Hartwin Brandt bietet ein eindrucksvolles Bild der Lebensverhältnisse alter Menschen in der griechischen und römischen Antike. Die zeitlose Aktualität des Themas wird deutlich, wenn er vom Selbstverständnis der Alten, ihren Erfahrungen im Umgang mit Jüngeren, ihren Sorgen, ihrem Glück und ihren Strategien berichtet, mit der sich verändernden Lebenssituation zurechtzukommen. Zahlreich abgebildete Kunstwerke veranschaulichen als eigenständige Zeugnisse das Leben des alten Menschen in der Antike.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002Kopf hoch, werter Greis
Hartwin Brandt prüft das Alter in der Antike / Von Kurt Flasch
Wir werden immer älter. Altgewordene Philosophen wie Gadamer und Bobbio haben vor kurzem noch das antike Thema "Alter" neu aufgegriffen und die alte Tradition der Reflexion darüber fortgesetzt. Nachdem französische Historiker die Kindheit und den Tod, die Scham und das Essen historisiert haben, lag es nahe, auch eine Geschichte des Alters zu schreiben. Jetzt liegt sie vor, wenigstens für die griechische und römische Antike. Aus Hartwin Brandts Buch ist eine Menge zu lernen: Die Klage, das Alter werde nicht mehr geehrt wie früher, ist so alt wie die europäische Literatur. Es gibt sie seit Hesiod (um 700 vor Christus). Spätestens seit Platon die Hochschätzung des Alters philosophisch begründet hat, ist dieser kulturkritische Singsang nicht mehr verstummt. Besonders das antike Sparta wurde wegen seiner Altenherrschaft (Gerusie) gerühmt; aber auch in Rom besaß die Versammlung der Alten, Senat genannt, höchste Autorität.
Brandts Geschichte des Alters in der Antike gießt zwar etwas Wasser in den Wein der Begeisterung für die antike Hochschätzung der Alten. Er stellt fest, daß es kein Mindestalter gab für die Aufnahme in den Senat; maßgebend war die Ämterlaufbahn. Richtigstellungen dieser Art enthält das Buch des Bamberger Historikers eine Fülle. Er verfolgt das Thema des Alters von Homer bis zum Ende der Antike, quellennah, mit vielen schönen Zitaten, aus denen Geburtstagsredner sich künftig bedienen werden. Es zeigt, wie Vorzüge und Nachteile des Alters klug abgewogen worden sind. Vorherrschend war ein nüchterner Blick; das moderne Ideal ewiger Jugend wurde den Göttern zugeschrieben, nicht den Menschen.
Besonderen Reiz erhält das Buch dadurch, daß es nicht nur die Ansichten über das Alter der antiken Literatur und Philosophie zitiert, sondern auch die Darstellungen des Alters in der Kunst wiedergibt und historisch einordnet. Zudem enthält es eine Reihe sozialgeschichtlicher Informationen, zum Beispiel über die durchschnittliche Lebenserwartung, die bei etwa fünfunddreißig Jahren lag, oder über den Anteil der mehr als Sechzigjährigen, der auf fünf Prozent geschätzt wird.
Der Verfasser vergißt auch nicht die soziale Lage alter Frauen, obwohl die meisten Quellen sich auf alte Männer der Oberschicht beziehen. Oft muß er feststellen, daß wir die Literatur besser kennen als die soziale Realität. Der Verfasser verbindet Ideen- und Literaturgeschichte mit Archäologie und Kunstgeschichte und analysiert die gesamte Entwicklung von Homer bis Boethius auf dem Hintergrund der Sozialgeschichte. Ob es eine ausgezeichnete Idee war, diese respektable Leistung unter dem Aspekt der Haarfarbe zu präsentieren, ist eine andere Frage. Der Titel des Buches besteht aus der ersten Hälfte eines Fragments von Solon (um 600 vor Christus), das vollständig lautet: "Wird auch silbern mein Haar, lern' ich doch immer noch vieles." Die intellektuelle Beweglichkeit und die Neugier des weisen Gesetzgebers Solon sind also weggefallen. Schade.
