel wirklich gerecht wird. Einem demokratischen Regierungswechsel zumal, der nicht als punktuelles Ereignis isoliert zu betrachten, sondern der in weitere, politische, gesellschaftliche und sozialkulturelle Kontexte und Dynamiken einzuordnen ist, die sich nicht in "1968" erschöpfen.
Genau um diese Kontextualisierung des Regierungswechsels von 1969 geht es dem von der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung herausgegebenen Band, der zugleich die letzte größere, nun posthum erschienene Publikation des vor wenigen Monaten verstorbenen Hamburger Zeithistorikers Axel Schildt ist. Das Buch nimmt den Satz "Wir wollen mehr Demokratie wagen" zum Ausgangspunkt für einen demokratiegeschichtlichen Blick auf die Bundesrepublik in ihrem zweiten und dritten Jahrzehnt, der sich allerdings dagegen wehrt, die Bildung der sozialliberalen Koalition einfach in die etablierten und allzu glatten erfolgsgeschichtlichen Narrative der Bundesrepublik-Geschichte einzuschreiben. Denn das würde den scharfen Spannungen und Konflikten nicht gerecht, die nicht nur im Jahr 1969, beginnend schon mit der Wahl Gustav Heinemanns (SPD) zum Bundespräsidenten, den "Machtwechsel" begleiteten, sondern die die gesamte Regierungszeit Willy Brandts kennzeichneten und sich auch in den Jahren der Kanzlerschaft Helmut Schmidts fortsetzten. Diese Spannungen bezogen sich nicht nur - das wird oft übersehen - auf die "Neue Ostpolitik", sondern auch, zum Teil noch stärker, auf die Innen- und Gesellschaftspolitik der sozialliberalen Koalition. Deren Reformdynamik knüpfte zwar durchaus an ältere Entwicklungen insbesondere aus der Zeit der Großen Koalition (1966-1969) an, bediente aber nicht zuletzt in ihrer Rhetorik die Vorstellung des Neubeginns und eines grundsätzlichen Politikwechsels.
"Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie. Wir fangen erst richtig an!", rief Willy Brandt am Ende seiner Regierungserklärung aus. Im jubelnden Applaus der sozialliberalen Koalitionäre sowie dem wütenden Protest der Unionsabgeordneten wurde 1969 eine Schärfe und Unversöhnlichkeit der politischen Auseinandersetzung erkennbar, welche die gesamten 1970er Jahre durchzog. Zu Recht wehrt sich der Band deshalb auch dagegen, die 1970er Jahre als "sozialdemokratisches" oder gar als "rotes Jahrzehnt" zu charakterisieren und das "Mehr Demokratie wagen" als dessen Auftakt zu mythisieren.
Das spiegelt sich auch in den einzelnen Beiträgen, die ganz unterschiedliche Politikfelder in eine demokratie- und demokratisierungsgeschichtliche Perspektive stellen. Kann man von mehr Demokratie sprechen, wenn der Regierungswechsel 1969 keine Zäsur zu einer kritischeren Aufarbeitung der NS-Vergangenheit bildete? Was bedeutet es demokratiegeschichtlich, dass gerade die Kanzlerschaft Brandts unter Leitbegriffen wie Planung und Steuerung von einem hochgradig technokratischen Verständnis des Regierens gekennzeichnet war? Wie lässt sich der "Radikalenbeschluss" von 1972 mit dem Demokratisierungsimperativ vereinbaren?
In einem Vergleich mit der amerikanischen Politik während der Präsidentschaft Richard Nixons wiederum wird deutlich, dass Unterschiede in der politischen Rhetorik nicht zwangsläufig Unterschiede in der politischen Praxis bedeuteten, die noch bis Mitte der 1970er Jahre diesseits und jenseits des Atlantik von einer konsensliberalen Modernisierungsagenda geleitet blieb. Aufschlussreich sind schließlich auch die außenpolitischen Variationen über das Thema. So entfernte sich der Demokratiebegriff der Sozialistischen Internationalen, deren Präsident Willy Brandt seit 1976 war, deutlich vom Modell der parlamentarischen Demokratie westlicher Prägung. Und die Außenbeziehungen der Bundesrepublik waren nicht primär von demokratie- oder menschenrechtsbezogenen Imperativen bestimmt, sondern von ökonomischen oder geostrategischen Interessen. Nicht Demokratie wollte die Bundesrepublik - auch in den 1970er Jahren - exportieren, sondern Industriegüter. Weder das Jahr 1969 noch das Jahr 1982 bildete hier eine Zäsur.
