Wirtschaftskriminologie I: Dieses Werk behandelt die Kriminalität der Wirtschaftsgesellschaft und beschränkt sich nicht auf die typischen Wirtschaftsstraftaten, sondern nimmt auch die verbreiteten Kriminalitätsformen der bürgerlichen Mitte in den Blick, Bagatelldelikte wie Ladendiebstahl und "Schwarzfahren", aber auch gravierendere Delikte wie Versicherungsbetrug, Kreditbetrug, Urheberrechtsverletzungen, Korruption oder Steuerhinterziehung. Es handelt sich vielfach um Formen einer Jedermannskriminalität, die mit der Berufs- und Unternehmenskriminalität zahlreiche Gemeinsamkeiten aufweist.Aber woher kommt diese Gier der Wohlstandkriminalität? Ist die moderne Marktwirtschaft nur Treiber oder trägt sie auch zur Prävention bei? Welche Risiken haben Entwicklungsländer und wie sieht die Zukunft in einer modernen Wirtschaftsgesellschaft aus? Warum ist der Betrug der Gewinner dieser Entwicklung? Was sind die Stellschrauben für eine effektive Prävention?Diese und andere Fragen werden behandelt, mit teilweise überraschenden Antworten.- Häufigkeit, Verbreitung und Dunkelfeld der Straftaten- Kriminalität als Defekt und als Jedermannskriminalität- Folgen von Armut und Wohlstand in einer Wirtschaftsgesellschaft- Direkte, indirekte Schäden, volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Auswirkungen der Straftaten- Sozialisation und Kultur als Ursachen- Prävention in der MarktwirtschaftDer Autor: Prof. Dr. jur. Kai-D. Bussmann ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht und Kriminologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und hat seinen Schwerpunkt in der empirischen Forschung zur Wirtschaftskriminalität.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.01.2017Einsicht und Kalkül
Straftaten in der Marktwirtschaft
Die Kriminologie ist die Lehre vom Verbrechen. Eine Kriminologie der Wirtschaft ist damit die Lehre von Verbrechen, die im Funktionssystem Wirtschaft geschehen. Die Täter können Manager, Mitarbeiter oder Kunden sein. Die Taten sind beispielsweise Diebstahl, Betrug, Verletzung geistigen Eigentums oder Steuerhinterziehung. Weshalb Menschen diese Taten begehen, ist die Gretchenfrage der kriminologischen Forschung: Wüsste man eine Antwort darauf, wären präventive Maßnahmen gegen Kriminalität besser möglich.
Seit Jahrhunderten überlegen Kriminologen, wodurch abweichendes Verhalten ausgelöst wird. Ihre Erkenntnisse sind weitaus differenzierter als die Erklärungsversuche von Laien oder Boulevardmedien. Kai-D. Bussmann hat nun das erste deutschsprachige Lehrbuch zur neuen Forschungsrichtung der Wirtschaftskriminologie geschrieben. Neben theoretischen Erläuterungen präsentiert er praxisnahe Beispiele.
Bussmann rät etwa von Schildern in Geschäften ab, die Dieben mit einer Strafanzeige drohen: "Diese Schilder lassen viele an der Ehrlichkeit anderer Kunden zweifeln und legen Ladendieben den Schluss nahe, dass sie offenbar nicht allein mit ihren Absichten sind. Im sozialen Kontext des Ladenraumes lernen die Diebe somit, sie dürfen es zumindest heimlich tun. Aus diesem Grund bestehen gegenüber dem abschreckenden Wert einer plakatierten Androhung von Strafanzeigen sogar erhebliche Zweifel." So betrachtet empfehle es sich, für die Einhaltung des Diebstahlverbots aus Einsicht zu werben. "Durch derartige Aufklärungen wird zwar ebenfalls die Verbreitung von Ladendiebstählen kommuniziert, aber gegenüber der bloßen Drohung mit Strafanzeigen gelangt die Kommunikation auf eine argumentative Ebene, die auf Vernunft setzt und nicht auf Kalkül."
