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»Wir« zu sagen, ein »Wir« zu bilden ist die politische Handlung par excellence. Wie aber konstituiert sich ein politisches Subjekt? Wie funktioniert diese Identitätsbildung? Und wie hat sie sich historisch in den letzten zwei Jahrhunderten entwickelt? Das sind die Fragen, denen Tristan Garcia in seinem neuen hochaktuellen Buch nachgeht. Eine fulminante Analyse der Identitätspolitik.
Der »Kampf der Kulturen«, die Debatte um »den« Islam, um Geflüchtete, Rassismus, Feminismus oder »politisch korrekte« Sprache, um die Rechte der Tiere - immer geht es darum, im Namen eines »Wir« zu sprechen,
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Produktbeschreibung
»Wir« zu sagen, ein »Wir« zu bilden ist die politische Handlung par excellence. Wie aber konstituiert sich ein politisches Subjekt? Wie funktioniert diese Identitätsbildung? Und wie hat sie sich historisch in den letzten zwei Jahrhunderten entwickelt? Das sind die Fragen, denen Tristan Garcia in seinem neuen hochaktuellen Buch nachgeht. Eine fulminante Analyse der Identitätspolitik.

Der »Kampf der Kulturen«, die Debatte um »den« Islam, um Geflüchtete, Rassismus, Feminismus oder »politisch korrekte« Sprache, um die Rechte der Tiere - immer geht es darum, im Namen eines »Wir« zu sprechen, sich abzugrenzen oder zu inkludieren, sich zu mobilisieren und zu organisieren. Die Intensität dieser Wir-Bildungen nimmt wieder enorm zu. Garcia tritt einen Schritt zurück und entwirft ein allgemeines Modell, das anhand von Mechanismen der Konturierung, Überlappung und Priorisierung zeigt, wie solche Wir-Identitäten gebildet werden. Und er erzählt die Geschichte ihrer Dynamik, ihrer Kontraktionen und Extensionen: eine Geschichte von Herrschaft und Widerstand.
Autorenporträt
Tristan Garcia, geboren 1981, ist ein französischer Philosoph und Schriftsteller. Er ist ein Schüler von Alain Badiou, gegenwärtig Maître de conférences an der Universität von Lyon und gehört zum Kreis der philosophischen Bewegung des Spekulativen Realismus. Für seine in zahlreiche Sprachen übersetzten Werke wurde er mehrfach ausgezeichnet. Auf Deutsch erschien sein von der Kritik gefeierter Roman Der beste Teil der Menschen, für den er den Prix de Flore erhalten hat. Im Herbst 2018 erscheint sein Essay Wir im Suhrkamp Verlag.

Ulrich Kunzmann, geboren 1943, studierte Romanistik und arbeitete zunächst 20 Jahre lang als Dramaturg. Seit 1969 übersetzt er literarische Texte und Sachbücher aus dem Spanischen, Französischen und Portugiesischen ins Deutsche. Er starb am 13. September 2023 im Alter von 79 Jahren.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Für Florian Meinel hätte es der französische Philosoph Tristan Garcia auch eine Nummer kleiner machen können. So atemlos und unbedingt, wie der Autor die politisch-soziale Grammatik des Jetzt in Theologie, Sexualität, Psychoanalyse, Liberalismus und Kriegen zu entziffern sucht und mit Thesen, Beobachtungen und Anekdoten nur so um sich schmeißt, um die Auflösung aller Zugehörigkeiten zu illustrieren, so wenig kann Garcia dem Rezensenten etwas über die prekäre Realität und die Zukunft von Minderheiten vermitteln. Garcias Argumente gegen die Identitätspolitik findet Meinel banal, seinen Ratschlag, das Ich zugunsten einer Pluralität der eigenen Wir zuzulassen, nicht neu. Als Hoffnungsträger eines neuen Humanismus, wie der Autor sich das denkt, fühlt sich Meinel nach der Lektüre nicht gerade.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.02.2019

Die geeinte Menschheit lässt schon grüßen

Bitte anmelden für den neuen Humanismus: Tristan Garcia versucht sich mit großer Geste als Entschlüssler der Gegenwart.

