Um 1500 übertraf die Wirtschaftsleistung Chinas und Indiens die Europas um ein Vielfaches. Bis zur Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Europa dann zur dominanten Wirtschaftsmacht. Christian Kleinschmidt fragt in diesem Buch nach den Gründen für den Aufstieg Europas und beschreibt die Entstehung und die Integration der Weltwirtschaft in der Frühen Neuzeit. Dabei wird deutlich, dass Europas Dominanz sich einer bestimmten historischen Konstellation verdankte und mit eigenen Innovationen ebenso verbunden war wie mit kolonialer Expansion und Gewalt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.05.2017Freihandelsimperialismus
Europa als dominante Wirtschaftsmacht
Europa als dominante Wirtschaftsmacht - das war nicht immer so. Noch um das Jahr 1500 hatte die Wirtschaftsleistung Chinas und Indiens die europäische um ein Vielfaches übertroffen, schreibt Christian Kleinschmidt, Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Philipps-Universität in Marburg. Erst mit der Industrialisierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts sei Europa an die Spitze der Weltwirtschaft vorgedrungen: "Um 1850 war Europa das beherrschende Zentrum der Weltwirtschaft." Die Entstehung dieser Weltwirtschaft und der Aufstieg Europas seien die entscheidenden Entwicklungen in der Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit.
In einem neuen kleinen Bändchen aus der C.H.Beckschen Reihe "Wissen" fragt der Autor nach den Gründen für diese ökonomische Karriere Europas. Es geht dabei um den Zeitraum 1500 bis 1850. Kleinschmidt macht deutlich, dass Europa seine wachsende Vormachtstellung in der globalen Wirtschaft einer bestimmten historischen Konstellation verdankte. Er verhehlt nicht, dass der Aufstieg Europas ein Janusgesicht besessen hat: "Er war mit Innovationen und Institutionen ebenso verbunden wie mit hemmungsloser Gewalt, skrupelloser Verdrängung und kolonialer Expansion."
Kleinschmidt sieht den wirtschaftlichen Erfolg Europas als Resultat eines ganzen Geflechts günstiger Faktoren. Um deren Zusammenwirken zu verdeutlichen, behandelt er die Bevölkerungsentwicklung der Neuzeit, Warenströme und Handelswege, Ideen und Weltanschauungen, Technik und Wissenschaft und auch Politik, Recht und Institutionen. Wir lernen, dass im 16. Jahrhundert das spanische und portugiesische, später auch das britische, französische und niederländische Interesse an Luxusgütern, Gewürzen und Edelmetallen das bis dahin bestehende Gleichgewicht aus vielen einzelnen Wirtschaftszentren in der Welt auf Europa verschob.
"Der ferne Westen Eurasiens" wurde damit mehr und mehr zum Mittelpunkt einer sich entwickelnden Weltwirtschaft. Von dort aus verknüpften sich transatlantische und transpazifische Wirtschaftsbeziehungen miteinander und bildeten spezifische Muster der weltwirtschaftlichen Verflechtung. Bereits für diese Zeit könne von einer Weltwirtschaft gesprochen werden, da es sich um durch Märkte integrierte, arbeitsteilige Strukturen gehandelt habe. "Globalisierung im Sinne einer internationalen Integration von Güter-, Kapital- und Arbeitsmärkten, vorangetrieben durch neue Technologien auf dem Gebiet der Kommunikation, der Information und des Transportwesens mit dem Effekt weltweiter Konvergenzprozesse" sei das allerdings noch nicht gewesen. Kleinschmidt sieht fünf Faktoren, die diese Entwicklung vorantrieben und zu einem zunehmenden wirtschaftlichen Abstand zwischen Europa und dem Rest der Welt, vor allem dem an Einfluss verlierenden Asien, führten.
An erster Stelle nennt er die damaligen Migrationsbewegungen von Arbeitskräften, Siedlern und Kaufleuten und in diesem Zusammenhang Sklavenhandel, Kolonialismus und die Netzwerke von Kaufleuten. Sie hätten für wirtschaftliche Dynamik auf den Arbeitsmärkten gesorgt und den Wirtschafts- und Technologieaustausch forciert. Einflussreich sei auch gewesen, dass die europäischen Expansionsbestrebungen seit dem 16. Jahrhundert vom christlichen Missionsgedanken und zugleich einer "Kultur der Offenheit" begleitet wurden: "Die europäischen Mächte praktizierten mit der merkantilistischen Wirtschaftspolitik eine selektive und bisweilen aggressive Form der Öffnung und Abschließung, der die anderen Wirtschaftsmächte nur wenig entgegenzusetzen hatten." Die europäische Dominanz verstärkt habe der "Freihandelsimperialismus", in den die von Europa ausgehenden Ideen des Liberalismus und des Freihandels im 19. Jahrhundert gemündet seien.