Brandt behandelt ein wichtiges Thema informativ und gelehrt, ohne unnötige Umständlichkeit. Er schreibt selbst, aus einem geplanten Essay sei ein Buch geworden. Daran ist jedenfalls so viel richtig, daß dieses Buch kein Essay ist. Streckenweise hat es den Charme eines Artikels aus der Real-Enzyklopädie für das klassische Altertum; es listet Zitate über das Altern auf einer chronologischen Perlenschnur auf. Aus Vollständigkeitseifer behandelt es einzelne Autoren knapp, um nicht zu sagen: hastig. Aktualisierende Betrachtungen über die alten Leute von heute fallen eher banal aus. So rühmlich es ist, daß Kunst und Sozialgeschichte beachtet werden - der gelehrte Verfasser blickt zu wenig über seinen Tellerrand. Er sucht nicht erst das Imaginäre des Alters. Er erwähnt zum Beispiel nicht, daß Plinius erzählt, in Indien gebe es eine Gegend, in der Menschen nicht altern; sie stürben in voller Reife im Alter von zweihundert Jahren. Und gehören nicht auch Juden in die Geschichte des Altertums? In deren heiligen Büchern las man Wunderdinge über das Altern.
Heute gebrauchen selbst kundige Skribenten den Ausdruck "biblisches Alter" falsch. Sie schreiben über einen Achtzigjährigen und sagen, er sei im "biblischen Alter". Aber die siebzig bis achtzig Jahre, von denen der Psalm 90 spricht, meinen das Durchschnittsalter, nicht das Alter der großen alttestamentlichen Gestalten. Die Heilige Schrift versichert, Adam sei im Alter von neunhundertdreißig Jahren gestorben. Den Rekord hielt Methusalem; er erreichte neunhundertneunundsechzig Jahre, sagt die Genesis. Noch Rühmlicheres berichtet sie vom Urvater Noah, dem das Verdienst zukommt, den Wein erfunden zu haben, und der im Alter von fünfhundert Jahren die Söhne Sem, Cham und Japhet gezeugt hat.
Gab es solche Vorstellungen in der Antike? Fromme Franziskaner des Mittelalters arbeiteten an Rezepten für Getränke der Lebensverlängerung; von Päpsten erzählte man, daß sie das Gold florentinischer Gulden abrieben und ihren Getränken beigaben, um ihr Leben zu verlängern. Es gab Kirchenfürsten, die alles taten, um nicht zu schnell in den Himmel zu kommen. Die Mönche, die sie medizinisch berieten, Roger Bacon zum Beispiel, hatten die Bücher arabischer Ärzte gelesen, in denen Lebenselixiere empfohlen wurden. Gab es das alles nicht in der Antike? Brandts katalogisierte Antike ist nüchtern, besonnen und ein wenig zu trocken. Sie wiederholt ihren begrenzten Vorrat von Motiven. Aber, wie gesagt, er wollte ja auch keinen Essay schreiben, sondern nur ein Buch.
Immerhin, wenigstens eine Geschichte vom Traum ewigen Lebens erzählt er uns: Eos, die Göttin der Morgenröte, hatte einen sterblichen Mann zu den Göttern entführt. Sie erbat für ihren Geliebten von Zeus Unsterblichkeit, und sie erhielt sie. Aber sie hatte vergessen, auch noch um ewige Jugend zu bitten. So alterte ihr Mann; er alterte ohne Ende. Er konnte nicht sterben. Schrecklich muß er ausgesehen haben in der Gesellschaft der Götter. Eos blieb gar nichts anderes übrig; sie schloß, wie Brandt schön formuliert, "den dürren und vertrockneten Gatten hinter bronzenen Türen weg". So können die Silberhaarigen von heute sich trösten; sie sind sterblich. Und Altersheime haben keine bronzenen Türen.
Hartwin Brandt: "Wird auch silbern mein Haar". Eine Geschichte des Alters in der Antike. Verlag C. H. Beck, München 2002. 302 S., 89 Abb., geb., 29,90 [Euro].