Ob man den typischen Ladendieb mit "vernünftigen" Argumenten erreichen kann? Viele Polizisten würden da bei einigen Tätergruppen wie Drogenabhängigen oder ausländischen Bandenmitgliedern begründete Zweifel äußern. Bussmann dagegen rät bei Ersttätern von einer Strafanzeige ab und meint, zivilrechtliche Sanktionen reichten aus.
Er weist darauf hin, dass alle Wirtschaftsdelikte aus volkswirtschaftlicher Sicht nicht zum Verschwinden von Vermögen führen, sondern nur zu einer Verschiebung - zumindest soweit sie innerhalb einer Nationalökonomie verbleiben. "Die Beute fließt wieder in den Wirtschaftskreislauf", meint der Autor und will in manchen Delikten sogar nichtintendierte Transferleistungen an einkommensschwache Konsumenten erkennen, die zur Teilhabe an der Konsumwelt beitragen und somit zu sozialen Integration.
Allerdings gibt Bussmann zu, dass man bei allen Wirtschaftsdelikten einen Verlust an Vertrauen in andere Bürger, Geschäftspartner und Kunden erblicken kann. "Hieraus erwächst ein volkswirtschaftlicher Schaden, der sich auf den Wohlstand und auch auf soziale Entwicklungen eines Landes erheblich negativ auswirkt." Wie groß diese Auswirkungen sind, bleibt im Vagen. Letztendlich bleibt offen, welche volkswirtschaftlichen Schäden die Wirtschaftskriminalität unterm Strich zeitigt.
Bei Raubkopien von Musikstücken oder Filmen meint Bussmann, dass nur etwa 10 bis 20 Prozent der illegal erworbenen Werke auch legal erworben würden. "Folglich bemisst sich ein wirtschaftlicher Verlust erst aus der durchaus unterschiedlichen Zahlungsbereitschaft der Nutzer." Überdies könne sich im vermeintlichen Schaden ein Werbegewinn für das betroffene Unternehmen verbergen. Dieser Effekt komme vor allem bei gefälschten Luxusgütern zum Tragen: "Hier sind den betroffenen Originalherstellern womöglich keine Käufer verloren gegangen, sondern Werbeträger für ihre begehrten Produkte entstanden."
Allerdings kann Bussmann keine Marktanalysen präsentieren, die solche positiven Werbeeffekte durch kopierte Produkte beziffern. Dies sei vom jeweiligen Produkt abhängig und außerordentlich komplex. Daher muss der Autor gleichzeitig zugeben, dass das Image der Exklusivität durch Fälschungen verlorengehen kann. Volkswirtschaftlich könnten Plagiate dagegen nutzen: Das Kopieren von Filmen erhöhe den Spaßfaktor einer modernen Gesellschaft, die sonst sehr viel mehr Ausgrenzungen kennen würde.
"Auch kostenloses, wenn auch illegales Kopieren macht allen Nutzern Freude", meint Bussmann. Der Filmindustrie wohl weniger, aber dazu liest man nichts im Buch. Stattdessen heißt es, dass illegales Marktverhalten auch Konsumverhalten sei: "Auch so erfolgt eine subkutane Integration in die Ziele und Werte einer Konsumgesellschaft und somit eine gesellschaftliche Integration."
Bussmanns Buch vermag auch wegen solcher Thesen nicht zu überzeugen. Zudem werden zu wenige Behauptungen mit empirischen Studien unterfüttert, vieles klingt nach Bauchgefühl. Freilich mag das Bauchgefühl eines langjährigen Wissenschaftlers weniger täuschen als das eines Laien. Doch geraten einige Äußerungen zu apodiktisch: "Man muss sich vergegenwärtigen, dass ein Überangebot an Waren zum Besitzenwollen, bei gleichzeitig erhöhten Möglichkeiten der Tatbegehung, den Bürger zu illegalem Konsumverhalten verführt. Es stellt sich leicht ein permanentes Gefühl des allgemeinen Überflusses ein, während man bei sich selbst ein durch die Werbung gefördertes (relatives) Mangelerlebnis verspürt."