Gleichzeitig hätten Innovationen, technisches Wissen und Techniktransfers einerseits und Aggressivität und Gewaltanwendung andererseits zu noch mehr weltwirtschaftlicher Integration geführt - mit einer spezifisch europäischen Kombination aus "Geist und Gewalt". Zu Beginn der Neuzeit seien die europäischen Mächte keineswegs führend in Naturwissenschaften und Technik gewesen. Im Zusammenhang mit nationalen Interessen sei im 16. Jahrhundert das europäische Innovationspotential zunehmend gewachsen. Diese Entwicklung habe bis zum 19. Jahrhundert einen deutlichen europäischen Vorsprung beschert und schließlich den Übergang zur "Industriellen Revolution" ermöglicht. Auch die staatlich abgesicherten, privatwirtschaftlich agierenden europäischen Handelskompanien hätten den Prozess weltwirtschaftlicher Integration wirksam befördert. Dementsprechend habe sich Europa Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Höhepunkt seiner ökonomischen und politischen Macht befunden.
Wirtschaftsgeschichte gilt als kleines Fach und zugleich als Brücke zwischen Geschichte, Ökonomie und Soziologie. Intertemporäre und internationale Vergleiche sind wichtig zum Erkenntnisgewinn. Kleinschmidts schmales Bändchen ist eine hilfreiche, wenn auch nicht unbedingt süffige Lektüre. Man muss dem Verfasser zugestehen, dass es nicht gerade leicht ist, einen komplexen Sachverhalt wie die Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit auf 128 Seiten abzuhandeln.
Zweifellos verhilft die historische Perspektive zum besseren Verständnis auch der zeitgenössischen Situation. Kleinschmidts Betrachtung endet deshalb nicht mit dem Jahr 1850. Der Autor verweist am Schluss auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, als der Verflechtungsgrad der Wirtschaft wieder die Intensität von vor 1914 erreichte und zur Jahrtausendwende in eine neuerliche Globalisierung mündete. Das alles, um zu resümieren, dass sich für Europa das Blatt zu wenden scheint und "wir uns im 21. Jahrhundert wieder in Richtung einer polyzentrischen Weltwirtschaft bewegen, in der sich Indien und China anschicken, die Bedeutung als größte Volkswirtschaften wiederzuerlangen".
ULLA FÖLSING
Christian Kleinschmidt: Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit. Die Weltwirtschaft 1500-1850. C.H. Beck Wissen, München 2017, 128 Seiten, 8,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Europa als dominante Wirtschaftsmacht
Europa als dominante Wirtschaftsmacht - das war nicht immer so. Noch um das Jahr 1500 hatte die Wirtschaftsleistung Chinas und Indiens die europäische um ein Vielfaches übertroffen, schreibt Christian Kleinschmidt, Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Philipps-Universität in Marburg. Erst mit der Industrialisierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts sei Europa an die Spitze der Weltwirtschaft vorgedrungen: "Um 1850 war Europa das beherrschende Zentrum der Weltwirtschaft." Die Entstehung dieser Weltwirtschaft und der Aufstieg Europas seien die entscheidenden Entwicklungen in der Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit.
In einem neuen kleinen Bändchen aus der C.H.Beckschen Reihe "Wissen" fragt der Autor nach den Gründen für diese ökonomische Karriere Europas. Es geht dabei um den Zeitraum 1500 bis 1850. Kleinschmidt macht deutlich, dass Europa seine wachsende Vormachtstellung in der globalen Wirtschaft einer bestimmten historischen Konstellation verdankte. Er verhehlt nicht, dass der Aufstieg Europas ein Janusgesicht besessen hat: "Er war mit Innovationen und Institutionen ebenso verbunden wie mit hemmungsloser Gewalt, skrupelloser Verdrängung und kolonialer Expansion."
Kleinschmidt sieht den wirtschaftlichen Erfolg Europas als Resultat eines ganzen Geflechts günstiger Faktoren. Um deren Zusammenwirken zu verdeutlichen, behandelt er die Bevölkerungsentwicklung der Neuzeit, Warenströme und Handelswege, Ideen und Weltanschauungen, Technik und Wissenschaft und auch Politik, Recht und Institutionen. Wir lernen, dass im 16. Jahrhundert das spanische und portugiesische, später auch das britische, französische und niederländische Interesse an Luxusgütern, Gewürzen und Edelmetallen das bis dahin bestehende Gleichgewicht aus vielen einzelnen Wirtschaftszentren in der Welt auf Europa verschob.