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Hartwin Brandt prüft das Alter in der Antike / Von Kurt Flasch
Wir werden immer älter. Altgewordene Philosophen wie Gadamer und Bobbio haben vor kurzem noch das antike Thema "Alter" neu aufgegriffen und die alte Tradition der Reflexion darüber fortgesetzt. Nachdem französische Historiker die Kindheit und den Tod, die Scham und das Essen historisiert haben, lag es nahe, auch eine Geschichte des Alters zu schreiben. Jetzt liegt sie vor, wenigstens für die griechische und römische Antike. Aus Hartwin Brandts Buch ist eine Menge zu lernen: Die Klage, das Alter werde nicht mehr geehrt wie früher, ist so alt wie die europäische Literatur. Es gibt sie seit Hesiod (um 700 vor Christus). Spätestens seit Platon die Hochschätzung des Alters philosophisch begründet hat, ist dieser kulturkritische Singsang nicht mehr verstummt. Besonders das antike Sparta wurde wegen seiner Altenherrschaft (Gerusie) gerühmt; aber auch in Rom besaß die Versammlung der Alten, Senat genannt, höchste Autorität.
Brandts Geschichte des Alters in der Antike gießt zwar etwas Wasser in den Wein der Begeisterung für die antike Hochschätzung der Alten. Er stellt fest, daß es kein Mindestalter gab für die Aufnahme in den Senat; maßgebend war die Ämterlaufbahn. Richtigstellungen dieser Art enthält das Buch des Bamberger Historikers eine Fülle. Er verfolgt das Thema des Alters von Homer bis zum Ende der Antike, quellennah, mit vielen schönen Zitaten, aus denen Geburtstagsredner sich künftig bedienen werden. Es zeigt, wie Vorzüge und Nachteile des Alters klug abgewogen worden sind. Vorherrschend war ein nüchterner Blick; das moderne Ideal ewiger Jugend wurde den Göttern zugeschrieben, nicht den Menschen.
Besonderen Reiz erhält das Buch dadurch, daß es nicht nur die Ansichten über das Alter der antiken Literatur und Philosophie zitiert, sondern auch die Darstellungen des Alters in der Kunst wiedergibt und historisch einordnet. Zudem enthält es eine Reihe sozialgeschichtlicher Informationen, zum Beispiel über die durchschnittliche Lebenserwartung, die bei etwa fünfunddreißig Jahren lag, oder über den Anteil der mehr als Sechzigjährigen, der auf fünf Prozent geschätzt wird.
Der Verfasser vergißt auch nicht die soziale Lage alter Frauen, obwohl die meisten Quellen sich auf alte Männer der Oberschicht beziehen. Oft muß er feststellen, daß wir die Literatur besser kennen als die soziale Realität. Der Verfasser verbindet Ideen- und Literaturgeschichte mit Archäologie und Kunstgeschichte und analysiert die gesamte Entwicklung von Homer bis Boethius auf dem Hintergrund der Sozialgeschichte. Ob es eine ausgezeichnete Idee war, diese respektable Leistung unter dem Aspekt der Haarfarbe zu präsentieren, ist eine andere Frage. Der Titel des Buches besteht aus der ersten Hälfte eines Fragments von Solon (um 600 vor Christus), das vollständig lautet: "Wird auch silbern mein Haar, lern' ich doch immer noch vieles." Die intellektuelle Beweglichkeit und die Neugier des weisen Gesetzgebers Solon sind also weggefallen. Schade.
Brandt behandelt ein wichtiges Thema informativ und gelehrt, ohne unnötige Umständlichkeit. Er schreibt selbst, aus einem geplanten Essay sei ein Buch geworden. Daran ist jedenfalls so viel richtig, daß dieses Buch kein Essay ist. Streckenweise hat es den Charme eines Artikels aus der Real-Enzyklopädie für das klassische Altertum; es listet Zitate über das Altern auf einer chronologischen Perlenschnur auf. Aus Vollständigkeitseifer behandelt es einzelne Autoren knapp, um nicht zu sagen: hastig. Aktualisierende Betrachtungen über die alten Leute von heute fallen eher banal aus. So rühmlich es ist, daß Kunst und Sozialgeschichte beachtet werden - der gelehrte Verfasser blickt zu wenig über seinen Tellerrand. Er sucht nicht erst das Imaginäre des Alters. Er erwähnt zum Beispiel nicht, daß Plinius erzählt, in Indien gebe es eine Gegend, in der Menschen nicht altern; sie stürben in voller Reife im Alter von zweihundert Jahren. Und gehören nicht auch Juden in die Geschichte des Altertums? In deren heiligen Büchern las man Wunderdinge über das Altern.