Um das Verständnis von Demokratie wurde vor wie nach 1969 gerungen. Auch das thematisiert der Band in seinen ideen- und intellektuellengeschichtlichen Beiträgen, die beispielsweise die Konzepte gesellschaftlicher Demokratisierung von Ralf Dahrendorf und Jürgen Habermas untersuchen, welche vor dem Hintergrund von Studentenbewegung und APO die Debatte der Jahre um 1969 stark beeinflussten. Aber es geht auch um die konservative Kritik der 1970er Jahre an den sozialdemokratischen und sozialistischen Vorstellungen gesellschaftlicher Demokratie. Aus dieser Kritik entwickelte sich allerdings in der Bundesrepublik - anders als in Großbritannien in Gestalt des Thatcherismus - kein neuer, neoliberaler Konservatismus, sondern die aller "Wende"-Rhetorik zum Trotz deutlich von Kontinuitäten bestimmte Politik der Regierung Kohl ab 1982.
Im brandenburgischen Wahlkampf hat kürzlich die AfD Willy Brandts Konterfei und den Slogan "Mehr Demokratie wagen" plakatiert, so wie vor einigen Jahren schon einmal die bayerische AfD. Einmal mehr versuchten die Rechtspopulisten damit, durch einen antipluralen und antiliberalen Demokratiebegriff ein vermeintlich homogenes, ein geschlossenes Volk und einen einheitlichen Volkswillen, der im "System" (Alexander Gauland) nicht repräsentiert werde, der Pluralität einer demokratischen Gesellschaft entgegenzustellen. Willy Brandts Imperativ von 1969 zielte darauf, diese Pluralität nicht nur abzubilden, sondern aus der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Vielgestaltigkeit einer modernen Gesellschaft eine lebendige und sich immer wieder erneuernde Demokratie zu entwickeln. Daran wird man auch nach Lektüre des Bandes festhalten können. Von den völkischen Gesellschaftsvorstellungen der AfD könnte das kaum weiter entfernt sein.
ECKART CONZE
Axel Schildt / Wolfgang Schmidt (Herausgeber): "Wir wollen mehr Demokratie wagen." Antriebskräfte, Realität und Mythos eines Versprechens. J.H.W. Dietz Verlag, Bonn 2019. 272 S., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vor 50 Jahren kam Willy Brandt mit einem wortgewaltigen Versprechen ins Kanzleramt
Zum Pathos des Neuanfangs, das die Bildung der sozialliberalen Koalition und die Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler vor 50 Jahren begleitete, gehört ohne Frage der Satz "Wir wollen mehr Demokratie wagen" aus der ersten Regierungserklärung Brandts am 28. Oktober 1969. Längst ist die Formulierung zum geflügelten Wort geworden, aus dem politischen Zitatenschatz der Bundesrepublik ist sie nicht wegzudenken. Die historische Forschung hat den Satz dankbar aufgegriffen und an ihm jene Prozesse der Fundamentalliberalisierung festgemacht, welche die politische und soziale Entwicklung in Westdeutschland im Übergang von den 1960er zu den 1970er Jahren charakterisierten und für die die sozialliberale Reformpolitik der Regierung Brandt/Scheel eine entscheidende Rolle spielten. Sogar von einer "Umgründung der Republik" ist mit Blick auf den "Machtwechsel" von 1969 gesprochen worden, wobei selten klar ausgeführt worden ist, was der Begriff der "Umgründung" eigentlich meint und ob er einem demokratischen Regierungswechsel wirklich gerecht wird. Einem demokratischen Regierungswechsel zumal, der nicht als punktuelles Ereignis isoliert zu betrachten, sondern der in weitere, politische, gesellschaftliche und sozialkulturelle Kontexte und Dynamiken einzuordnen ist, die sich nicht in "1968" erschöpfen.
Genau um diese Kontextualisierung des Regierungswechsels von 1969 geht es dem von der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung herausgegebenen Band, der zugleich die letzte größere, nun posthum erschienene Publikation des vor wenigen Monaten verstorbenen Hamburger Zeithistorikers Axel Schildt ist. Das Buch nimmt den Satz "Wir wollen mehr Demokratie wagen" zum Ausgangspunkt für einen demokratiegeschichtlichen Blick auf die Bundesrepublik in ihrem zweiten und dritten Jahrzehnt, der sich allerdings dagegen wehrt, die Bildung der sozialliberalen Koalition einfach in die etablierten und allzu glatten erfolgsgeschichtlichen Narrative der Bundesrepublik-Geschichte einzuschreiben. Denn das würde den scharfen Spannungen und Konflikten nicht gerecht, die nicht nur im Jahr 1969, beginnend schon mit der Wahl Gustav Heinemanns (SPD) zum Bundespräsidenten, den "Machtwechsel" begleiteten, sondern die die gesamte Regierungszeit Willy Brandts kennzeichneten und sich auch in den Jahren der Kanzlerschaft Helmut Schmidts fortsetzten. Diese Spannungen bezogen sich nicht nur - das wird oft übersehen - auf die "Neue Ostpolitik", sondern auch, zum Teil noch stärker, auf die Innen- und Gesellschaftspolitik der sozialliberalen Koalition. Deren Reformdynamik knüpfte zwar durchaus an ältere Entwicklungen insbesondere aus der Zeit der Großen Koalition (1966-1969) an, bediente aber nicht zuletzt in ihrer Rhetorik die Vorstellung des Neubeginns und eines grundsätzlichen Politikwechsels.
"Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie. Wir fangen erst richtig an!", rief Willy Brandt am Ende seiner Regierungserklärung aus. Im jubelnden Applaus der sozialliberalen Koalitionäre sowie dem wütenden Protest der Unionsabgeordneten wurde 1969 eine Schärfe und Unversöhnlichkeit der politischen Auseinandersetzung erkennbar, welche die gesamten 1970er Jahre durchzog. Zu Recht wehrt sich der Band deshalb auch dagegen, die 1970er Jahre als "sozialdemokratisches" oder gar als "rotes Jahrzehnt" zu charakterisieren und das "Mehr Demokratie wagen" als dessen Auftakt zu mythisieren.
Das spiegelt sich auch in den einzelnen Beiträgen, die ganz unterschiedliche Politikfelder in eine demokratie- und demokratisierungsgeschichtliche Perspektive stellen. Kann man von mehr Demokratie sprechen, wenn der Regierungswechsel 1969 keine Zäsur zu einer kritischeren Aufarbeitung der NS-Vergangenheit bildete? Was bedeutet es demokratiegeschichtlich, dass gerade die Kanzlerschaft Brandts unter Leitbegriffen wie Planung und Steuerung von einem hochgradig technokratischen Verständnis des Regierens gekennzeichnet war? Wie lässt sich der "Radikalenbeschluss" von 1972 mit dem Demokratisierungsimperativ vereinbaren?
In einem Vergleich mit der amerikanischen Politik während der Präsidentschaft Richard Nixons wiederum wird deutlich, dass Unterschiede in der politischen Rhetorik nicht zwangsläufig Unterschiede in der politischen Praxis bedeuteten, die noch bis Mitte der 1970er Jahre diesseits und jenseits des Atlantik von einer konsensliberalen Modernisierungsagenda geleitet blieb. Aufschlussreich sind schließlich auch die außenpolitischen Variationen über das Thema. So entfernte sich der Demokratiebegriff der Sozialistischen Internationalen, deren Präsident Willy Brandt seit 1976 war, deutlich vom Modell der parlamentarischen Demokratie westlicher Prägung. Und die Außenbeziehungen der Bundesrepublik waren nicht primär von demokratie- oder menschenrechtsbezogenen Imperativen bestimmt, sondern von ökonomischen oder geostrategischen Interessen. Nicht Demokratie wollte die Bundesrepublik - auch in den 1970er Jahren - exportieren, sondern Industriegüter. Weder das Jahr 1969 noch das Jahr 1982 bildete hier eine Zäsur.
Um das Verständnis von Demokratie wurde vor wie nach 1969 gerungen. Auch das thematisiert der Band in seinen ideen- und intellektuellengeschichtlichen Beiträgen, die beispielsweise die Konzepte gesellschaftlicher Demokratisierung von Ralf Dahrendorf und Jürgen Habermas untersuchen, welche vor dem Hintergrund von Studentenbewegung und APO die Debatte der Jahre um 1969 stark beeinflussten. Aber es geht auch um die konservative Kritik der 1970er Jahre an den sozialdemokratischen und sozialistischen Vorstellungen gesellschaftlicher Demokratie. Aus dieser Kritik entwickelte sich allerdings in der Bundesrepublik - anders als in Großbritannien in Gestalt des Thatcherismus - kein neuer, neoliberaler Konservatismus, sondern die aller "Wende"-Rhetorik zum Trotz deutlich von Kontinuitäten bestimmte Politik der Regierung Kohl ab 1982.
Im brandenburgischen Wahlkampf hat kürzlich die AfD Willy Brandts Konterfei und den Slogan "Mehr Demokratie wagen" plakatiert, so wie vor einigen Jahren schon einmal die bayerische AfD. Einmal mehr versuchten die Rechtspopulisten damit, durch einen antipluralen und antiliberalen Demokratiebegriff ein vermeintlich homogenes, ein geschlossenes Volk und einen einheitlichen Volkswillen, der im "System" (Alexander Gauland) nicht repräsentiert werde, der Pluralität einer demokratischen Gesellschaft entgegenzustellen. Willy Brandts Imperativ von 1969 zielte darauf, diese Pluralität nicht nur abzubilden, sondern aus der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Vielgestaltigkeit einer modernen Gesellschaft eine lebendige und sich immer wieder erneuernde Demokratie zu entwickeln. Daran wird man auch nach Lektüre des Bandes festhalten können. Von den völkischen Gesellschaftsvorstellungen der AfD könnte das kaum weiter entfernt sein.
ECKART CONZE
Axel Schildt / Wolfgang Schmidt (Herausgeber): "Wir wollen mehr Demokratie wagen." Antriebskräfte, Realität und Mythos eines Versprechens. J.H.W. Dietz Verlag, Bonn 2019. 272 S., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main