"Der ferne Westen Eurasiens" wurde damit mehr und mehr zum Mittelpunkt einer sich entwickelnden Weltwirtschaft. Von dort aus verknüpften sich transatlantische und transpazifische Wirtschaftsbeziehungen miteinander und bildeten spezifische Muster der weltwirtschaftlichen Verflechtung. Bereits für diese Zeit könne von einer Weltwirtschaft gesprochen werden, da es sich um durch Märkte integrierte, arbeitsteilige Strukturen gehandelt habe. "Globalisierung im Sinne einer internationalen Integration von Güter-, Kapital- und Arbeitsmärkten, vorangetrieben durch neue Technologien auf dem Gebiet der Kommunikation, der Information und des Transportwesens mit dem Effekt weltweiter Konvergenzprozesse" sei das allerdings noch nicht gewesen. Kleinschmidt sieht fünf Faktoren, die diese Entwicklung vorantrieben und zu einem zunehmenden wirtschaftlichen Abstand zwischen Europa und dem Rest der Welt, vor allem dem an Einfluss verlierenden Asien, führten.
An erster Stelle nennt er die damaligen Migrationsbewegungen von Arbeitskräften, Siedlern und Kaufleuten und in diesem Zusammenhang Sklavenhandel, Kolonialismus und die Netzwerke von Kaufleuten. Sie hätten für wirtschaftliche Dynamik auf den Arbeitsmärkten gesorgt und den Wirtschafts- und Technologieaustausch forciert. Einflussreich sei auch gewesen, dass die europäischen Expansionsbestrebungen seit dem 16. Jahrhundert vom christlichen Missionsgedanken und zugleich einer "Kultur der Offenheit" begleitet wurden: "Die europäischen Mächte praktizierten mit der merkantilistischen Wirtschaftspolitik eine selektive und bisweilen aggressive Form der Öffnung und Abschließung, der die anderen Wirtschaftsmächte nur wenig entgegenzusetzen hatten." Die europäische Dominanz verstärkt habe der "Freihandelsimperialismus", in den die von Europa ausgehenden Ideen des Liberalismus und des Freihandels im 19. Jahrhundert gemündet seien.
Gleichzeitig hätten Innovationen, technisches Wissen und Techniktransfers einerseits und Aggressivität und Gewaltanwendung andererseits zu noch mehr weltwirtschaftlicher Integration geführt - mit einer spezifisch europäischen Kombination aus "Geist und Gewalt". Zu Beginn der Neuzeit seien die europäischen Mächte keineswegs führend in Naturwissenschaften und Technik gewesen. Im Zusammenhang mit nationalen Interessen sei im 16. Jahrhundert das europäische Innovationspotential zunehmend gewachsen. Diese Entwicklung habe bis zum 19. Jahrhundert einen deutlichen europäischen Vorsprung beschert und schließlich den Übergang zur "Industriellen Revolution" ermöglicht. Auch die staatlich abgesicherten, privatwirtschaftlich agierenden europäischen Handelskompanien hätten den Prozess weltwirtschaftlicher Integration wirksam befördert. Dementsprechend habe sich Europa Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Höhepunkt seiner ökonomischen und politischen Macht befunden.
Wirtschaftsgeschichte gilt als kleines Fach und zugleich als Brücke zwischen Geschichte, Ökonomie und Soziologie. Intertemporäre und internationale Vergleiche sind wichtig zum Erkenntnisgewinn. Kleinschmidts schmales Bändchen ist eine hilfreiche, wenn auch nicht unbedingt süffige Lektüre. Man muss dem Verfasser zugestehen, dass es nicht gerade leicht ist, einen komplexen Sachverhalt wie die Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit auf 128 Seiten abzuhandeln.
Zweifellos verhilft die historische Perspektive zum besseren Verständnis auch der zeitgenössischen Situation. Kleinschmidts Betrachtung endet deshalb nicht mit dem Jahr 1850. Der Autor verweist am Schluss auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, als der Verflechtungsgrad der Wirtschaft wieder die Intensität von vor 1914 erreichte und zur Jahrtausendwende in eine neuerliche Globalisierung mündete. Das alles, um zu resümieren, dass sich für Europa das Blatt zu wenden scheint und "wir uns im 21. Jahrhundert wieder in Richtung einer polyzentrischen Weltwirtschaft bewegen, in der sich Indien und China anschicken, die Bedeutung als größte Volkswirtschaften wiederzuerlangen".
ULLA FÖLSING
Christian Kleinschmidt: Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit. Die Weltwirtschaft 1500-1850. C.H. Beck Wissen, München 2017, 128 Seiten, 8,95 Euro
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