Werbung als Auslöser von Kriminalität? Ganz genau vermag sich der Autor nicht festzulegen, auch Arbeitslosigkeit und soziale Normierung spielen eine Rolle. Man kann es nicht so richtig sagen. Klar ist aber: Frauen und Alte begehen weniger Straftaten als junge Männer. Erläuterungen zur Kriminalität von Ausländern und Flüchtlingen sucht man dagegen im Buch vergebens - schade, denn hier könnten Kriminologen manchen Mythen von Gutmenschen einerseits und Rechtspopulisten andererseits entgegentreten.
JOCHEN ZENTHÖFER
Kai-D. Bussmann: Wirtschaftskriminologie. Verlag Vahlen, München 2016. 391 Seiten. 39,80 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Straftaten in der Marktwirtschaft
Die Kriminologie ist die Lehre vom Verbrechen. Eine Kriminologie der Wirtschaft ist damit die Lehre von Verbrechen, die im Funktionssystem Wirtschaft geschehen. Die Täter können Manager, Mitarbeiter oder Kunden sein. Die Taten sind beispielsweise Diebstahl, Betrug, Verletzung geistigen Eigentums oder Steuerhinterziehung. Weshalb Menschen diese Taten begehen, ist die Gretchenfrage der kriminologischen Forschung: Wüsste man eine Antwort darauf, wären präventive Maßnahmen gegen Kriminalität besser möglich.
Seit Jahrhunderten überlegen Kriminologen, wodurch abweichendes Verhalten ausgelöst wird. Ihre Erkenntnisse sind weitaus differenzierter als die Erklärungsversuche von Laien oder Boulevardmedien. Kai-D. Bussmann hat nun das erste deutschsprachige Lehrbuch zur neuen Forschungsrichtung der Wirtschaftskriminologie geschrieben. Neben theoretischen Erläuterungen präsentiert er praxisnahe Beispiele.
Bussmann rät etwa von Schildern in Geschäften ab, die Dieben mit einer Strafanzeige drohen: "Diese Schilder lassen viele an der Ehrlichkeit anderer Kunden zweifeln und legen Ladendieben den Schluss nahe, dass sie offenbar nicht allein mit ihren Absichten sind. Im sozialen Kontext des Ladenraumes lernen die Diebe somit, sie dürfen es zumindest heimlich tun. Aus diesem Grund bestehen gegenüber dem abschreckenden Wert einer plakatierten Androhung von Strafanzeigen sogar erhebliche Zweifel." So betrachtet empfehle es sich, für die Einhaltung des Diebstahlverbots aus Einsicht zu werben. "Durch derartige Aufklärungen wird zwar ebenfalls die Verbreitung von Ladendiebstählen kommuniziert, aber gegenüber der bloßen Drohung mit Strafanzeigen gelangt die Kommunikation auf eine argumentative Ebene, die auf Vernunft setzt und nicht auf Kalkül."
Ob man den typischen Ladendieb mit "vernünftigen" Argumenten erreichen kann? Viele Polizisten würden da bei einigen Tätergruppen wie Drogenabhängigen oder ausländischen Bandenmitgliedern begründete Zweifel äußern. Bussmann dagegen rät bei Ersttätern von einer Strafanzeige ab und meint, zivilrechtliche Sanktionen reichten aus.
Er weist darauf hin, dass alle Wirtschaftsdelikte aus volkswirtschaftlicher Sicht nicht zum Verschwinden von Vermögen führen, sondern nur zu einer Verschiebung - zumindest soweit sie innerhalb einer Nationalökonomie verbleiben. "Die Beute fließt wieder in den Wirtschaftskreislauf", meint der Autor und will in manchen Delikten sogar nichtintendierte Transferleistungen an einkommensschwache Konsumenten erkennen, die zur Teilhabe an der Konsumwelt beitragen und somit zu sozialen Integration.
