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Der neue Essayband Isaiah Berlins umfaßt neun Aufsätze, die fast alle zum ersten Mal auf deutsch vorliegen. Sie sind dem zentralen Interesse Berlins gewidmet: Ideen und ihrer Geschichte. In ihrer thematischen Fülle repräsentieren sie die vielfältige philosophische Beschäftigung einer der bedeutendsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts.

Produktbeschreibung
Der neue Essayband Isaiah Berlins umfaßt neun Aufsätze, die fast alle zum ersten Mal auf deutsch vorliegen. Sie sind dem zentralen Interesse Berlins gewidmet: Ideen und ihrer Geschichte.
In ihrer thematischen Fülle repräsentieren sie die vielfältige philosophische Beschäftigung einer der bedeutendsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.1998

Jedenfalls Geistesschmalz
Isaiah Berlin und die Willenskraftathleten der Romantik

Die englische Ausgabe von "The Sense of Reality" bildete noch zu Lebzeiten Isaiah Berlins den vorläufigen Abschluß seiner gesammelten Aufsätze. Ganz dem Tonfall dieses Autors gemäß, ist es ein Schlußakkord mit hoher Auflösung und ohne gewaltiges Tutti in C-Dur geworden. Motivischer Reichtum beherrscht den Eindruck. Enzyklopädisch werden wir über die Geschichte sozialistischer Theorien und ihren Reichtum an halb vergessenen Nebenlinien informiert. Ein Vortrag warnt vor der Versammlung der "besten Köpfe" in der Politik und findet politische Urteilskraft eher durch situativen Opportunismus als durch analytisches Vermögen und historische Kenntnis ausgezeichnet. Auf die Frage, inwiefern Geschichte unumkehrbar ist, antwortet der Text, dem die Sammlung ihren Titel verdankt. Ein anderer hat zum Thema, inwiefern die Philosophie in höherem Maße als etwa Kunst und Wissenschaft der politischen Freiheit bedarf. Daneben finden sich Beiträge zum Postulat literarischen Engagements am Beispiel des russischen Kritikers Belinski, zum Nationalbewußtsein im intellektuellen Leben des indischen Dichters Tagore und zur Geschichte der kommunistischen Internationale.

Angesichts solcher Themenvielfalt könnte von Nachlese oder gar Restposten gesprochen werden. Lohnender ist, nach dem Zusammenhang des Dargebotenen zu fragen. Als ein solches verbindendes Moment der ideengeschichtlichen Studien Berlins wird gern sein "Liberalismus" bezeichnet. Dieses Etikett ist vieldeutig. Daß es einem Autor wie Berlin, der darauf verzichtet, die Geschichte der politischen Ideen selbst von einem Parteienstandpunkt des neunzehnten Jahrhunderts aus zu politisieren, immer wieder aufgedrückt wird, mag dafür sprechen, daß es nicht haften bleibt. Gewiß sind Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus und - quer dazu stehend - Nationalismus seine wiederkehrenden Themen. Gerade deshalb aber läßt sich seine Position selbst nicht innerhalb ihres Umkreises bestimmen. Liberalität ist kein hermeneutischer Imperativ, dem sich entnehmen ließe, wie die Ideengeschichte der Moderne zu schreiben wäre. Berlin schreibt sie deshalb weniger aus einem politischen Bekenntnis als aus einem konkreten Problembewußtsein heraus.

Dessen Konturen treten in seinem Essay über die "Revolution der Romantik" hervor. Bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts erscheint Berlin die europäische Ideenwelt vergleichsweise intakt. Allen intellektuellen Dissens im einzelnen überwölbte die Vorstellung, auf jedes gut gestellte Problem lasse sich eine eindeutige Antwort finden. Politische, rechtliche und moralische Fragen wurden nicht prinzipiell von solchen unterschieden, die sich an Natur oder Geschichte richteten. Auch sie galten als eine Art von Tatsachenfragen. "Sittlichkeit ist Wissen", faßt Berlin die Prämissen des politischen Denkens vor 1800 zusammen.