Heute gebrauchen selbst kundige Skribenten den Ausdruck "biblisches Alter" falsch. Sie schreiben über einen Achtzigjährigen und sagen, er sei im "biblischen Alter". Aber die siebzig bis achtzig Jahre, von denen der Psalm 90 spricht, meinen das Durchschnittsalter, nicht das Alter der großen alttestamentlichen Gestalten. Die Heilige Schrift versichert, Adam sei im Alter von neunhundertdreißig Jahren gestorben. Den Rekord hielt Methusalem; er erreichte neunhundertneunundsechzig Jahre, sagt die Genesis. Noch Rühmlicheres berichtet sie vom Urvater Noah, dem das Verdienst zukommt, den Wein erfunden zu haben, und der im Alter von fünfhundert Jahren die Söhne Sem, Cham und Japhet gezeugt hat.
Gab es solche Vorstellungen in der Antike? Fromme Franziskaner des Mittelalters arbeiteten an Rezepten für Getränke der Lebensverlängerung; von Päpsten erzählte man, daß sie das Gold florentinischer Gulden abrieben und ihren Getränken beigaben, um ihr Leben zu verlängern. Es gab Kirchenfürsten, die alles taten, um nicht zu schnell in den Himmel zu kommen. Die Mönche, die sie medizinisch berieten, Roger Bacon zum Beispiel, hatten die Bücher arabischer Ärzte gelesen, in denen Lebenselixiere empfohlen wurden. Gab es das alles nicht in der Antike? Brandts katalogisierte Antike ist nüchtern, besonnen und ein wenig zu trocken. Sie wiederholt ihren begrenzten Vorrat von Motiven. Aber, wie gesagt, er wollte ja auch keinen Essay schreiben, sondern nur ein Buch.
Immerhin, wenigstens eine Geschichte vom Traum ewigen Lebens erzählt er uns: Eos, die Göttin der Morgenröte, hatte einen sterblichen Mann zu den Göttern entführt. Sie erbat für ihren Geliebten von Zeus Unsterblichkeit, und sie erhielt sie. Aber sie hatte vergessen, auch noch um ewige Jugend zu bitten. So alterte ihr Mann; er alterte ohne Ende. Er konnte nicht sterben. Schrecklich muß er ausgesehen haben in der Gesellschaft der Götter. Eos blieb gar nichts anderes übrig; sie schloß, wie Brandt schön formuliert, "den dürren und vertrockneten Gatten hinter bronzenen Türen weg". So können die Silberhaarigen von heute sich trösten; sie sind sterblich. Und Altersheime haben keine bronzenen Türen.
Hartwin Brandt: "Wird auch silbern mein Haar". Eine Geschichte des Alters in der Antike. Verlag C. H. Beck, München 2002. 302 S., 89 Abb., geb., 29,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Unter der Überschrift "Mit dem Rollstuhl in die Römerzeit" zerpflückt Wilfried Nippel, weniger genervt allerdings offenbar denn amüsiert, Brandts "Geschichte des Alters in der Antike". Eine solche nämlich biete das Buch gerade nicht. Sondern vielmehr eine weitgehend unsystematische "Blütenlese" von Reflexionen aus allen Genres und Zeiten, von der Literatur bis zur bildenden Kunst und vom archaischen Griechenland bis zur christlichen Spätantike. Dafür weise Brandt dann "durchgängig" auf die "Aktualität" vieler Motive hin. Brandts Ziel sei eben vorrangig gewesen, so zitiert Nippel aus dem Band, zu zeigen, dass die "antike Literatur auch noch in einer Zeit wie der unsrigen, da allerorten über das Altern reflektiert und räsoniert wird, Aufmerksamkeit beanspruchen" könne. "Zeitlos" seien die meisten von Brandt gesammelten Belege aber eben leider vor allem in dem Sinne, dass sie "weder epochen- noch kulturspezifische Beobachtungen enthalten" würden. Nur als ironisch gemeintes Lob kann man, dass Brandt sich dann von dem in diesem Sinne Zeitlosen, Nippel zufolge, tatsächlich nichts habe entgehen lassen -- "ohne Scheu vor Banalitäten" und bis hin zu Äußerungen zum Thema "Fitness im Alter".
© Perlentaucher Medien GmbH
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