Allerdings gibt Bussmann zu, dass man bei allen Wirtschaftsdelikten einen Verlust an Vertrauen in andere Bürger, Geschäftspartner und Kunden erblicken kann. "Hieraus erwächst ein volkswirtschaftlicher Schaden, der sich auf den Wohlstand und auch auf soziale Entwicklungen eines Landes erheblich negativ auswirkt." Wie groß diese Auswirkungen sind, bleibt im Vagen. Letztendlich bleibt offen, welche volkswirtschaftlichen Schäden die Wirtschaftskriminalität unterm Strich zeitigt.
Bei Raubkopien von Musikstücken oder Filmen meint Bussmann, dass nur etwa 10 bis 20 Prozent der illegal erworbenen Werke auch legal erworben würden. "Folglich bemisst sich ein wirtschaftlicher Verlust erst aus der durchaus unterschiedlichen Zahlungsbereitschaft der Nutzer." Überdies könne sich im vermeintlichen Schaden ein Werbegewinn für das betroffene Unternehmen verbergen. Dieser Effekt komme vor allem bei gefälschten Luxusgütern zum Tragen: "Hier sind den betroffenen Originalherstellern womöglich keine Käufer verloren gegangen, sondern Werbeträger für ihre begehrten Produkte entstanden."
Allerdings kann Bussmann keine Marktanalysen präsentieren, die solche positiven Werbeeffekte durch kopierte Produkte beziffern. Dies sei vom jeweiligen Produkt abhängig und außerordentlich komplex. Daher muss der Autor gleichzeitig zugeben, dass das Image der Exklusivität durch Fälschungen verlorengehen kann. Volkswirtschaftlich könnten Plagiate dagegen nutzen: Das Kopieren von Filmen erhöhe den Spaßfaktor einer modernen Gesellschaft, die sonst sehr viel mehr Ausgrenzungen kennen würde.
"Auch kostenloses, wenn auch illegales Kopieren macht allen Nutzern Freude", meint Bussmann. Der Filmindustrie wohl weniger, aber dazu liest man nichts im Buch. Stattdessen heißt es, dass illegales Marktverhalten auch Konsumverhalten sei: "Auch so erfolgt eine subkutane Integration in die Ziele und Werte einer Konsumgesellschaft und somit eine gesellschaftliche Integration."
Bussmanns Buch vermag auch wegen solcher Thesen nicht zu überzeugen. Zudem werden zu wenige Behauptungen mit empirischen Studien unterfüttert, vieles klingt nach Bauchgefühl. Freilich mag das Bauchgefühl eines langjährigen Wissenschaftlers weniger täuschen als das eines Laien. Doch geraten einige Äußerungen zu apodiktisch: "Man muss sich vergegenwärtigen, dass ein Überangebot an Waren zum Besitzenwollen, bei gleichzeitig erhöhten Möglichkeiten der Tatbegehung, den Bürger zu illegalem Konsumverhalten verführt. Es stellt sich leicht ein permanentes Gefühl des allgemeinen Überflusses ein, während man bei sich selbst ein durch die Werbung gefördertes (relatives) Mangelerlebnis verspürt."
Werbung als Auslöser von Kriminalität? Ganz genau vermag sich der Autor nicht festzulegen, auch Arbeitslosigkeit und soziale Normierung spielen eine Rolle. Man kann es nicht so richtig sagen. Klar ist aber: Frauen und Alte begehen weniger Straftaten als junge Männer. Erläuterungen zur Kriminalität von Ausländern und Flüchtlingen sucht man dagegen im Buch vergebens - schade, denn hier könnten Kriminologen manchen Mythen von Gutmenschen einerseits und Rechtspopulisten andererseits entgegentreten.
JOCHEN ZENTHÖFER
Kai-D. Bussmann: Wirtschaftskriminologie. Verlag Vahlen, München 2016. 391 Seiten. 39,80 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main