Die Romantiker sind für ihn die ersten Intellektuellen, die das bezweifeln. Für sie wird das Gute nicht primär erkannt, sondern vor allem gewollt. Werke des Übergangs, wie die Rousseaus und Kants, leiten diese Wendung durch eine Ethik der Autonomie ein. Bereits hier gründet Moral auf der Freiheit des Entschlusses und nicht auf der Einordnung in soziale oder naturale Zusammenhänge. Von den Romantikern, allen voran Fichte, wird diese Emphase subjektiven Wollens dann vollends entbunden. Das Gute zeige sich in freier Produktivität, heißt es. Im Künstler und nicht mehr im Heiligen oder Weisen findet solche Lehre ihren Modellathleten. Was an politischem Handeln nunmehr zählen soll, sind Absichten, nicht Wirkungen. Aufrichtigkeit, Prinzipientreue und Ernst werden als solche zu moralischen Qualitäten. Dem Nationalismus führt diese Moralität des Wollens entscheidende Energien zu. Seitdem heißt es "Right or wrong, my country": Ich lebe meiner Nation und sterbe für sie, nicht weil sie "wahr", sondern weil sie die meine ist. Berlins Deutung liest sich so wie eine große Variation auf Heinrich Heines Diktum über die "bewaffneten Fichteaner", die sich in Europa breitmachen werden, "nicht durch Furcht noch Eigennutz zu bändigen".

Doch Berlin schließt einen weiteren Schritt an. Die romantische Verinnerlichung der Werte habe es nicht vermocht, die ältere Vorstellung von deren Objektivität zu zerstören. Die Moderne sei vielmehr von einem dauernden Schwanken zwischen den Polen einer Ethik der Leistungen und einer der guten Gründe bestimmt. Absichten und Einsichten werden gleichermaßen bewundert. Wir sind Romantiker und Vorromantiker in einem. Im Horizont solcher Unsicherheit stehen für Berlin deshalb alle originären Gestalten der neueren Ideengeschichte.

Seine diversen Themen ordnen sich um solche Figuren des Schwankens. In der Literaturkritik des neunzehnten Jahrhunderts beobachtet er das Hin und Her zwischen dem Selbstzweck des "L'art pour l'art" und der freiwilligen Fremdbestimmtheit engagierter Poesie. In seiner überaus glänzenden Studie über Marx und den Marxismus fasziniert ihn der Umschlag einer Geschichtsphilosophie objektiver Notwendigkeiten in die Emphase einer Revolution um der Revolution willen. Ja, das neuzeitliche Denken selbst möchte er als Form der Freiheit verstehen, zwischen beiden Haltungen zu wechseln. Um den Preis "logischen Unbehagens" behaupte bedeutende Philosophie sowohl die Objektivität wie das Gemachtsein der Wahrheit. Zuletzt hätte Berlin vielleicht sogar an der Romantik eine solche Zweideutigkeit nachweisen können. Denn in ihrer Hinwendung zu Geschichte, Mythos und Nation läßt sich nicht nur das Moment der willkürlichen Setzung, sondern auch das der Unterwerfung unter Natursurrogate und Objektivitäten aus zweiter Hand betonen. Mit seinem Befund einer fundamentalen Verhaltensunsicherheit im Zentrum moderner Intellektualität hat Berlin jedenfalls bewiesen, daß ein "Standpunkt", und sei es der liberale, einen viel zu engen Umkreis hätte, um die Ideengeschichte der Moderne auszumessen. JÜRGEN KAUBE

Isaiah Berlin: "Wirklichkeitssinn". Ideengeschichtliche Untersuchungen. Herausgegeben von Henry Hardy. Vorwort von Henning Ritter. Aus dem Englischen von Fritz Schneider. Berlin Verlag, Berlin 1998. 475 S., geb., 58,- DM.

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