Politisches Reden handelt von Kollektiven; das Pronomen, in dem politische Kollektive sich selbst bezeichnen, heißt "wir". "Wir schaffen das" wurde zur Abbreviatur einer Kanzlerschaft. Mit den berühmten Worten "We the people" beginnt die amerikanische Verfassung. "We want the world, and we want it now", sangen The Doors. "Nous sommes tous Charlie", sagte man nach dem Attentat auf die französische Satirezeitschrift. Wir Jungen, wir Rentner, wir Minderheiten, wir Brexiteers, wir Steinkohlearbeiter. Was haben alle diese Wirs gemeinsam? Vielleicht die Gesetze einer "gnädigen Sprache, die es uns erlaubt, dieses Pronomen zu übernehmen, dank der wir beanspruchen können, uns nacheinander auf allen Seiten zu stehen, selbst auf der unseres heftigsten Gegners"?

Das jedenfalls behauptet der französische Philosoph und Romancier Tristan Garcia in einem Essay, der jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt. Er will in der Struktur aller möglichen Wir-Sätze die geheime politisch-soziale Grammatik der Gegenwart erkannt haben. Das Buch ist ein atemlos geschriebener Monolog, der seinen Lesern einiges zumutet: ein Feuerwerk von Thesen, Beobachtungen, historischen Abrissen und Anekdoten. Es geht um Gesellschaftsstrukturen und Semantiken, um Theologie, Sexualität und Psychoanalyse, um naturwissenschaftliche Einteilungssysteme und Eschatologie, um die Paradoxien des Liberalismus, um Kolonialismus, Krieg und Frieden und nicht zuletzt um die alltäglichen Orientierungsprobleme der postindustriell und postnational sozialisierten Millennials.

Der mit der Schlüsselattitüde des großen Entzifferers geschriebene Text beginnt mit einer historischen Bestandsaufnahme: Die menschliche Geschichte ist die "Geschichte der konzentrischen Expansion des ,Wir'". Seit den ersten Sippen, Siedlungsgemeinschaften und Städten sind immer größere Kollektive entstanden: Nationen, die Menschheit und auch hier geht es weiter: Tierethiker reklamieren ein Wir, das alle Lebewesen, Posthumanisten ein Wir, das auch Maschinen einschließt. Der Mensch als Sprecher des Kollektivs der in ihm verbauten Technik. Unterdessen sind die großen Klassifikationssysteme Religion, Nation, Klasse, Rasse, Geschlecht und so fort gänzlich fragwürdig geworden. Sätze, die mit "Wir Deutsche" oder "Wir Frauen" beginnen, sind entweder ironisch gemeint oder provozieren Nachfragen. Das Grundgefühl der Gegenwart kennzeichnet Garcia als totale Verflüssigung aller Zugehörigkeiten: "Wir sind die, die nicht mehr wissen, was die Rangordnung unserer ,Wir' ist."

Natürlich ist der damit gemeinte Tatbestand, den Garcia mit einer Fülle von hübschen Beispielen belegt, nicht gerade neu, auch wenn man ihn bisher nicht pronominalphilosophisch, sondern vorwiegend mit den Mitteln einer Soziologie beschrieben hat, für die Garcia sich nicht interessiert: als gesellschaftliche Ausdifferenzierung. Die soziologische Fassung des Problems hat übrigens gegenüber der suggestiven Argumentation Garcias den Vorzug, dass sie gesellschaftliche Komplexität nicht ohne weiteres mit Selbstverständnissen gleichsetzen muss. Zugehörigkeiten werden ja, anders als Garcia es unterstellt, in der Regel nicht von den Zugehörigen erzeugt, und wie Deutschland spielt, bestimmen auch nicht jene, die nach einem Sieg sagen: Wir haben gewonnen.

Die verschiedenen Stränge seiner Argumentation verknüpft Garcia am Schluss zu einer Theorie der Herrschaft. Jedes Wir erhebt danach einen bald impliziten, bald expliziten Herrschaftsanspruch durch die Spannung zwischen dem Kollektiv, das es bezeichnet, und allen, die es gerade durch die Negation gedanklich mit einbezieht. Das gilt auch dann, wenn die Ausgeschlossenen als "Wir Unterdrückte" gegen die Herrschaft aufbegehrten.

Leider bricht diese Wiedergabe dialektischer Gemeinplätze dort ab, wo sie interessant wird, nämlich beim Dilemma minoritärer Identitäten. Garcia zeigt, dass sie taktisch und semantisch darin gefangen sind, die Macht der anderen und die Hegemonie einer feindlichen Mehrheit aufzuzeigen. Doch was folgt daraus? Wie hätten wir uns Herrschaft in einer Gesellschaft vorzustellen, die nur noch aus Minderheiten besteht, die sich unterdrückt fühlen? Vielleicht liegt das Problem ganz woanders. Indem Garcia so tut, als sei das Pronomen "wir" immer auf ein handelndes kollektives Subjekt bezogen, macht er seinen identitären Gegnern bereits ungewollt eine gewichtige begriffliche Konzession. Prekär ist aber gerade die Organisierbarkeit und damit die Repräsentationsfähigkeit von Kollektiven, die aus den alten Klassifikationssystemen herausfallen. Dazu findet sich bei Garcia auf fast dreihundert Seiten nicht ein einziger Satz.

Auch sind die Argumente gegen die essentialistische Identitätspolitik, die Garcia anzubieten hat, überraschend banal: "Wenn man die Welt in erster Linie nach Kulturkreisen zurechtschneidet, so heißt dies, dass man die ideologischen Kreise oder die Reiche und Arme trennenden wirtschaftlichen Kreise als zweitrangige oder nachgeordnete Kreise ansieht; indem man einen klaren Blick für bestimmte, die Welt durchquerende und einteilende Linien gewinnt, bedeutet dies zwangsläufig, dass man für andere, kaum markierte und schlecht kontrastierte Linien blind wird." Sicher, so hat man die Funktion von Ideologie seit jeher bestimmt. Auch Garcias Empfehlungen, sich gelassen der Pluralität der eigenen Wir zu stellen, kommen mit einer recht gewöhnlichen Kapitalismuskritik daher: "Das Ich ist die leere Form der liberalen Welt. Das Ich ist eine Sackgasse, mit der uns die Macht verbietet, wir zu sein." Und der geschichtsphilosophische Sound der Eindringlichkeit, mit der Garcia der Menschheit einen "längeren Zeitraum der Destabilisierung und politischen Zerrissenheit" ankündigt, klang bei den literarischen Vorbildern denn doch authentischer: "Schon ist der Moment gekommen, da man unter den Frontlinien der Kriege, die uns unausweichlich bald einander entgegenstellen werden, ein neues ,Wir' hervorquellen sieht."

Was bitte wird da hervorquellen? Am Schluss entwirft Garcia etwas überraschend das Programm eines neuen Universalismus der geeinten Menschheit, der alle möglichen Wir einschließt. Es ist, Garcia gibt das offen zu, das Bekenntnis zu einem paradoxen Ideal von Politik, dem alle kollektiven Ideale außer einer verzweifelten Geschichtsphilosophie unmöglich geworden sind. Wie hat man sich das vorzustellen? Der Schluss des selbst konsequent in der Wir-Form geschriebenen Essays verwandelt ihn in ein literarisches Experiment. Seinen Lesern verrät er, sozusagen als Preis für die Geduld, dass sie mit der Lektüre des Buches schon den ersten Schritt über die Gegenwart hinaus getan haben: Wer sich bei Garcia wiedererkennt, wird bei Garcia zu dem Hoffnungsträger eines neuen Humanismus.

Dass es politisch derzeit ums Ganze geht, ist eine verbreitete Empfindung. Dass man deswegen Bücher schreiben muss, in denen es um alles geht, folgt daraus nicht.

FLORIAN MEINEL

Tristan Garcia: "Wir".

Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 329 S., geb., 28,- [Euro].

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»Wenn also ... das 'Wir' unumgänglich ist, um das eigene Ich zu definieren und um politisch zu agieren, dann müssen wir uns der Verfahren und der Konsequenzen der 'Wir'-Bildungen bewusst werden - gerade in Zeiten wie diesen. Dazu ermächtigt einen dieses Buch.« Marie Schoeß Bayern 2 20181021